Premiere Light
Kino auf Schleichwegen. Die Mehrzahl heutiger Filmproduktionen hat noch nie eine Leinwand gesehen und feiert die Publikumspremiere auf der Wohnzimmercouch.
Gehen Sie nicht über das Kino, ziehen Sie keine Lizenzkosten ein, bewegen Sie sich direkt auf den Videomarkt! Dieser Weg führt nicht über die Parkallee, sondern diese Filme passieren allenfalls das Wasserwerk, so sieht zumindest die landläufige Vorstellung von Videopremieren aus: Hacken. Stechen, Schlitzen und Pornos jeder Art.
Die Realität verhält sich ein wenig anders: Jeder Film, der im Kino gelaufen ist, kommt ohnehin rund sechs Monate später als Video auf den Markt. Doch nicht jede Video Veröffentlichung war auch vorher im Kino zu sehen. „American Fistfighter“, „China White“ oder „Die Nacht der Lebenden Toten“, so heißen Filme, die noch nie eine Kinoleinwand gesehen haben, und vor denen jeder Kinoverleiher zurückschrecken würde, weil er fürchtet, Ärger mit den Kinobesuchern zu bekommen.
Rund zwei Drittel aller Filme, die auf den deutschen Markt kommen, wandern so ohne Umwege als Cassette in die Videotheken oder werden lediglich für die Fernsehausstrahlung produziert.
Doch nicht alles im Videoregal ist nur Horror, Billig-Action oder Porno. 65 Prozent der Produktionen zielen zwar direkt auf den Videogeschmack der besonderen Art ab, doch das Angebot geht auch tiefer.
„Gerade unter Videopremieren findet man sehr viele Leckerbissen „, meint Spezialitäten-Videothekar Frieder Schlaich aus Stuttgart und zeigt auf ein paar Perlen im Regal: Die Roman-Verfilmung von Stephen Kings Erfolgsschocker „Es“ mit Rocky-Horror-Picture-Show-Star Tim Curry in der Hauptrolle etwa, oder Robert De Niro und Sean Penn als grandioses Komödiantenpaar in m „Wir sind keine Engel“, wo sie sich s als entlaufene Sträflinge in der Mönchskutte durchschlagen. „Gäbe es die Möglichkeit der Videoauswertung nicht, würde das deutsche Publikum viele dieser sehr guten Filme niemals zu Gesicht bekommen“.
Und genauso ergeht es auch der hohen Kinokunst: Die meisten Filme, die auf nationalen und internationalen Festivals hohe Auszeichnungen für künstlerischen Anspruch oder gehaltvolle Aussagen absahnen, finden trotz der Kritiker-Lorbeeren allenfalls den Weg ins ausgesuchte Programmkino. Manche finden in den Kinosälen überhaupt nicht statt. Die Zahl der Leinwände ist begrenzt, und Kinobetreiber müssen nicht nur ihre Kosten wieder einspielen, sondern auch noch was dabei verdienen. Fazit: publikumsträchtige Filme haben in den meisten Theatern Vorrang. Produktionen mit einem niedrigen Werbeetat, die nur eine begrenzte Zielgruppe ansprechen, finden keinen Platz. Das zweifelhafte Urteil fällt dabei oft das Ausland: Filme, die außerhalb Deutschlands nur mäßige Erfolge erzielen konnten, bleiben von vorne herein im dichten Netz der kommerziellen Bewertung hängen. Doch immerhin: was früher gar nicht stattfand, ist für Interessierte heute wenigstens per Video zugänglich geworden.
Doch warum werden so viele Filme produziert, die im Kino nie eine Chance haben? Natürlich heißt die Antwort Geld. Der internationale Videomarkt ist mittlerweile so groß geworden, daß selbst Kino-Kassenschlager wie „Pretty Woman“.“.Kevin — Allein zu Haus“ oder gar Arnold Schwarzeneggers „Terminator II“ an den Kinokassen nicht einmal die Hälfte der Umsätze machen, die mit diesen Filme auf Video erreicht werden. Die Videoindustrie sorgt mittlerweile mit ihren Erlösen zu einem großen Teil dafür, daß Mammut-Produktionen mit 70 oder 80 Millionen-Budgets überhaupt noch möglich sind. Die Kinofans könnten diese Produktionskosten längst nicht mehr alleine decken. Und da die Nachfrage nach neuen Programmen in den Videotheken nicht nachläßt, produzieren die Filmstudios, was das Zeug hält. Vor fünf Jahren noch liefen zwei Drittel der insgesamt 780 Filmneuerscheinungen im Kino, vergangenes Jahr waren es gerade noch 250 von 694. Tendenz steigend, das Publikum hat die Wahl. Vorhang auf, Füße hoch. Immerhin sitzt dabei jeder in ersten Reihe.