Zugezogen Maskulin: „Vom Coolness-Faktor ist Eminem der amerikanische Kollegah“
Weil man Zugezogen Maskulins grim104 und Testo so gerne beim Wüten über Politikverdrossenheit, Klickrekorde und Hipster-Hypes zuhört, haben wir sie zum Musikhören eingeladen. Und zwar bei jedem Song mit höherer Lautstärke, denn grim104 hört neuerdings nicht mehr so gut.
Sein Zehnjähriges kann man als würdevolles Jubiläum begehen. Oder aber als 10 JAHRE ABFUCK, wie das Berliner Rap-Duo Zugezogen Maskulin sein viertes Album in zehn Jahren getauft hat. Und weil man grim104 und Testo – unter diesen Künstlernamen treten die beiden solo auf – so gerne beim Wüten über Politikverdrossenheit, Klickrekorde und Hipster-Hypes zuhört, haben wir sie zum Musikhören eingeladen. Und zwar bei jedem Song mit höherer Lautstärke, denn grim104 hört neuerdings nicht mehr so gut.
OG Keemo – 216
Testo: Beim Thema OG Keemo bin ich nicht so mega drin. Das „Intro“ seiner „Skalp“-EP, wo er unter anderem über seine Schulzeit als Schwarze Person erzählt, fand ich aber richtig geil. Ich merke, dass mich Rap nur noch richtig kriegt, wenn wie hier etwas aus der persönlichen Geschichte erzählt wird und es politisch schlau ist. Reichtumserzählungen und Gangstergeschichten interessieren mich dagegen nicht mehr so. Songs wie diese geben mir die Möglichkeit, in eine für mich fremde Welt einzutreten – eine Stärke von Rap, die gerne noch viel häufiger auftauchen könnte. Ich könnte das aber nicht im Auto pumpen und mitrappen.
grim104: Allein schon wegen der N-Wort-Dichte.
Von Wegen Lisbeth – Alexa gib mir mein Geld zurück!
Testo: Ach Mann, das sind bestimmt voll die netten Typen, aber das ist auch Musik, bei der ich selten was fühle. Das erinnert mich immer an die Zeit, in der ich nach Berlin gezogen bin und noch viel mit meinen Mitstudenten rumgehangen habe.
grim104: Worum geht’s denn da? (im Lied heißt es gerade: „Mach ich noch ein Praktikum?“) Ach, okay. Das ist mir zu nett und freundlich, so „Fußzappel-Musik“. Teilen wir uns nicht manchmal mit denen eine Spotify-Playlist, „Wilde Herzen“ oder so?
Testo: Ich glaube, da sind wir raus. (lacht) Von Wegen Lisbeth haben auf jeden Fall Leichen im Keller. So nett kann man gar nicht sein, irgendwo liegen bei denen bestimmt ganz schlimme Dinge verborgen.
Kollegah – Wie ein Alpha
Testo: Episches Intro. Der King, Alter. Direkt rein in die Masse. (macht HipHop-Arme)
grim104: Kollegah ist „remarkably german“, ziemlich einmalig. So ein weißer Mister-T-Typ mit aufgepumpten Muskeln, der Versace trägt – das gibt es in den USA nicht. Höchstens Eminem, der ist vielleicht der amerikanische Kollegah vom Coolness-Faktor her. Ansonsten: Musik für angehende Pick-up-Artists.
Testo: Der Song ist der vertonte Heldenkomplex; ein Versprechen, die Wunde in der männlichen Seele zusammen mit Kollegah zu heilen. Dieser Musik nach wird man von der Welt erst angenommen, wenn man sich nur genug Mühe gibt und stärker als alle anderen geworden ist. Eigentlich ein trauriges Weltbild.
Bosse, Prinz Pi, Capital Bra – Messer
Testo: Das ist dieser Anti-Mobbing-Song, oder? Holt mich musikalisch nicht ab, auch wenn die Thematik natürlich wichtig ist. Ich war damals selbst eher auf der Seite der Mobber. Auf unserer Schule wurde richtig hart gemobbt, es gab auch keine intervenierende Macht wie Lehrer oder Pädagogen. Um nicht gemobbt zu werden, musste man dann eigentlich der schlimmste Mobber werden. Für uns war das normal.
grim104: Ich glaube, unsere Generation ist die erste, die das wirklich reflektiert. Ich kann mich vom Mobbing jetzt auch nicht ganz freisprechen. Ehrlicherweise ist Rap als Genre schon ziemliche Mobbing-Musik.
Testo: Zu meiner Jugend gab es so Initiativen, bei denen dann Bushido durch die Schulen gezogen ist und für das Thema sensibilisieren sollte. Das hat aber nicht dazu geführt, dass irgendein Bushido-Fan gesagt hat: „Yo, jetzt bin ich nicht mehr gewalttätig.“ Ich glaube nicht, dass so ein Song viel bewirken kann.
Die Ärzte – Ein Lied für jetzt
grim104: Für diesen ganzen Corona-Content wird sich noch jemand verantworten müssen, wenn das hier alles vorbei ist.
Testo: Man muss ja für jeden kreativen Kopf dankbar sein, der in der Krise nicht irgendeinen Müll wie Podcasts, Streams oder Songs rausgehauen hat. Das sind auch hier alles nette Leute, aber das gibt mir so gar nichts – alleine schon, weil ich das Thema schnell richtig nervig fand. Auch wir haben uns natürlich Gedanken drüber gemacht, ob wir Corona in irgendeiner Form aufgreifen und bin froh, dass wir das nicht gemacht haben.
grim104:. Ich habe auch keinen Bock, Die Ärzte mit Gitarre und Klopapier vor der Webcam sitzen zu sehen und über Pornhub singen zu hören. Das hier ist die ganz große Entzauberung. Jungs, dat war nix – lasst euch das mal von zwei alten Medienhasen gesagt sein. (lacht)
Fynn Kliemann – Alles was ich hab
Testo: Gänsehaut.
grim104: Fynn Kliemann ist der Rio Reiser unserer Zeit.
Testo: Das ist der Titelsong zu seiner Doku, oder? Ich hab’ mir die angesehen: Das ist schon ein genialer Move, einen Spielfilm über seinen eigenen Erfolg zu machen, aber mit dem Anstrich, man sei ja nur ein bescheidener Junge, dem halt alles so passiert ist. Im Film ist ja alles inszeniert, selbst wenn er mit seiner Freundin auf dem Bett tobt. Das ist doch ein Schwindel.
grim104: Ich wollte ja eigentlich nicht mehr haten, aber diese authentischen, kernigen Jungen mit rauer Stimme finde ich wirklich fürchterlich. Das geht mir auch mit Henning May (AnnenMayKantereit – Red.) so.
Ton Steine Scherben – Rauch-Haus-Song
grim104: Jetzt sitze ich hier bei Springers heißem Blatt und höre Ton Steine Scherben, wow. Ich habe den Song tatsächlich erst vor Kurzem noch mal gehört und dachte, was für eine tolle Musik und Band das ist. Ist zwar mittlerweile auch irgendwie verkitscht, aber kriegt mich leider immer noch.
Testo: Ich habe da null Verbindung zu. Wenn Kollegah „remarkably german“ ist, dann ist das auf jeden Fall „remarkably westdeutsch“. Rio Reiser hat bei mir (Testo wuchs in Stralsund auf) niemanden interessiert und ich selbst bin damit erst in Berlin in Berührung gekommen. Dann fand ich das natürlich spannend, auch wenn mich das musikalisch nicht abholt.
grim104: Ich finde es cool, weil es nicht bloß so Punkrock mit Polit-Texten ist, sondern schon was Bluesiges hat. Ich mag auch die Geschichte von der politischen Band, die irgendwann nicht mehr Bock hat, live immer „Keine Macht für Niemand“ zu spielen und aus der linken Szene plötzlich angefeindet wird, weil man nicht mehr bloß bei Soli-Events auftritt. Eigentlich ein bisschen wie bei uns. (alle lachen)
Rammstein – Deutschland
Testo: (nach einer Sekunde) Rammstein, „Deutschland“. Habe ich relativ oft gehört.
grim104: Ich finde, Rammstein ist eine tolle Band und visuell total stark, besonders dieses Bergsteiger-Video zu „Ohne dich“. Auch hier war das Video krass, aber gut. Was mich bei Rammstein nervt, ist dieser Tabubruch um des Tabubruchs willen. Das hat was von Stöckchenspringen.
Testo: Irgendwann stößt mich diese Provokation auch ab, weil es immer vulgärer wird. Aber den Song finde ich genial, weil er diese Zerrissenheit dem eigenen Land gegenüber so klar formuliert. Das sind Themen, die mich und wahrscheinlich jeden Deutschen mit Geschichtsbewusstsein auch beschäftigen.
grim104: Und Till Lindemann, bitte nimm dieses komische Piercing raus!
Kanye West & Travis Scott – Wash Us In The Blood
grim104: Jetzt erheben wir uns zur neuen Nationalhymne der USA, oder?
Testo: Ich merk’, das juckt mich überhaupt nicht mehr. Deutsche Musik und Inhalte interessieren mich, aber das hier hör’ ich mal beim Duschen. Bei englischen Texten bin ich ehrlich gesagt oft auch einfach zu faul, die Hürde der Sprachbarriere zu nehmen. Dann merke ich erst hinterher, was für geniale Ideen hinter den Songs stecken.
Dieser Artikel erschien erstmals im ME 09/20.