Der Tanz Terminator


enn sich am 8. Juli in Berlin wieder Hunderttausende zur größten Open-Air-Party Europas treffen, ist dies einem gewissen DR. MOTTE zu verdanken - denn er ist der Mann, der die Loveparade erfand.

Tief und gemein pumpen die Bässe, drängen I eine rudimentäre Melodie ganz an den Rand, fahren durch alle Eingeweide und füllen den Altbau, als wäre er die Herzkammer eines nervösen Blauwals. Der Mann im orangen T-Shirt, beigen Baggy-Hosen und Zwischenzehschlappen dreht weiter an den Reglern, nickt mit dem Kopf zum Rhythmus und deutet stumm auf den Subwoofer unter dem Schreibtisch, der sich zu biegen scheint unter der Last des Equipments, das er tragen muss. Der Blick wandert zur hohen Decke, als müsste jeden Augenblick der Stuck herabrieseln. Aber nur ein Metallschränkchen schnurrt unter dem Einfluss der tiefen Frequenzen: „Dem Schrank gefällt’s!“, brüllt der Mann und dreht noch weiter auf. Gefällt’s auch den Nachbarn? Behutsam lässt er den Track ausfaden und lächelt: „Meine Nachbarin ist schwerhörig“. Unglaublich: Der Kerl hat die Loveparade erfunden, verwandelt die Hauptstadt alljährlich in ein kakophonisches Schlachtfeld wetteifernder Beats und lässt 1,5 Millionen Raver durch den Tiergarten stampfen – aber seine Nachbarin ist schwerhörig. Wenn es das Schicksal gut meint mit einem Mensdien, dann auch im Detail. Mai in Berlin, und hinter den Doppelglasfenstern brütet schon seit vier Wochen der Sommer. Matthias Roeingh hofft nicht, dass es zur Loveparade am zweiten Juliwochenende 2000 gutes Wetter gibt, er weiss es: „Wie eingeschaltet, fertig“, freut er sich, während er frische Bohnen für den Espresso in die Mühle schüttet. Und sagt über die Schulter: „Nenn‘ mich Motte, das machen alle so.“ Sogar Mutter Beimer, die von einer am Kühlschrank haftenden Autogrammkarte grüsst: „Für Dr. Motte“. Die Musik, mit der er eben noch das halbe Gebäude zum Beben brachte, stammt von seiner nächsten CD. Irgendwann im Herbst soll sie fertig sein. „Ist dir das Sample von

Nusrat Fateh-Ali Khan aufgefallen?“ Ist es nicht, dafür aber die vielen anderen, durchaus erlesenen Ethno-Reliquien, die in der weitläufigen Wohnung verteilt sind: Ein grinsender Buddha, vielarmige indische Gottheiten – und ein knallbunt lackierter Dämon, den er gerade aus Mexiko mitgebracht hat: „Den haben Indios angefertigt. Nach Vorbildern, die ihnen im Drogenrausch erschienen sind!“ Er war beruflich dort, mit seiner Freundin Heike, und hat einen Vortrag über die Parade gehalten: „Es gab sogar einen kleinen Umzug in Mexico-City, richtig mit Lastwagen und so“, freut er sich. Überhaupt ist der 1,90 m-Schlacks sonniger Laune. Unprätentiös und allürenfrei. Nur über die Bürokraten von der Führerscheinstelle kann er sich richtig aufregen: „Ich mache gerade den Motorradführerschein, und das dauert eine Ewigkeit.“ Einen alten 125er-Vespa-Rollerwill ersieh anschaffen, damit er zu Stosszeiten schneller durch das Gewühl der Stadt kommt. Gelassener ist er im Umgang mit den städtischen Bürokratie, die der Loveparade bisher jedes )ahr aufs Neue Hürden in den Weg gestellt hat. Wer räumt den Müll weg, den das Heer der Raver hinterlässt? Wer bekommt die Konzessionen zum Getränkeverkauf? Lind wer ersetzt die Büsche am Wegesrand, die wegen mangelnder Toilettenhäuschen regelmässig zu Tode gedüngt werden? All das sind Fragen, die Jahr für lahrdie Gemüter der Stadt erhitzten. Immerhin hat der Berliner Senat, für den die Loveparade als umsatzträchtiges Großereignis inzwischen unerlässlich ist, eine verbindliche Route für die Prozession der Raver festgelegt: vom Ernst-Reuter-Platz über die Straße des 17. luni zur Siegessäule – dort ist für die Wagen Endstation – bis hin zum Brandenburger Tor. Für die Anwohner im Bezirk Tiergarten und den Innenminister bleibt das Ganze ein regelmässiges Ärgernis. Lim sehr viel Geld geht es, um politische Grabenkämpfe. Der Mann, der den fröhlichen Umzug einst erfand und heute als dessen Ikone fungiert, hat mit diesem Tagesgeschäft indes nur noch wenig zu tun: Das Spektakel wird von der Firma Planetcom veranstaltet – deren Geschäftsführer Ralf Regitz führt die Verhandlungen, und Aushängeschild Motte ist die sprichwörtlich „jute Seele det janzen“.

Matthias Roeingh ist echter Berliner heutzutage eine Seltenheit in der wuchernden Stadt. Geboren ist er 1960 in Spandau. Der Vater macht sich früh aus dem Staub: „Ich habe keine Erinnerung an den, echt nicht“, sagt Motte ohne Bedauern. LImso grösser ist noch heute seine Bewunderung für die allein erziehende Mutter, die wir sind mitten in den wild bewegten sechziger Jahren – im Spandauer Planungsamt arbeitet und sich für kommunistische Parteien engagiert: So ist Motte schon als Halbwüchsiger auf Umzügen und Demos unterwegs. Die erste Begegnung mit der Musik erlebt er schon als Vierjähriger: Wenn die Mutter klassische Schallplatten auflegt, dann dirigierte der Steppke mit dem Kochlöffel das imaginäre Orchester dazu. „Ich war nicht mehr der Matthias, ich war in der Musik, bin ganz darin aufgegangen.“

Keinen Spass hingegen macht ihm die Schule: „Ich habe nur die Mittlere Reife“, bedauert Motte, „weil ich mich einfach nicht angestrengt habe, zu selten hingegangen bin.“ Kein Wunder, wird die unbeschwerte Kindheit doch jäh von einer Katastrophe beendet. 1972 erkrankt seine Mutter. Krebs. Matthias ist gerade 12 Jahre alt. Zwar können die Ärzte die Krankheit besiegen, besiegeln aber dennoch das Schicksal der Frau: „Sie haben gepfuscht, man kann es nicht anders sagen.“ Den Krebs hat sie überwunden, bis heute aber muss sie unter den Folgen der unsachgemäßen medizinischen Behandlung leiden. Mitte der 70er Jahre überlegt Matthias, was er nach der Schule machen will. „Kunst war immer mein Lieblingsfach, in Kunst hatte ich die besten Noten.“ So bewirbt er sich an einer Schule für Grafikdesign, wird aber abgelehnt. Über Kontakte der Mutter versucht er’s beim Planungsamt, doch für dröge Bürokratie sind aufgeweckte Teenager selten zu begeistern. Vor allem, wenn sie eine verführerische Parallelwelt erahnen: die Musik. „Zuerst hörte ich alles, was damals aktuell war. Ich schnitt auf einem kleinen Cassettenrecorder alles mit, was damals im Radio kam: Led Zeppelin beispielsweise oder die Doors. Aber dann kam Jazzrock, möglichst mit Funkoder Latin-Einflüssen.“ Santana ist ihm damals schon zu platt, lieber hält er’s mit Frank Zappa. Aber Konfektionsware genügt ihm schon bald nicht mehr, seinen Vinylhunger stillt Matthias in den einschlägiger Plattenläden der Mauerstadt. „Man kann nicht sagen dass ich die Musik geliebt hätte – ich war verrück nach ihr. Die anderen hörten Bob Marley und solch* Sachen, aber mir war das viel zu lahm. Ich entdeckte den richtigen )azz und bald darauf den Freejazz.“ Der richtigen Freejazz, bei dem musikalische Strukturer sich restlos in subjektiver Improvisationsfreude auf lösen. Es war, bis dato, der musikalische Höhe- unc Endpunkt der modernen Instrumentalmusik. „Damals begann ich auch, auf Partys aufzulegen.“ Dei Anfang seiner DI-Karriere war das jedoch noch nicht „Ich hatte einfach nur die abgefahrendsten Platten zu hause.“ 1976 startet der Teenager zudem erst« Versuche hinterm Schlagzeug einer Schülerband. Ei schmunzelt bei der Erinnerung: „Ich konnte zwai überhaupt nicht spielen, aber die anderen fanden’s kJasse.“ Doch dann, Ende der siebziger Jahre, explodiert auch in Berlin, was bereits die ganze Musikwell in ihren Grundfesten erschüttert: Punk. „Für mich wai das eine Offenbarung, die Fusion von Revolution und Musik. Lind die Idee, alles Dagewesene einfach wegzuwischen, alle Traditionen einzureißen und etwa völlig Neues zu kreieren. Von einem Tag auf den anderen war ich Punk.“

Kaum vorstellbar, dass der Vater der Loveparade einst mit Irokesenschnitt und Sicherheitsnadeln im Ohi rumgelaufen sein soll. „Was meinst du, woher ich meinen Namen habe?“, fragt er, als wir die Wohnung verlassen und die Treppe zum Penthouse hinaufsteigen, das er demnächst beziehen wird: „Es gab in unserer Clique zwei Matthiasse. Um uns zu unterscheiden, wurde der eine Matze genannt. Und dann kamen sie irgendwann an und sagten: ‚So, du bist jetzt Motte‘.“ Der Doktortitel kommt erst später hinzu, er wird ihm 1991 von Fans verpasst: „Ich machte die Afterhour im Club 90 Grad. Und weil die Leute meine Musik so krank fanden, nannten sie mich Doktor.“ Hat er, der Punk, denn auch einen Beruf erlernt? „Irgendwas musste ich ja machen, um meine Brötchen zu verdienen: Ich bin gelernter Betonbauer.“ Tatsächlich stehen in ,1er halb renovierten neuen Wohnung Waschbecken – aus Beton. „Die sind aus meiner eigenen Produktion“, erklärt er beiläufig. Den lob auf der Baustelle habe er aber nie wirklich gern gemocht, und bald konnte er ihn auch gesundheitlich nicht mehr ausüben: „Eines Morgens, das war Anfang der Achtziger, wachte ich mit starken Schmerzen auf. Es war so schlimm, dass ich in die Notaufnahme musste.“ Für Motte ein unüberhörbares Signal seines Körpers, die Wind-und-Wetter-Sch werstarbeit in Berlins Rohbauten an den Nagel zu hängen. Das pure Vergnügen war die Plackerei ohnehin nicht. Ganz im Gegensatz zu der höchst lebendigen Clubkultur, die sich in jenen Tagen um die Goldenen Zitronen und die Einstürzenden Neubauten entwickelt, mit Motte mittendrin. Entschlossen, sich nur noch auf das „wirklich Wichtige im Leben“ zu konzentrieren, kehrt

er – nach kurzer Ehe – dem bürgerlichen Dasein endgültig den Rücken, um die Nacht zum Tag zu machen: „Ich trieb mich nur noch in Discos herum. Heute würde man wohl ‚Clubs‘ dazu sagen. Hin und wieder legte ich Platten auf, vorwiegend Funk und guten Soul, und bald konnte ich einigermassen davon leben.“ Auch als inzwischen recht passabler Perkussionist macht er von sich reden: 1981 springt Motte bei der Band „Die Toten Piloten“ ein. Der Punk prostituiert sich jedoch zum New Wave – und Motte mag dabei nicht mehr mitmachen. Seine lazzplatten verkauft er, schafft sich einen Drumcomputer an. Und weil Clubs ohnehin seine zweite I leimat sind, eröffnet er 1986 mit Freunden kurzerhand einen eigenen. Wenig später ist Acid angesagt, der Musikstil mit den gelben Smileys, und Motte springt begeistert auf den Zug. „Ich fuhr dennoch meinen eigenen Film, in jeder Hinsicht.“ Und dazu gehört, vor allem in den achtziger lahren, das Experiment mit den Drogen: „Ich habe so ziemlich alles ausprobiert und meine Erfahrungen gemacht. Fast gestorben wäre ich mal, als ich in einer Kneipe puren Schwarzen Afghanen rauchte. Ich stürzte aufs Klo, meine Augen kehrten sich nach innen und ich musste mit .insehen, wie ich langsam aus mir herausfloss, durch die Füsse!“ Gemt erinnert er sich auch an einen Pilz-I rip, der ihm, da ist er heute noch sicher, die Augen für die innersten Geheimnisse des Kosmos geöffnet hat Nach einein einschneidenden LSD-Trip allerdings überkommt ihn die grosse Sinnkrise: „Ich verbarrikadierte mich zwei Monate lang in meiner Wohnung und fragte mich: ‚Gehst du jetzt einkaufen oder nicht? Will ich leben oder nicht? Ich saß einfach nur in meiner Wohnung und verkörperte diese Fragen. Bis mir klar wurde, dass nur ich allein weiss, was gut ist für mich. Und dass es dazu keine Drogen braucht. Nun zieht es ihn in die Buchläden, und „ich hab die leergekauft, denn ich war hungrig auf das Wissen der verschiedensten Kulturen, vom alten Amerika über Indien und Ägypten bis zu den Aborigines oder den C.riechen“. Vor allern fallt ihm auf, dass sich die meisten Menschen nur über ihre Abneigungen definieren: „Alle sind gegen irgendwas, gegen den Staat, gegen Drogen, gegen I Jass Ich frage aber: „Wofür seid ihr? Wofür lohnt es sich für euch zu leben?‘ Us ist doch alles eins und gar nicht so schwer. Der Sinn des lx?bens ist das lieben selbst.“

Aus dem reichhaltigen Angebot der Religionen der Welt hat er sich inzwischen seine eigenen Ansichten über Weisheit gegossen: Ich erfülle kein Dogma. Ich bin ebenso frei wie alk andern. Der Taxifahrer, der Steuereintreiber, der Mann in der Dönerbude, Du, ich – wir leben alle in unseren parallelen Welten, Bs geht darum einzusehen, dass alles eins sein kann, und dass das Ich mehr ist als eine Biomaschine.“ Und das findet über

den Tanz zu sich selbst – nicht nur nach Mottes Meinung, offenbar auch nach der von Millionen, die alljährlich zur Loveparade pilgern. Motte über deren Anfänge: „Open Air Partys sind nicht neu, es gab ja schon den Christopher Street Day oder den Notting Hill Carneval. Ich fragte mich 1989, ob man nicht auch in Berlin die Party auf die Strasse holen kann.“ Des Rätsels Lösung war die Anmeldung einer Parade als politische Demonstration. Auch wenn der erste Umzug mit nur einem einzigen LKW, gefolgt von einer tanzenden Hundertschaft, über den Kurfürstendamm führte, war das scheinbar dadaistische Motto doch mit Bedacht gewählt: „Friede, Freude, Eierkuchen“. Friede für Weltfrieden und Abrüstung, Freude für Völkerverständigung via Musik, und Eierkuchen für „gerechte Nahrungsverteilung“. Was zunächst, von Passanten belächelt, mit einem „Budget“ von 770 Mark begann, die für den einen Wagen draufgingen, ist heute ein Groß-Event geworden, der Berlin in jedem )ahr weit über 300 Millionen Mark Gesamtumsatz einbringt. Und sein Erfinder wurde darüber zur gehätschelten Medienfigur. So ehrte der Burda Verlag Motte 1999 mit einem Bambi für seine Verdienste um die Jugendkultur, und im deutschen Pavillon der Expo 2000 wird der Mann mit der Brille neben anderen Polit- und Kulturpromis als Gipsbüste die Nation repräsentieren. Ihm selbst ist das Tamtam egal, wenngleich er es als willkommene PR für seine Arbeit betrachtet. Motte, der Popstar? „Ach, ich bin nichts besonderes“, winkt er ab. „Seine Heiligkeit, der Dalai Lama, ist etwas Besonderes. Er ist ein Ozean des Wissens, und ich bin nur eine Pfütze. Ich sehe mich als Kanal, als Medium, das die unendlichen Möglichkeiten des Kosmos auf die Erde leitet. Daher würde es mich schon freuen, wenn wir die Loveparade mit zusätzlichen Angeboten bereichern könnten.“ Als da wären? „Nun, es wäre doch schön, wenn in Rahmenveranstaltungen Leute wie der Dalai Lama auftreten und diskutieren würden.“ Neben seiner Musik und gelegentlichen Kooperationen, etwa mit Techno-Künstler Westbam, sowie seinem Engagement für die Nordoff-Robbins-Stiftung hat Motte auch Gefallen an anderen Ausdrucksformen gefunden: „Seit 1992 fotografiere ich viel und gerne. Ausserdem versuche ich mich auf meiner Homepage (www.drmotte.de; Amn. d. Red.) als Grafik-Designer. Dort kann sich bald jeder von mir entworfene Bildschirmschoner herunterladen. Es ist eigentlich egal, was du machst – Hauptsache du machst es!“

Und weil er auf seine eigene, sehr individuelle Weise Idealist ist, hat er auch sehr anspruchsvolle Wünsche an die Zukunft. Seine eigene, die der Loveparade und der Welt. Weil nämlich alles miteinander zusammenhängt, wünscht sich Motte für dereinst „paradiesische Zustände. Wenn nur genügend Menschen tanzen, dann verändert sich das morphische Feld, das kollektive Denken aller Spezies – vom Menschen über den Affen, Delfine oder Insekten. Das würde ich gerne noch erleben.“ Es ist ein milder Abend geworden, und auf der Strasse parkt unter den Linden Mottes weißer VW Pick-Up. Er ist angerostet, und neuerdings ist auch das Nummernschild rausgebrochen. Gedankenverloren betrachtet Motte sein Gefährt und überlegt, ob er den Wagen neu streichen soll: „Orange wäre doch geil, oder?“ Er deutet auf die schäbige Ladefläche des Vehikels und lächelt: „Ich wollte es zuerst kaum glauben, aber aus der Erde zwischen den Ritzen dort wächst seit einiger Zeit ein Baum.“ Ein Mann, bei dem mit allem zu rechnen ist.