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Tom Waits: Alle Alben im Ranking

Eine Kaufanleitung für das Werk des großen Sängers und Songschreibers Tom Waits.


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„Sie sagen, ich hätte keine Hits – und sie sagen das, als wäre es etwas Schlechtes.“ So zog Tom Waits Bilanz über seine Karriere, als er vor zehn Jahren in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen wurde. Andere mögen mit seinen Liedern größere Erfolge gefeiert haben, seine eigenen Interpretationen aber erheben sich über Zeit und Moden. Ein Rundgang über einen Schrottplatz voller Schätze, die ihre Schönheit nur dem interessierten Betrachter offenbaren – um dann umso mehr zu strahlen.

Tom Waits: PIANO MAN

CLOSING TIME (1973)

Wer Tom Waits aus einer späteren Phase, wahlweise als Trunkenbold am Piano oder als lärmende Vogelscheuche, kennt, der wird überrascht sein, wie alles begonnen hat: 1973 verdient er sein Geld als Türsteher und träumt davon, eine Jazz-Platte aufzunehmen. Im Studio wird daraus recht konventioneller Singer/Songwriter-Pop: OL‘ 55 und MARTHA erzählen von vergangener Liebe und verpatzten Chancen. Die Eagles und Tim Buckley werden diese Lieder covern. Ihr Urheber wäre wohl in Vergessenheit geraten, hätte er sich später nicht in einen Werwolf verwandelt. Im Rückblick besteht das Debüt vor allem durch seine Unschuld.

★★★★★

THE HEART OF A SATURDAY NIGHT (1974)

Nach der Sperrstunde steht der Barstänger vor der Tür und raucht. Ein Hobo-Sinatra in the wee small hours. An Heimgehen ist eher nicht zu denken. Diese Lieder handeln vom Losziehen – in die Nacht (der Titeltrack), aufs Meer (SHIVER ME TIMBERS), in die Ferne, wo man erst erkennt: I NEVER SAW MY HOMETOWN UNTIL I STAYED AWAY TOO LONG. Musikalisch nähert sich Waits nie wieder dem Jazz so sehr wie hier. Bones Howe – er hat bereits mit Ella Fitzgerald und Ornette Coleman gearbeitet – schiebt an und wird Waits knapp zehn Jahre lang als Produzent begleiten.

★★★★★

LIEBESKUMMER & KATZENJAMMER

SMALL CHANGE (1976)

Eine kleine Veränderung – der Titel untertreibt gewaltig. Plötzlich grölt und gurgelt Waits, dass es dem HNO graust. Gleichzeitig wird die Musik schwelgerisch: Streicher umschmeicheln den Säufer, die Stimmung ist beinahe weihnachtlich. Ein Song stellt alle anderen in den Schatten: TOM TRAUBERT’S BLUES, sechseinhalb himmlische Minuten zwischen Kitsch und Gosse, Katzenjammer und Liebeskummer. Ein wirkungsvoller Kontrast, der zu Waits‘ Markenzeichen wird.

★★★★★

BLUE VALENTINE (1978)

Waits zieht ins Tropicana Motel in West Hollywood und freundet sich mit den Ramones an. Während die Punks die Welt in Brand stecken, heult er Leonard Bernsteins SOMEWHERE zum Mond. Auf dem Cover dieser Platte sieht er selbst aus wie eine Figur aus WEST SIDE STORY. Oder wie der heimlich blutende Bandit, der seine Jungs noch cool nach einer Zigarette fragt, bevor er zum Sterben ins Kino fährt (ROMEO IS BLEEDING). BLUE VALENTINE ist eine verrauchte Jazz-Platte (endlich!), deren Erzählungen es mit denen von Bob Dylan und Lou Reed aufnehmen können.

★★★★★

HEARTATTACK AND VINE (1980)

Eine Übergangsplatte: Der neue Waits kündigt sich in DOWNTOWN und dem Titelstück mit dreckigen E-Gitarren an. Der alte greift noch einmal tief in den Schmalztopf: In Balladen wie ON THE NICKEL und RUBY’S ARMS möchte man sich hineinlegen. JERSEY GIRL hätte Bruce Springsteen gerne geschrieben. Bei ihm werden die „whores down on the avenue“ allerdings zu „girls“, als er den Song später covert. Das unterscheidet den Stadionrocker vom Straßenköter.

★★★★★

WILD YEARS

SWORDFISHTROMBONES (1983)

Bones Howe geht, Kathleen Brennan kommt. Sie wird Waits‘ Lebensgefährtin und kreative Partnerin. Das verändert alles: Nur wenige Künstler haben sich je so radikal gewandelt wie Tom Waits auf seiner siebten Platte. Ja, man findet sie noch, die zärtlichen Momente, aber sie wirken roher. Die anderen Stücke sind eruptiv und perkussiv, der Beat kommt von geheimnisvollen Instrumenten wie „metal aunglongs“ oder „bass boo bams“. Und Waits bellt dazu statt zu singen, mehr Captain Beefheart jetzt als Louis Armstrong: IT’S A PLACE I’VE FOUND, THERE’S A WORLD GOING ON, UNDERGROUND. Sein Label Asylum lehnt dankend ab. Das schien kommerzieller Selbstmord mit Ansage zu sein. Heute wissen wir: SWORDFISHTROMBONES ist die zweite Geburtsstunde des Tom Waits.

★★★★★★

RAIN DOGS (1985)

RAIN DOGS entsteht im New York der 80er und fängt die Stimmung des Times Square ein: die Peep-shows und Pornokinos, die Pimps und Prostituierten. Dafür holt sich Waits die Unterstützung von knapp zwei Dutzend Musikern. Keith Richards gastiert auf drei Songs, der heimliche Star heißt aber MARC RIBOT. Sein kubanisch anmutendes Gitarren-Spiel gibt dem neuen Sound den letzten Schliff. Weill’sche Moritaten tanzen Tarantella mit Sea Shantys, Country-Balladen folgen auf Funeral Jazz. Und in der Mitte thront das majestätische TIME und überragt alles. Man kann nicht viele Platten als „einzigartig“ bezeichnen, aber eine zweite wie RAIN DOGS wird schwer zu finden sein.

★★★★★★★

BONE MACHINE (1992)

Seine Skepsis gegenüber Drum-Computern und künstlichen Klangquellen beschreibt Waits einmal so: „Ich fühle mich wohler, wenn ich meine Sounds selbst jage und töte, häute und koche.“ Auf BONE MACHINE stellt er seiner Beute im Keller des Prairie Sun Recording Studios nach, weil der Zementboden dort so schön hallt. Alles wird rustikaler, erdiger. THE EARTH DIED SCREAMING, kläfft Waits, und im Hintergrund klappern die Knochen tanzender Skelette. Ähnlich heiter geht es weiter: Mutige können ihre Resilienz ja mal an der dritten Strophe von A LITTLE RAIN testen. Geschmunzelt werden darf beim flotten I DON’T WANNA GROW UP. Tom Waits als krakeelendes Riesenbaby: Erwachsensein ist pfui! Und das von einem Mann, der als 70-Jähriger zur Welt gekommen ist.

★★★★★★

MULE VARIATIONS (1999)

Wenn Sie sich nur ein Album von Tom Waits kaufen, dann dieses. Es fügt dem Spektrum nichts hinzu, bietet aber das Beste aller Facetten: MULE VARIATIONS eben. Den Groove bei BIG IN JAPAN besorgen die Funk-Rocker von Primus, der Spoken-Word-Track WHAT’S HE BUILDING? ist ein Horrorfilm für die Ohren, wobei unklar bleibt, wer in dieser Geschichte das Monster ist: der, der da in seinem Haus hämmert und schraubt, oder seine Nachbarn, die deswegen kurz davor sind, zu Fackeln und Heugabeln zu greifen. Später fließen Rotz und Wasser, wenn bei PICTURE IN A FRAME sogar der Klavierhocker und die Pedale liebestrunken ächzen. Und wenn bei TAKE IT WITH ME der Tod schon am Rockzipfel zerrt, während sich der Erzähler noch einmal umschaut. So entlässt uns Waits aber nicht: COME ON UP TO THE HOUSE, predigt er zum Schluss, und eure Wunden werden geheilt werden. Amen!

★★★★★★★

KINO UND THEATER

Waits beeinflusst das Kino. Filme werden nach seinen Songs benannt, er selbst steht für Regisseure wie FRANCIS FORD COPPOLA und JIM JARMUSCH vor der Kamera. Außerdem schreibt er Soundtracks für NIGHT ON EARTH (1991, ★★) und ONE FROM THE HEART (1982, ★★★). Von Bedeutung ist Letzterer vor allem, weil Waits bei der Arbeit daran KATHLEEN BRENNAN kennenlernt. Sie wird von da an bei fast allen Songs als Co-Autorin angeführt.

Noch mehr Arbeiten hat Waits fürs Theater produziert: FRANKS WILD YEARS (1987, ★★★★★★) wird als letzter Teil einer Trilogie gesehen, zu der auch SWORDFISHTROMBONES und RAIN DOGS zählen. Als eigenständige Sammlung großartiger Songs hat die Platte das Theaterstück längst überdauert. Selbiges kann man von THE BLACK RIDER (1993, ★★) nicht behaupten. Die Zusammenarbeit mit Beat-Poet WILLIAM S. BURROUGHS und Regie-Legende ROBERT WILSON mag auf der Bühne mitreißend gewesen sein, der Soundtrack bietet eher belanglose Begleitmusik.

Mit Wilson hat Waits öfter zusammengearbeitet: BLOOD MONEY (2002, ★★★★) ist eine furiose Interpretation von Georg Büchners WOYZECK, ALICE (2002, ★★★★★★) eine düstere Deutung der sexuellen Abgründe von ALICE IM WUNDERLAND-Autor LEWIS CARROLL.

ANFANG UND ENDE

Ein guter Song funktioniert auch, wenn man ihn auf der Akustikgitarre spielt. Dass Waits‘ Kompositionen diesen Test bestehen, belegen THE EARLY YEARS VOL. 1 (1991) und VOL. 2 (1992, beide ★★★★). Neben Unveröffentlichtem wie BLUE SKIES und I WANT YOU verzücken hier die Stücke der ersten beiden Alben in ihren Ur-Formen.

Am anderen Ende der Skala steht die 3-CD-Compilation ORPHANS: BRAWLERS, BAWLERS & BASTARDS (2006, ★★★★★★), die mit der Wucht eines ganzen kreativen Lebens im Rücken daherkommt: 30 bis dahin unveröffentlichte Songs sowie 26 Arbeiten für diverse Projekte finden sich hier, darunter Rezitationen von CHARLES BUKOWSKI und JACK KEROUAC, DANIEL JOHNSTONS KING KONG und zwei Covers der RAMONES. Seitdem hat Waits nur noch ein Album veröffentlicht. Nach ORPHANS schien alles gesagt zu sein.

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