Die Pop-Laboranten
Der liebe Gott meint es gut mit ihnen: Kaum dass sich die kleine Gruppe fröstelnd am Teichufer versammelt hat, schickt der Allmächtige ein paar wärmende Sonnenstrahlen durchs Gewölk und taucht die sechs Gestalten in gleißendes Herbstlicht. Die vier lungen und zwei Mädchen werfen ihre Schwimmwesten im hohen Bogen davon und stapfen über den laubbedeckten Rasen zurück zum Schloss; das Kamerateam hinterher. Spontan und natürlich wirkt die Szene. Aber sie muss wiederholt werden. Der Aufnahmeleiter ist nicht ganz zufrieden. Also Westen wieder an, alle zurück auf ihre Position und das Canze noch einmal. Schließlich wird hier Fernsehen gemacht, perfekt und professionell.
Soeben haben die sechs Musiker von „Deine Band“ ein gruppendynamisches Spiel absolviert: le drei Missionare und Kannibalen mussten über den Teich geschippert werden, ohne dass dabei die Missionare an einem der Ufer oder im Boot in llnterzahl gerieten. Die Denksportaufgabe ist nicht Teil eines launigen Pfadfinderspiels, sondern soll den Beteiligten helfen, möglichst schnell eine Gruppenidentität zu entwickeln. Denn die werden sie in den kommenden Wochen brauchen. Schließlich handelt es sich bei den Mitgliedern von „Deine Band“ um einen willkürlich zusammengewürfelten Musikerhaufen. Eine nicht eben für ihren Herdentrieb bekannte Spezies, eher berüchtigt für ausgeprägten Individualismus.
Seit einer Woche wohnen die Sieben nun zusammen. Sänger Dirk Wolff (26) stammt aus Hamburg, Gitarrist Hilton Theissen (26) aus Düsseldorf, Bassist Stephan Schwenk (26) aus Heuchlingen bei Stuttgart, Keyboarder Ingo Wolfgarten (26) aus Köln, die Backgroundsängerinnen Benin (23) aus München und Josefine (18) aus Berlin. Sie alle sollen Popstars werden – schöne Aussichten. Auch für den Berliner Drummer Nicolai Ziel (24), gerade von einem lästigen Infekt geplagt. Der verschnupfte Rhythmiker stösst erst wieder zur Gruppe, als es im Probenraum an die eigentliche Arbeit geht: bin I lil muss her. Die Voraussetzungen dafür sind ideal, fast wie bei der akribischen Versuchsanordnung eines chemischen Experimentes – zumindest scheint das so.
Im September veranstaltete der Kölner Fernsehsender RTL bundesweit Castings, je drei Kandidaten für die Positionen in einer Rockband wurden gesucht. Von rund 500 Bewerbern blieben 18 übrig. Allesamt echte Musiker, vor lixperten haben sie ihre Qualitäten am Instrument unter Beweis gestellt – ein hübsches Gesicht reichte da nicht. „Wir mussten sicherstellen, dass die Kandidaten ein gewisses Niveau mitbringen“, so Fred Kasimir, der das Projekt als A & R-Manager berät. Im Unterschied zu gecasteten Boygroups, die zum Playback mimen, soll „Deine Band“ in der Tat eine solche sein: Songs selbst schreiben und diese auch selbst spielen. So konnten die Zuschauer aus den 18 Kandidaten nach der Auftakisendungein endgültiges Line-up wählen, das zumindest handwerklich allen Anforderungen genügt.
Reportage
Als „erste interaktive Doku-Soap“ (so RTL) und Großversuch in Sachen Pop flimmert „Deine Band“ seit nunmehr sechs Samstagen über die Mattscheiben, flankiert durch die obligatorische Website mit Chat-Room, Tagebuch, Webcam-Bildern und Diskussionsforum. Die RTL-Behauptung, hinter „Deine Band“ stehe nicht die Plattenindustrie, sondern allein der Zuschauer fälle die relevanten Entscheidungen, erweist sich bei näher Betrachtung indes als grob irreführend. Denn die Alternativen, über die der Zuschauer befinden darf, sind sorgfältig vorausgewählt, seien es die Musiker selbst, die verschiedenen Songvorschläge, Video-Storyboards, das CD-Cover oder gar der Bandname; all dies wird im Verlauf der TV-Serie zur Disposition gestellt. Der Bandname steht inzwischen fest: Public Animals.
Wie wird man also Popstar? RTL stellt sich das Pro/.edere folgendermaßen vor: Die Band zieht gemeinsam in ein hermetisch abgeriegeltes Schloss. Dort nimmt sie, unterstützt von einem prominenten Produzententeam, die große Aufgabe in Angriff. Eine Plattenfirma hat sich ebenfalls eingeklinkt, will am 20. November eine möglichst aussichtsreiche Single veröffentlichen, so zumindest der Plan von RCA-Mann Axel Alexander. Ein Album soll dann folgen. Ausgestattet ist das Schloss mit jeder Menge TV-Technik, aus den Fenstern quillen dicke Kabelbäume, draußen parken riesige Ü-Wagen. In einem 50 Quadratmeter großen Saal im Erdgeschoss wurde ein perfekt bestückter Übungsraum eingerichtet. Zusätzlich ist hochwertiges Aufnahme-Equipment installiert, um die Eingebungen des Septetts festzuhalten. Technisches Personal steht ebenfalls bereit. Unter diesen Umständen, so glaubt man bei RTL, sollte es der Band ein Leichtes sein, einen chanstauglichen Song, ein adäquates Video, eine ansprechende Live-Performance sowie nicht zuletzt ein überzeugendes Band-Image zu erarbeiten. RTL hat „Deine Band“ für zehn wöchentliche Folgen konzipiert; bis zum 9. Dezember hat sich das Schicksal der sieben Schlossbewohner also erfüllt – so oder so.
Zwar ist sämtliche nur denkbare Infrastruktur, die sich andere Bands erst mühevoll schaffen müssen, bereits vorhanden. Es ist gleichsam wie im Fussball: Die Public Animals haben einen Elfmeter, und der muss jetzt auch rein. Soweit die Theorie, die Praxis jedoch hält diverse Pferdefüße bereit. Etwa die TV-gerechte Umsetzung des Experiments. In der ersten Folge stellte eine sichtlich überforderte Miriam Pielhau (25), über weite Strecken sinnfrei plappernd, die Kandidaten vor. Als Zuschauer wähnte man sich bei der Wahl zum „Bravo“-Boy – von Musik war während der 75 Minuten kaum die Rede. Das Soap-Konzept rückt das Projekt überdies in die Nähe des Marienhofes, wo bekanntlich auch „viel passieren wird“. Kein Wunder, bei der Produktionsfirma handelt es sich schließlich um Grundy Ufa, die schon für „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ sowie „Unter Uns“ verantwortlich zeichnet. Obendrein appelliert der dümmliche Aufruf „Sei aktiv – sei kreativ – sei ein Star!“ eher an pubertierende Pickelträger mit Identitätsproblem als an ambitionierte Nachwuchsmusiker mit Karriereziel. Der Umstand, dass die Protagonisten in ihrer Luxusvilla unter ständiger Kamerabeobachtung stehen, schafft zudem eine unangenehme Nähe zum umstrittenen „Big Brother“-Spektakel und erinnert unvorteilhaft an den dadurch verursachten musikalischen Flurschaden (Zlatko, Alex und Schlimmeres). Dabei gibt es substanzielle Unterschiede zu „BB“. So verfügt jeder Musiker im Schloss über ein eigenes Zimmer, das grundsätzlich für die Kamera tabu bleibt. Außerdem beschränkt sich die Beobachtung in den Cemeinschaftsräumen (Wohnzimmer, Küche, Übungsraum) auf die Tagesstunden.
Was die musikalische Dimension der Sache angeht, scheuen die Macher das Risiko wie der Leibhaftige das Weihwasser. Die junge Band, eingebunden in ein strikt erfolgsorientiertes Show- und Marketing-Konzept, wird also kaum die Möglichkeit haben, vom breiten Pfad des musikalischen Mainstreams abzuweichen. Zumal den hoffnungsvollen lungstars mit Sash ein Produzententeam an die Seite gestellt wurde, das seine Meriten bis dato eher in den seichten Untiefen des Techno-Pop verdient hat. So richtig wohl scheint denen bei der Sache denn auch nicht gewesen zu sein: „Es war ein verdammt hohes Risiko, die Produktion einer Band zu übernehmen, die es noch gar nicht gibt. Ich hatte echt ein paar schlaflose Nächte deshalb“, gesteht Sash-Mann Thomas Lüdke. Warum die Verantwortlichen keine der im Rockbereich renommierten Koryphäen verpflichtet haben, ist schnell erklärt: Leute wie Echt-Produzent Franz Plasa, Fury-Intimus Paul Grau oder Guano Apes-Betreuer Wolfgang Stach waren offenbar nicht verfügbar. Axel Alexander: „Wir mussten in kürzester Zeit einen prominenten Produzenten finden, der Zeit hatte, das Projekt zu übernehmen.“ Nun also Sash, die mit „Deine Band“ neues Terrain erobern wollen.
Was auch immer dabei herauskommt, soviel ist schon jetzt klar: Die Public Animals werden auf dem kleinsten gemeinsamen musikalischen Nenner des jungen Zielpublikums agieren, dafür Sorge zu tragen ist die vornehmste Aufgabe der Produzenten-Aufpasser; machen wir uns also auf eine allseits bekömmliche Mischung aus Bryan Adams, Robbie Williams und Reamonn gefasst. Festgelegt war übrigens von vornherein, dass „Deine Band“ keine Leadsängerin haben würde. Konkurrenz mit dem überlaufenen No Doubt/Skunk Anansie-Segment muss schließlich nicht sein. Die RTL-Strategie in Sachen „Deine Band“ ist klar, die Formel lautet: ein bisschen Zlatko, ein bisschen Soap plus ein wenig Boygroup – fertig sind Quotenund Chartshit. Die beteiligten Musiker indes wissen nicht recht, ob sie das große Los gezogen haben oder als Versuchskaninchen für hippe Popalchemisten herhalten. Gitarrist Uilton, ein hochgewachsener Schlacks mit schulterlangem Blondhaar, zuckt die Schultern: „Ein bisschen ist es hier wie im goldenen Käfig, aber mit den anderen in der Band, das kommt ganz geschmeidig. Wir hatten schon nach fünf Minuten eine prima lam-Session-Atmosphäre.“ Uobbykoch Hilton ist Musiker durch und durch, hat schon in den frühen 90ern mit der Dealh Metal-Band Dark Millennium zwei CDs veröffentlicht, sich später mit Industrial beschäftigt und geht mit „Deine Band“ entspannt ans Werk. Sänger Dirk, gesegnet mit memorablem Organ und überdurchschnittlichen vokalen Fähigkeiten, hat bislang allenfalls semiprofessionell gearbeitet. Als gelernter Kaufmann verdiente er seine Brötchen in einem Hamburger Musikladen, hat aber längst ausreichend Bühnenerfahrung gesammelt. Der bodenständige Strubbelkopf sieht „Deine Band“ als Sprungbrett: „Mann, das ist die größte Chance, die ich bisher in meinem Leben bekommen habe und wohl auch in Zukunft bekommen werde.“ Natürlich wird er, wie seine Kollegen, alles daransetzen, sie zu nutzen. Dass sie handwerklich das Zeug dazu haben, daran zweifelt keiner, der ihre mal eben a cappella mit Bass zum Besten gegebene Version des Commodores-Klassikers „Easy“ gehört hat. Überhaupt, die „öffentlichen Tiere“ bewegen sich erstaunlich professionell in ihrer Rolle, geben dem Fernsehaffen bereitwillig Zucker und bereiten sich gewissenhaft auf ihr Dasein als Stars vor. Schließlich ist Rock’n’Roll heutzutage längst nicht mehr rebellischer Lebensentwurf, sondern eine Karriereoption wie jede andere, etwa Banker, Soap-Star (sie!) oder Profisportler. Das Sender-Kalkül dürfte also aufgehen, Public Animals werden charten. Und doch: Inspiration, Personality und künstlerische Vision sind Faktoren, die auch der gewiefteste Marketingstratege kaum zu kalkulieren vermag. Hit oder Niete – das ist längst nicht die Frage. Spannend an „Deine Band“ ist eher die Frage, ob sich die im Poplabor geklonten Public Animals aus den Klauen des Dr. tv. Frankenstein befreien, zur eigenen Identität finden und eines Tages ohne Fernsehkrücken laufen können. Sehr wahrscheinlich scheint das nicht. Kleiner Tipp: Direkt gegenüber der Einfahrt zum Schloß steht eine kleine Kirche. Vielleicht hilft ja beten, der da oben meint es schließlich gut mit Dirk, Hilton und seinen Freunden.