„Enttäuscht und traurig“: Warum jetzt nicht die Zeit zum Schweigen ist
Jan Müller über die Geschichtsvergessenheit im deutschen Pop & seine Rückkehr zum politischen Aktivismus.
Rückblickend glaube ich, dass der Holocaust einer der zentralen Gründe war, dass ich begann, mich für Politik zu interessieren. Die Empörung darüber, wie viele alte Nazis unbescholten geblieben waren, und Gewalt und provokativer Aktivismus von Neo-Nazis ließen es für mich ganz selbstverständlich erscheinen, mich im linken Lager zu positionieren. Wenn man in dieser Zeit, so wie ich, in Hamburg lebte, dann war die Hafenstraße mit ihren besetzten Häusern ein faszinierender Ort der Widerspenstigkeit.
Außerdem begann ich in jenen Tagen, mich für Punkmusik zu begeistern. Ab Ende der 80er-Jahre war das „Störtebeker-Centrum“ in der Hafenstraße mein abendliches Wohnzimmer. Hier erlebte ich Konzerte, die für mich Erweckungserlebnisse waren. Zum Beispiel No Means No, Fugazi, LWS, Hammerhead, Erosion, Heresy, Active Minds, Born Against und EA80. „Doch du wagst kaum etwas zu sagen / Aus Angst, es wäre zu viel“, singen Letztere in „Schweigen“, einem ihrer besten Songs.
Ein schales Gefühl blieb
Ich erinnere mich, dass ich im Frühjahr 1988 zu einem Wandbild in der Hafenstraße schwieg, das mich erschüttert hatte: Unter einem gezeichneten Maschinengewehr stand dort in riesigen Lettern „Boykottiert Israel – Waren, Kibbuzim und Strände“. Das Wort Israel war in Anführungsstriche gesetzt worden. Ich kannte bereits die Israel-feindlichen Parolen der Anti-Imperialistischen Fraktion auf den Demos, die ich in jenen Tagen besuchte. Doch der ungefilterte Hass, der aus dem Wandbild sprach, ging darüber hinaus. Er war einer von vielen Gründen, warum ich in jenen Wochen meine Aktivität im linksradikalen Milieu beendete.
Ich ging nicht mehr auf Demos. Aber ich ging weiter auf Konzerte im „Störtebeker“. Die Konzerte wurden von anderen Menschen veranstaltet als jenen, die das Wandbild angebracht hatten. Aber ein schales Gefühl blieb. Mit meiner Band Tocotronic lernte ich dann im Pop-Hamburg der 90er-Jahre eine neue progressiv-politische Szene kennen. Lediglich die gelegentliche RAF-Folklore einiger Protagonist:innen störte mich. Aber zumindest gab es dann immer Gegenrede. Es waren wortreiche, diskursive Zeiten. (Der wunderbare Wild Billy Childish hat den Terrorismus-Kult in dem Song „Oh Mein Gott Baader Meinhof“ übrigens auf sehr lustige Art verspottet.)
Geschichtsvergessenheit im deutschen Pop
In den Nullerjahren entstanden außerdem eng an der Popkultur auch neue linke Strömungen, die sich unmissverständlich vom Antisemitismus distanzierten. Aber es gab auch Geschichtsvergessenheit im deutschen Pop. Und es gab im Jahr 2004 mit Beteiligung von Popmusikern eine den Holocaust relativierende Kampagne der Tierrechtsorganisation Peta.
Seit 2005 formierte sich die BDS-Kampagne, die Israel als Apartheidstaat bezeichnet und zu dessen Boykott aufruft. Traurig stellte ich fest, dass insbesondere in Großbritannien auch viele Musiker:innen, deren Musik ich schätze, begannen den BDS zu unterstützen. Im Oktober 2009 verhinderten linke Demonstranten in Hamburg die Vorführung des Films „Warum Israel“. „Wie kann es sein, dass die Deutschen auf diesen Vorfall fast gar nicht reagieren?“, kommentiert Regisseur Claude Lanzmann.
2017 begann der Durchbruch vom BDS in Deutschland: Ihr erstes Angriffsziel war das Pop-Kultur Festival in Berlin. Die Aggressivität, mit der BDS hier vorging, stieß in meinem Freundeskreis und bei mir auf tiefe Verunsicherung. Im April 2018 wurden die Rapper Farid Bang und Kollegah für ein Album mit einem Echo ausgezeichnet, das das Andenken an den Holocaust herabsetzte. Eine extra eingesetzte Echo interne Ethik-Kommission hatte grünes Licht für die Auszeichnung gegeben.
Der Documenta-Skandal machte deutlich, dass der BDS zahlreiche Fürsprecher im akademischen Milieu gefunden hatte
Im Jahr 2022 war es wieder ein Wandbild, das auf schockierende Weise Antisemitismus zum Ausdruck brachte. Der Documenta-Skandal machte außerdem deutlich, dass der BDS mittlerweile längst zahlreiche Fürsprecher auch im akademischen Milieu gefunden hatte. Am 22. Oktober 2023 beschließe ich spontan, die Solidaritätskundgebung für Israel am Brandenburger Tor zu besuchen. Es ist das erste Mal seit Jahrzehnten, dass ich wieder an einer politischen Demonstration teilnehme. Ein breites Bündnis vom Bundespräsidenten bis zum Reggaemusiker Filou vom linken „Berlin Boom Orchestra“ bestreitet diese Veranstaltung auf der Bühne.
Roni Roman ist aus Israel angereist. Ihre Schwester Yarden wurde am 7. Oktober von der Hamas verschleppt (Am 29. November gehörte sie zu der sechsten Gruppe von Geiseln, die die Hamas im Rahmen der Feuerpause dem Roten Kreuz übergeben hat – Anm.). Die Großeltern von Roni und Yarden Roman flohen nach der Pogromnacht 1938 aus Deutschland. Yarden Roman hat am Tag der Kundgebung Geburtstag. Roni bittet die Teilnehmer:innen, mit ihr das Lied „Happy Birthday“ anzustimmen. Ob ihre Schwester noch am Leben ist, weiß sie nicht.
Ich bin froh über meinen Entschluss, an dieser bewegenden Veranstaltung teilzunehmen. Mir fällt jedoch auf, dass sehr wenige junge Menschen unter den Teilnehmern sind. Ohnehin ist die Teilnehmerzahl beschämend gering. Die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer sagt am 9. November 2023 zur derzeitigen Situation in Deutschland: „Ich bin nicht überrascht. Nur enttäuscht und traurig.“
Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 1/2024.