Unsere Jury hat gewählt: Das hier ist der beste Song aller Zeiten


In unserer Jubiläumsausgabe kürten wir "Die 700 besten Songs aller Zeiten". Hier verraten wir Euch auch online endlich unseren Platz 1. Yeah!

Am 13. März 2014 ist sie erschienen, die sage und schreibe 700. Ausgabe des Musikexpress. Und die hat es in sich: Wir haben eine prominente zigköpfige Jury aus Musikern wie etwa Lana Del Rey, Mark Lanegan, Danger Mouse, Marteria, Thees Uhlmann, Judith Holofernes, WhoMadeWho sowie aus Autoren, Journalisten und Fachleuten von anderen Magazinen, Tageszeitungen, Radiosendern und Plattenlabels nach ihren Lieblingssongs aller Zeiten gefragt. Herausgekommen ist in mühevoller Kleinarbeit nicht weniger als eine Liste mit den 700 besten Songs aller Zeiten inklusive Texten zu jedem (!) dieser Songs, und diese Liste präsentieren wir Euch nun nach und nach online auf Musikexpress.de. Zumindest mit den Beschreibungen zu jedem zehnten Song – mehr lest Ihr in unserer Jubiläumsausgabe.

Und hier kommen nach unseren Plätzen 700 bis 651, 650 bis 601, 600 bis 551, 550 bis 501, 500 bis 451, 450 bis 401, 400 bis 351, 350 bis 301, 300 bis 251, 250 bis 201, 200 bis 151, 150 bis 101, 100 bis 51, 50 bis 11, 10 bis 4, 3 und 2 nun unseren Platz 1:

1.  Joy Division – „Love Will Tear Us Apart“

Am 21. Juli 1975 haben es Captain & Tennille geschafft. Mit der ersten Single landet das Ehepaar – er: Kapitänsmütze, sie: Korkenzieherlocken, beide: glücklich – einen Nummer-eins-Erfolg in den amerikanischen „Billboard“-Singles-Charts. „Love Will Keep Us Together“ verspricht ein unbedeutendes Leben in ewiger Zweisamkeit und schunkelt ebenso unbedeutend vor sich hin, plunkerndes Honky-Tonk-Klavier inklusive. Das Lied wäre eine ebenso unbedeutende Fußnote der Popgeschichte, wenn es nicht dieser Song gewesen wäre, der in Ian Curtis das Bedürfnis weckte, eines Tages über die Liebe zu schreiben, wie sie wirklich ist. Er hasst „Love Will Keep Us Together“, hasst es mit jeder Faser seines sehnigen und ausgemergelten Körpers. Hasst die Scheinheiligkeit, die Verlogenheit, die Sonnigkeit, ja die ganze gute Laune, das Dauergrinsen, das er dem Captain und seiner Tennille am liebsten aus ihren Fressen kratzen würde.

Fünf Jahre dauert es, bis der Gegenentwurf gereift ist. Bis Joy Division „Love Will Tear Us Apart“ in die Welt entlassen, das bekannteste aller Lieder der Band aus Manchester, zahllose Male gespielt im Radio, in Clubs, in Discos, zahllose Male gecovert und nachgespielt und angedeutet in anderen Liedern, noch öfter zitiert und analysiert – und doch bei jedem Mal Anhören wieder so unmittelbar und verheerend in seiner Wirkung, nicht nur, als würde man es gerade zum ersten Mal hören, sondern als wäre man dabei bei der Aufnahme: Man riecht den Studiomodder und den kalten Rauch der Zigaretten und das verschüttete Bier auf dem Teppich. Und man ist in Ian Curtis’ Kopf. Man spürt die Verzweiflung, mit der er sein Innerstes in den Song stülpt. Er singt für uns alle, aber er meint sich, immer nur sich. Er ist es, der da zerrissen wird von der Intensität seiner Gefühle, die sich nicht kontrollieren lassen.

„Love Will Tear Us Apart“ wird zunächst am 8. Januar 1980 in den Pennine Sound Studios in Oldham aufgenommen, nachdem der Song im August 1979 geschrieben wurde und live erstmals im Monat darauf zur Aufführung kam. Obwohl die Aufnahme nah an der Livefassung ist – oder gerade weil –, sind Ian Curtis und Produzent Martin Hannett unzufrieden mit dem Ergebnis. Im März 1980 fand man sich in den Strawberry Studios zusammen, um einen weiteren Anlauf zu nehmen. Hier entsteht die Fassung, die als Single veröffentlicht wird, einen Monat nach dem Selbstmord von Ian Curtis, der sich in den Morgenstunden des 18. Mai 1980 in der Küche seines Hauses in Macclesfield erhängt, einen Tag, bevor Joy Division zu ihrer ersten US-Tour aufbrechen wollen.

Der Song beginnt mit einem Gitarrenintro, das an den Einstieg von „Pinball Wizard“ erinnert. Wo bei den Who allerdings schneidende Elektrogitarren einsetzen, explodiert „Love Will Tear Us Apart“ förmlich, attackiert Drummer Stephen Morris mit seinem peitschenden Motorikbeat, einer Art Stechrhythmus mit Dance-Groove, und Bernard Sumner füllt das Lied mit weit ausholenden, warmen Synthesizerflächen, während Peter Hooks Rickenbacker-Bass die Melodie aufnimmt und immer wieder wiederholt. Das ist eine eingängige Sache. Eingängiger jedenfalls als das, was man von Joy Division gewohnt ist, die sich sonst immer in düsteren Kathedralen komplexer Sounds verlieren, aus denen es keinen Ausweg gibt. Das ist Pop, so Pop, wie Joy Division überhaupt nur sein können. Aber es ist eben nicht „Love Will Keep Us Together“, da ist nichts Leichtes oder Fluffiges, nichts Gefälliges oder Gefallsüchtiges.

„Love Will Tear Us Apart“ geht ans Eingemachte. Das merkt man spätestens, wenn Ian Curtis einsteigt mit den Zeilen „When routine bites hard and ambitions are low“. Sein beunruhigender Bariton ist nicht so beschwörend wie sonst, nicht so manisch. Er klingt weniger wie der Hohepriester, als den man ihn kennt, der in seinen bizarren Liedern Versagen, Scheitern, Traurigkeit und die Grausamkeit des Menschen zelebriert. Hier ist er ganz Crooner, und tatsächlich soll ihm jemand aus der Band nahegelegt haben, er solle versuchen zu singen wie Frank Sinatra. Das kriegt er nicht ganz hin, aber womöglich geht einem der Gesang genau deshalb so unter die Haut. Unisono mit Sumners Synthesizer steigert sich Curtis in den Refrain, wiederholt zweimal „Love, love will tear us apart again.“ Es ist ein Lamento, mit großer Zärtlichkeit gesungen. Aber auch eine Müdigkeit und leise Verzweiflung schimmern durch, die vermuten lassen, dass hier jemand nicht mehr weiterweiß. „Why is the bedroom so cold, turned away on your side?“ Wenn der Song nicht so unablässig nach vorne peitschen und Curtis zum Weitersingen zwingen würde, er würde wahrscheinlich nach diesen Zeilen einfach aufhören und zusammenbrechen. Aber er muss weiter, es muss weitergehen, zwei weitere Strophen, eine Bridge, zwei weitere Refrains, bis der Song sich noch einmal unmerklich steigert, ein instrumentales Outro, das die Melodie noch einmal leicht variiert, fast euphorisch, bis der Fade-out folgt. 3 Minuten 18 Gänsehaut.

Es ist fast unmöglich, nicht zu versu­chen, Curtis’ Lebensumstände mit „Love Will Tear Us Apart“ abzugleichen: Zum Zeitpunkt der Aufnahme hat er eine Affäre mit der belgischen Journalistin Annik Honoré, er lebt in Trennung von seiner Frau Deborah, die ihre halb-

jährige Tochter allein aufziehen muss. Seine epileptischen Anfälle treten in höherer Frequenz auf, die Medikamente lassen ihn schwermütig und depressiv werden. Wenn er singt „Why is it something so good just can’t function no more“, dann artikuliert er einen Schmerz, der absolute Ratlosigkeit ausdrückt. Aber „Love Will Tear Us Apart“ ist kein kalkulierter Downer. Der Song wird befeuert von der Erkenntnis, dass in die höchsten aller Gefühle die Enttäuschung, das Ende, zwangsläufig mit eingebaut werden: Wer die Liebe erfahren will, der muss hinnehmen, dass sie einmal vorbei sein wird. Bevor die Liebenden auseinandergerissen werden können, muss da erst einmal eine Liebe sein, die so stark ist, dass man sich fühlt, als würde sie einen auseinanderreißen. In ihrem Buch „Touching From A Distance“ merkt Deborah Curtis an, das Covermotiv der Single mit dem in Metall eingeätzten Bandnamen und Songtitel erinnere sie an einen Grabstein. Der Grabstein, den sie ihrem Mann anfertigen lässt, trägt schließlich auch diese Inschrift: Love will tear us apart.

(Chris Weiß)