Linus Volkmanns Streifzug durch Club-Klos: „Preiset das Schaf!“
Kommt mit auf Club-WCs! Keine Sorge, es geht nicht um Drogen, sondern um prachtvolle Stickerkultur.
Digital versus analog – das ist ein zentraler Antagonismus, der mich immer wieder aufs Neue beschäftigt. Auch hier in dieser Powerkolumne von Mutti Musikexpress, in der ich mit meinen Insektenaugen auf Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit der Popwelt schaue.
Dabei lässt sich konstatieren, dass es bereits in hemdsärmelig analogen Zeiten schon Fake-News gab, allerdings deutlich weniger – überhaupt schien man Medien- und Kulturlandschaften vor der Jahrtausendwende noch einigermaßen überblicken zu können. Heute dagegen ist alles fragmentiert wie ein Scherbenhaufen und der digitale Info-Krieg längst verloren. Man kann nur ahnen, was das alles noch für Folgen haben wird in den nächsten Jahren. Doch was sollte der Rückschluss sein? Ernsthaft die tumben Dekaden vor 2000 abkulten als „gute alte Zeit“? Auch keine Alternative – und sachlich noch dazu falsch.
In dieser Kolumne beschäftige ich mich daher heute lieber mal mit einer Schnittstelle zwischen den Welten. Analoge Kulturpraxis trifft auf digitale Zeiten. Und um genau diese Begegnungsstätten zu finden, muss man bloß dahin, wo es einen ohnehin irgendwann wie von selbst hinzieht. Genau: aufs Klo.
Nicht aufs eigene allerdings, sondern auf solche in Clubs und Konzertläden. Ich selbst habe einige unlängst aufgesucht und das kam so: Im letzten Monat bin ich mit dem Programm „Na, Bravo! Linus Volkmann liest aus Jugendmagazinen der letzten 30 Jahre“ von Nord nach Süd, von Ost nach West durch den deutschen Planeten gereist. Verflucht von der Bahn AG, gemästet von belegten Hauptbahnhof-Brötchen (4,20 Euro oder mehr), trunken von Licht, Applaus, Whiskey-Cola.
Draußen auf Kaution
Neben dem hellen wie auszehrenden Gefühl, auf solchen Touren die eigene Kerze an zwei Enden brennen zu sehen (mindestens), liebe ich die Begegnung mit den Clubs. Als Popjourno mag man heute völlig autark vom Rechner aus Expertisen verströmen können, aber am Ende des Tages findet Musikkultur eben nicht auf Streamingdiensten und Social-Media-Kanälen statt.
In jeder Stadt gibt es Orte, wo die kleinen und die größeren Bands hinfinden. Die ganz großen Acts parken vor Hallen oder Arenen, es sei ihnen gegönnt, doch darum geht es heute hier nicht. Es geht um Läden, die von Herzblut, Ehrenamt bis hin zur Selbstausbeutung am Leben gehalten werden. Und wie! Für mich immer wieder euphorisierend zu sehen, dass es das alles noch gibt.
Flashback: Als Teenie zum ersten Mal ins Ku-Ba gestolpert in Hanau, das war die nächstgrößere Kleinstadt zu dem Dorf, in dem ich aufwuchs. Wie aufregend das war, die ersten Nächte sicher auch gruselig – aber immer magisch.
Und später dann in die Batschkapp im damals riesig empfundenen Frankfurt. Diese Kraft solcher Räume … Ich habe das aufgesogen und das gelingt mir bis heute immer noch. Wenn ich einen Konzertladen betrete vor Öffnung und den kalten Rauch, kalten Schweiß rieche, dann setzt der Körper diese guten Botenstoffe frei. Die, die man immer haben will und denen man ein Leben lang hinterherhecheln muss.
Natürlich hege ich auch Verlustangst. Verlustangst, dass all diese engagierten (sub)kulturellen Orte von monströsen Immobilienfirmen, zugezogenen Anwohner:innen, weggesparten Fördergeldern oder allgemein vom Kapitalismus irgendwann vertrieben werden. Die Sorge ist nicht unberechtigt. Die aktuelle Diskussion um den Verbleib der Hamburger Szene-Institution Molotow sei da nur ein aktueller Fall von so vielen genannt.
Doch im Hier und Jetzt gibt es sie noch. Besucht sie mal wieder, falls ihr sie zuletzt nicht mehr so häufig frequentiert habt – ihr kriegt viel zurück.
Ich klebe, also bin ich
Ich liebe jedenfalls auch, wie alternative Konzertläden mit einem kommunizieren. Nicht nur bei Gigs von der Bühne aus oder an der Bar gibt’s Ansprache, ich meine vielmehr konkret die Stickerkultur. Ein Klo voller Aufkleber, ein Spiegel blind von hundert anderen Informationen, die er statt der eigenen Fresse wiedergibt.
In analogen Zeiten hatten Aufkleber, beziehungsweise Sticker, oft noch eine konkrete Funktion: Sie erzählten dir von einer Band, die du vielleicht noch nicht kanntest, sie gaben dir Information über Veranstaltungen weiter oder sie wollten dich einfach nur entertainen bis verwirren. Das Schöne: Aus irgendeinem Grund hat die Kulturpraxis des Stickerns überlebt und füllt auch in der digitalen Welt noch exakt das eben genannte Portfolio aus.
Hier für euch daher nun ein paar schöne Aufkleber, die ich im März 2024 entdeckt habe. Huldigt den kleinen Konzertläden, lasst euch beim Händewaschen und auf dem Klo irgendeinen Quatsch vermitteln, der zur Abwechslung mal nicht aus dem Handy kommt.
Flüster‘ in mein Auge, Sticker!
Ich möchte aber mir und euch nichts vormachen: Aufkleber wollen einem nicht ausschließlich schöne Dinge einsagen. Im Gegenteil, es gibt natürlich auch beschissene Sticker, die von rechter Gesinnung und ähnlichem Nassmüll künden. An den guten utopischen Orten muss man solche aber mit der Lupe suchen und wenn man sie dann findet, hat sie meist schon jemand anderes ab- oder weggenibbelt, oder wie heißt das Verb zu dieser Handlung, mit der man sich immer die Fingernägel ruiniert?
Anyway, ich habe aber tatsächlich regionale Unterschiede wahrgenommen. Im Ruhrgebiet war das vorrangige Sticker-Thema: Antifa oder eben Anti-AfD. Im Süden, beziehungsweise in meinem Fall konkret in Bayern, verwiesen die Aufkleber dagegen überproportional auf das Thema „Cannabis“. Kein Wunder. Die örtlichen Veranstalter:innen wussten fast alle von Polizeikontrollen hinsichtlich Hasch zu berichten, in die sie aktuell mal wieder geraten waren. Ob sich die diese Woche in Kraft getretene Teil-Legalisierung bald auch auf die Stickerwelten in Bayern niederschlägt? Bleibt abzuwarten. Hängt sicher davon ab, ob die bayrische Polizei ab jetzt weniger offensiv gerade rund um subkulturelle Veranstaltungsorte auftritt. Schwer vorstellbar – aber schön wäre es.
An den Orten, die ich im Osten besuchte, war die vorherrschende Aufkleber-Information dann tatsächlich „Queer“. Was ein rundes Fazit meiner Klo- und Backstage-Fotos! Das liest sich nämlich so: Gegen rechts, vergiss tradierte Geschlechterrollen und lass lieber mal einen kiffen. Na, wenn das nicht viel schöner als das ist, was mir mein Smartphone täglich erzählt, weiß ich’s aber auch nicht.
Konzertlädentoiletten, danke für eure Weisheit, eure Empathie und euren Quatsch!
Wir sehen uns wieder.
PS:
In der Stadt Augsburg erspähte ich zwischen all den Taggs und Aufklebern noch ein richtiges „Easteregg“. In Form eines Grußes von niemand geringerem als der Wiener Autorin (und Zeichnerin) Stefanie Sargnagel. Banksy ist ein Dreck dagegen! Streng genommen hätte ich es mit Hammer und Meißel rausbrechen sollen – für schlechte Zeiten.
PPS:
Im Osten wurde ich Zeuge von einem weiteren Ort, der zweckentfremdet wurde, um uns Menschen optische Botschaften zu senden: Bemalte Stromkästen! Mmmhh, bemalte Stromkästen … Ist das das Arschgeweih der Innenstädte oder doch das nächste big thing? Bin noch unschlüssig, aber bereits interessiert!
Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.