„Weil meine Songs da draußen sind“


Jeff Tweedy hat erkannt, dass er nicht alles im Griff haben kann. Schon gar nicht das Bild, das die Menschen von ihm und seiner Band Wilco haben. Doch was diese Band ausmacht, das weiß er selbst am besten.

Magische Wilco-Momente gibt es viele, aber drei sind mir ganz besonders im Gedächtnis geblieben: 1. In der großartigsten Besetzung aller Zeiten beenden Wilco am n. September 2005 in der Hamburger Markthalle den Song „Misunderstood“ mit einer sonischen Explosion. An der Stelle, wo Jeff Tweedy die Worte I’d like to thank you all’for nothin /nothin’/nothin’/nothin‘ at all „herauspresst, lärmt die Band mit einer Präzision dazwischen, die für die meisten ungläubigen Gesichter sorgt, die ich je bei einem Ü30-Konzert gesehen habe. 2. Der Augenblick, in dem sich das totenstill beginnende „At Least That’s What You Said“ nach zweieinhalb Minuten endgültig in ein seelenvoll mäanderndes Crazy-Horse-Stück auflöst, das sich immer wieder aufs Neue aufbaut und in sich selbst zusammenfällt. 3. Die Enthüllung von Tweedys ewiggültigem Geheimnis im wehmütigen „She’s A Jar“ auf SUMMER teeth: „When Iforget how to falle, I sing.“

Heute kann Jeff Tweedy nicht singen. Er sitzt allein auf dem Hotelzimmer und muss mit Medienvertretern sprechen, die, wie die Promoterin verrät, alle ganz enthusiastisch sind. Grund ist SKY blue sky, das Album nach dem Meisterwerk, dem Krautrock, dem Piepton, der Beatles-Seligkeit und dem Besuch vom Teufel im Halbdunklen „Hell Is Chrome“ — die sechste Studio-LP. Drücken wir es einfach mal so aus: Zu behaupten, SKY BLUE SKY käme an YANKEE HOTEL FOXTROTund A GHOST IS BORN heran, wäre etwas gewagt. Trotzdem: wunderschöne, in sich ruhende Platte, bloß konventioneller als erwartet. Wobei es nach wie vor irritiert, dass nicht wenige Leute die zwei letzten Wilco-Platten nun so wahnsinnig unkonventionell und „sperrig“ fanden, nur weil mal ein paar Geräusche mehr drauf waren: Tweedys Songwriting war zu jeder Zeit brillant.

Nun also sky blue sky. Hätte auch Ende der Neunziger erscheinen können. Oder Ende der Siebziger: Gleich drei, vier von Jeffs neuen Songs hätten auch auf Neil Youngs comes a time von 1978 gepasst. sky blue SKY sollte übrigens laut Witzmeldungen aus dem Bandlager zuerst entweder „Bible Black Bible“ (wohl zu nah an Arcade Fire) oder „Butt Ugly Butt“ (zu nah an den Butthole Surfers) heißen. Und da sitzterauch schon, Songschreiber Tweedy: Hat viel mitgemacht, das alte Cowboyhut-Publikum ein paar Mal hübsch vor den Kopf gestoßen und, wie man sagt, „Grenzen gesprengt“. Rutscht jetzt aber erstmal im Sessel herum. Trägt eine Brille.

Jeff, ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich ein Album wie sky blue sky eher als Vorgänger oder Nachfolger zu summe ti teeth erwartet hätte als jetzt nach a chost isborn. Die neue Platte klingt, grob gefasst, deutlich weniger „experimentell“, als man hätte vermuten können.

JEFF tweedy: Oh, wirklich? Das habe ich bisher noch von niemandem so gehört. Interessant, (überlegt) Nun, das Wort „experimentell“ mag ich nicht so sehr, aber ich verstehe, was du sagen willst: Es ist sehr viel direkter als die letzten beiden Wilco-Platten. Viele Leute haben uns Fragen zu yankee hotel foxtrot und a ghost is BORN gestellt: Warum ist dieser Piepton auf der Platte, und warum ist er so lang? Wollt ihr den Hörer verstören? Was soll der Krach? Warum klingen die Gitarren so komisch? Ich habe dann immer gesagt: Weil es zum Text oder zum Sentiment des jeweiligen Songs passte! Aus keinem anderen Grund. Die Mittel, um einen bestimmten Sound zu erzeugen, stehen uns zur Verfugung – also nutzen wir sie. Wenn sich ein Wilco-Song mit einer Pedal Steel gut anfühlt, nehmen wir ihn so auf- fertig. Bei jeder Platte, die wir gemacht haben, ging es darum, etwas auszudrücken. Es ging niemals darum, jemanden vor den Kopf zu stoßen.

Auch wenn es bestimmt Menschen gibt, die sich schon von einem Songtitel wie „Impossible Cermany“ auf den Schlips getreten fühlen …

Ach, ich weiß nicht. Das Wort „Germany“ hat einfach etwas Provozierendes an sich. Schon, wenn man nur an den Zweiten Weltkrieg denkt. Wichtig war mir, dass dieser Song auch mit der aktuellen Situation in Amerika korrespondiert: Dort ist ein verantwortungsloses menschliches Wesen mit sehr viel Macht ausgestattet worden und macht Gebrauch davon. Klar, direkt vergleichen kann man das nicht, aber es geht eben darum, dass irgendwo Menschen aufwachen und sich fragen: Was ist hier los? Wie konnte es dazu kommen? Inwiefern bin ich daran mitschuldig? Ich denke, so fühlen sich momentan viele Menschen in Amerika. Und so fühlten sich zu einer bestimmten Zeit eben auch Menschen in Deutschland oder Japan, das ja auch im Song vorkommt… Ach ja, der Mädchenname meiner Mutter ist Bergmeister, von daher habe ich sowieso eine Menge deutsches Blut in mir.

Vom unglaublichen Schlagzeuger Clenn Kotehe bis hin zum Gitarristen Nels Cline hast du mittlerweile eine Band beisammen, um deren Studio-, uor allem aber Liuequalitäten dich die Rockwelt beneiden sollte. Kannst du die Mitglieder deiner Band kurz charakterisieren?

Nun, wir sind alle sehr eng befreundet und ich liebe sie alle. Es sind gute und aufrichtige Menschen. Nels ist ein unheimlich freigiebiger Mann und sehr virtuos an seinem Instrument. Er geht sehr nachsichtig damit um, dass ich an der Gitarre nicht so virtuos bin wie er, und ermutigt mich oft. Glenn ist sehr liebenswert und weiß scheinbar gar nicht, wie gut er ist. Er ist ja noch ziemlich jung. John kenne ich schon seit Uncle-Tupelo-Tagen. Auch wenn das jetzt komisch klingt: Die besten Musiker, die ich in meinem Leben getroffen habe, hatten das kleinste Ego.

Was würde passieren, wenn man dir die Möglichkeit, Musik zu machen, wegnehmen würde? Wenn du beispielsweise deine Stimme verlieren würdest oder beide Arme?

Ganz ehrlich: Als ich vor drei Jahren ins Krankenhaus ging, hätte ich wohl zugestimmt, beide Arme oder meine Stimme zu verlieren, wenn ich -» interview

-» mich dafür bloß besser fühlen würde. Ein schrecklicher Ort. Ich war einen ganzen Monat dort. Ich habe die Erfahrung, die du beschreibst, im Kopf schon durchgespielt: Ich war dazu bereit, nie wieder Gitarre zu spielen, nie wieder einen Song zu schreiben – ich wollte nur, dass ich mich endlich wieder wohl in meiner Haut fühle! Heute bin ich dankbar, dass es nie zu diesem Tausch kam. Ich bin wieder gesund, fühle mich besser als je zuvor undbin in der Lage, Songs zu schreiben. Ein Freund uon mir, der selbst Musiker und großer Wilco-Bewunderer ist, äußerte, nachdem ersKYBLue SKYein paar Mal gehört hatte, die folgende Theorie: Vielleichtfehlt den neuen Songs ja deshalb der Wahnsinn, weil Jeff Tuieedy keine Drogen mehr nimmt. (lacht herzlich) Diese Theorie klingt etwas borniert. Da besteht wohl ein besonderer Informationsbedarf darüber, was zum Musikmachen gehört. Ich meine: Soll ich jetzt Drogen nehmen, um ein Album zu machen, das ihm wieder so gut gefällt wie yankee hotel foxtrot? Oder soll ich absichtlich abgefahrenere Songs schreiben, damit niemand merkt, dass ich wieder straight bin? Beides erscheint mir gekünstelt und falsch. Sichergab es Beispiele in der Rockgeschichte, wo sich Drogennehmen und gutes Songwri ting ergänzten. Dann gibt es da aber auch Frank Zappa, der die bizarrste Musik gemacht, aber selbst niemals Drogen genommen hat. Auch „Lucy In The Sky With Diamonds“ war eher Popmusik als experimentelle Kunst. Vielleicht gibt es auf dem nächsten Wilco-Album ja wieder Stücke, die nach Drogenmissbrauch klingen. Das heißt aber nicht, dass ich dann auch welche genommen habe, um sie zu schreiben. Ein guter Song ist ein Song, den du in deine Tasche stecken und mit dir herumtragen kannst, wohin du auch gehst. Der dir dabei hilft, dich an ein Gefühl zu erinnern, dass du nicht ausdrücken kannst. Musik ist ein Weg, über Dinge zu reden, über die man normalerweise schweigen sollte. In Sam Jones‘ Dokumentation über euch („lAm Trying To Break Your Heart“ uon 2002) sieht man dich nicht nur mit dem mittlerweile aus der Band entlassenen Jay Bennett streiten. Man sieht dich auch mit deiner Frau, deinen zwei Söhnen und dabei, wie du dich auf der Toilette übergibst. Hattest du, nachdem du dir den Film angesehen hast, das Gefühl, zu uiel uon dir als Priuatperson preisgegeben zu haben?

Nein, das, was man im Film sieht, ist ja nur eine Seite meines Lebens. Da wird ein Bild im Kopf des Zusehers kreiert, das sehr viel konkreter und endgültiger ist als die Wirklichkeit. Filme oder Artikel sind nicht real, sie sind nur eine Verzerrung der Realität. Mein wirkliches Leben ist die Verbindung, die ich zu meiner Frau und meinen Kindern habe. Das bin wirklich ich. Auf die Art und Weise, wie ich wahrgenommen werde, wenn ich Teil eines Films bin oder als Songwriter von Wilco die Bühne betrete, habe ich keinen Einfluss. Selbst wenn ich für den Rest meines Lebens zu Hause bleiben würde wie Syd Barrett und mich niemand jemals wieder sehen sollte, würden die Leute noch immer etwas auf meine Person projizieren. Weil meine Songs da draußen sind.

Gibt es Dinge, auf die du wirklich verärgert reagierst, wenn du ein Konzertgibst oder, so wie jetzt, ein Interview?

Früher hat es mich sehr gestört, wenn Besucher geredet und damit anderen die Möglichkeit genommen haben, das Konzert zu verfolgen. Mittlerweile habe ich eine etwas entspanntere Einstellung dazu: Wenn jemand in der ersten Reihe quatscht, spiele ich einfach einen etwas lauteren Song oder fange während des Liedes an zu schreien. Oder ich verzichte auf die Verstärker, stelle mich an den Rand der Bühne und singe ohne Mikro dann müssen alle still sein. Meine Einstellung gegenüber Ignoranz habe ich aberbeibehalten: Ich verstehe nicht, wieso man Geld bezahlt, um einen Künstler performen zu sehen, und dann redet. Was Interviews angeht: Gestern in Paris hatte ich eines, wo ich die ganze Zeit gefragt wurde: „Wann war dein erster Kuss?“ oder „Wann hast du das letzte Mal geweint?“ Di war es für mich sehr schwierig, tolerant zu bleiben. Zurück zu skyblue sky: Das Stück „Side With The Seeds“ beginnt ja fast wie Sam Cooke. Einer der wenigen, nun ja, Soulsongs, die Wilco bisher gemacht haben. Wie kam es dazu?

Eigentlich begann alles mit einer Akkordfolge, die unser Keyboarder Mikael Jorgensen mitbrachte. Ich habe mir dann dazu eine Melodie und etwas später auch einen Text dazu ausgedacht. Wir probierten den Song in verschiedenen Tonarten, am Schluss in einer, zu der ich sehr hoch singen musste. Da hat es bei uns allen „klick“ gemacht, und wir dachten: Genauso muss der Song klingen. Weißt du, von allen Musikstilen, die es so auf dieser Welt gibt, höre ich Soul wahrscheinlich am liebsten.

Das textlich recht amüsante „Hate It Here“ und „On And On And On“ gehören ganz offensichtlich zu den Liebesliedern auf der Platte.

Meine Frau findet „Hate It Here“ komisch und kann wunderbar darüber lachen. Das soll auch so sein, denn der Mann, den ich in „Hate It Here“ beschreibe, benimmt sich wie ein Baby: Meine Frau ist nicht da, was soll ich bloß tun, wenn ich alle Hemden gefaltet, den Abwasch gemacht und den Rasen gemäht habe? Solche Männer gibt es vielleicht nicht in Deutschland, aber in Amerika. „On And On And On“ dagegen ist der wohl traurig-romantischste und gleichzeitig albernste Song, den ich je geschrieben habe. Meine Frau muss schon eine Menge Lyrics aushalten, die andere Frauen sicher grenzwertig fänden. Ich bin froh, dass auf dem Album einige Songs enthalten sind, in denen ich direkt zu ihr sprechen kann. Vieles von dem, was ich auf sky blue sky singe, hat sie glücklich gemacht.

Verfolgst du das aktuelle Musikgeschehen?

In der Regel bin ich schon auf dem neuesten Stand und höre mirauch viel aktuelle Musik an. Ich mag foanna Newsom und Arcade Fire, mit denen wir schon einige Male zusammen gespielt haben. Außerdem liebe ich das neue Album von Low, und quasi jedes Mal, wenn ich mich umdrehe, gibt es neues Material von Deerhoof, das in der Regel so erstaunlich ist wie das alte. Ich finde sie enorm unterhaltsam und erfinderisch. Das neue Bob-Dylan-Album hat mir auch sehr gut gefallen: Es ist lebendig, inspiriert und macht einfach gute Laune. >» www.wilcoworld.net —