Rückblick: So kam MEMENTO MORI von Depeche Mode zustande
Gerüchte, Fake News und ein Todesfall – das Protokoll von André Boße aus dem MUSIKEXPRESS 12/22.

Böse Zungen behaupteten damals: Die Geschehnisse rund um das 15. Album von Depeche Mode seien aufregender als die Musik, die es bieten würde. Wir haben das nicht geglaubt und uns daher auf die Spuren zu MEMENTO MORI gemacht. Unsere Erkenntnisse in acht Schritten erschienen im MUSIKEXPRESS 12/2022.
Juli 2018: Das Ende der SPIRITS-Tour – und der Anfang von MEMENTO MORI
Was im Mai 2017 in Stockholm begann – zwei Wochen nach Veröffentlichung des Albums Spirits – findet weit mehr als ein Jahr später auf der Berliner Waldbühne sein Ende: Ewig sind Depeche Mode mit den Songs des bei den Fans so mittelbeliebten aktuellen Albums auf Tour, dazu natürlich auch mit den ganzen Hits. Es ist eine gigantische Unternehmung, was Länge und Logistik betrifft. Seit 1993, seit Songs of Faith & Devotion also, fahren Depeche Mode einen erstaunlich disziplinierten Vierjahresrhythmus: Alle vier Jahre eine neue Platte – diese Taktung wird dem Tanker, den diese Band darstellt, gerecht. Demnach hätte es 2021 wieder ein neues Album geben müssen. Aber 2020 tut sich zunächst gar nichts – außer, dass das Coronavirus die Welt für Monate aus den Angeln hebt.
Nicht einmal Dave Gahans Drogensucht, Sekundentod inklusive, oder seine Krebserkrankung konnten den Vierjahresrhythmus von Depeche Mode gefährden. Dass dieser nun gesprengt wird: Liegt’s an Covid-19 oder daran, dass die Band nicht mehr kann, nicht mehr will?
November 2020: Die „Rock and Roll Hall of Fame“
Als Engländer können Gahan, Gore und Fletcher einschätzen, dass die Aufnahme ihrer Band in diesen willkürlichen Kanon der größten Rockgruppen aller Zeiten ziemlicher Quark ist. Besonders Martin Gore lebt aber auch lange genug in den USA, um zu erkennen, wie bedeutsam die Ruhmeshalle hier eingeschätzt wird. Weil die Pandemie tobt, lassen sich die drei per Video zur Zeremonie dazuschalten. Sie geben sich bestens gelaunt. Die besten Witze macht Fletcher, er hat auch den Hall-of-Fame-Award in seinem Apartment stehen und winkt damit in die Kamera, ein Viertel stolz, drei Viertel belustigt.
Depeche Mode erwecken bei dieser Zeremonie nicht den Eindruck einer Band auf der Kippe, sondern als Gruppe, die gerade an innerer Dynamik gewinnt.
Januar 2021: Die Solo-EP von Martin Gore
Gore entwickelt die Tracks für seine Solo-EP THE THIRD CHIMPANZEE, die im Januar 2021 erscheint, in seinem Heimstudio in Kalifornien. Auf die Frage, ob diese Solo-Arbeit im Studio mehr oder weniger intensiv ist als die Produktionsprozesse mit der Band, sagt er im Interview:
„Mehr, weil ich als Solokünstler nichts abgeben will. Bei Depeche Mode gibt es jeweils Produzenten, die viel Arbeit übernehmen. […] Sie sind es dann auch, die uns sagen: Das Stück ist nun fertig. Dann hören wir uns das an – und stimmen häufig zu. Das ist bei den Solo-Stücken anders, da muss ich selbst den Schlusspunkt setzen, was nicht einfach ist bei elektronischer Musik, die ja immer weiterwachsen kann.“
Da auch die Aufnahmen zu MEMENTO MORI zu einem großen Teil in Martin Gores Heimstudio stattgefunden haben, liegt die Vermutung nahe, dass er Freude an dieser direkteren Arbeit gefunden hat.
November 2021: Das Soloalbum von Dave Gahan
Die Songs von Imposter, aufgenommen mit Rich Machin und Ian Glover a.k.a. Soulsavers, entstehen bereits vor der Pandemie, veröffentlicht wird die Platte aus Coverversionen aber erst im Spätherbst 2021. Gahan konzipiert eine Revue aus Songs, die sein Leben bestimmt haben. Im Interview erzählt er aber auch, wie das Arbeiten an neuen Stücken bei Depeche Mode läuft:
„Wenn Martin einen Song schreibt, dann gibt er ihn als Demo an mich, und es vergehen Monate, bis wir ins Studio gehen. Bis dahin studiere ich den Song, adaptiere ihn und singe ihn am Ende des Prozesses so, als wäre es mein Song.“
Die Art, wie Dave Gahan den Prozess des Singens von neuen Depeche-Mode-Songs im Herbst 2021 kurz vor der Veröffentlichung seiner schon länger fertigen Soloplatte erzählt, lässt den Schluss zu: Genau das passiert gerade.
26. Mai 2022: Andrew Fletcher stirbt
Die Nachricht kommt unvermittelt: Fletch ist tot. Damit ein Popstar der 80er-Jahre, jemand, den man eigentlich nur jung in Erinnerung hat – so jung, wie man sich selbst gern in Erinnerung hätte. Andy Fletcher war ohne Frage der Akteur im Hintergrund. In den Trauerstücken, die frisch geschrieben werden mussten, weil keine Redaktion Fletch auf der Nachrede-Halde hatte, hieß es, ohne ihn hätte diese Band nicht so lange existieren können. Wenn der stille Fletch so wichtig war – dann ist es doch mehr als fraglich, dass es Depeche Mode ohne ihn geben wird.
15. August 2022: Ein Foto aus dem Studio
Der Tweet zum Bild: „Stabilität finden in dem, was wir können und lieben, fokussieren auf das, was unserem Leben Sinn und Bedeutung gibt.“
Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass Depeche Mode an einem neuen Album arbeiten. Andererseits ist auch möglich, dass sich die beiden treffen, um gemeinsam eine Box des musikalischen Erbes zusammenzustellen. Denn geht das, nur wenige Monate nach dem überraschenden Tod, einfach weiterzumachen?
19. September 2022: Eine Nachricht macht die Runde
Aus einem leichten Flüstern wird recht bald ein Sturm: Depeche Mode wollen Anfang Oktober ein neues Album und eine neue Tour ankündigen, im Rahmen einer Pressekonferenz in Berlin. Depeche Mode geben dem Pop seine Bedeutung zurück, mitten im Kriegsgewirr, in der Energiekrise. Doch dann meldet auch der Musikexpress: „Nun ist klar. Alles nur fake!“
Hintergrund der Meldung: Gore und Gahan hätten einem Mittelsmann bestätigt, die Nachricht von der Pressekonferenz nicht selbst herausgegeben zu haben. Woraufhin in einigen Medien – und eben auch auf musikexpress.de – die Feststellung folgt, die Ankündigung sei falsch. Fake News im Pop – wie aufregend!
4. Oktober 2022: Die Ankündigung
Fotos zeigen, dass Martin Gore und Dave Gahan nach Europa aufbrechen, Ziel: Berlin. Dort sind Journalist*innen und Musik-Business-Leute ins Berliner Ensemble gekommen, um zu bezeugen, dass es eben doch ein neues Album geben wird, dazu eine weitere ewige Tour – der Tanker bewegt sich.
Was bei Gesprächen mit Gore und Gahan im Umfeld der Pressekonferenz klar wird: MEMENTO MORI wird wieder von James Ford produziert, der diesen Job auch bei Spirits übernommen hat – also nicht von Gore, wenn auch zu Teilen in Gores Studio. Und auch nicht von Rick Rubin, wenn auch zu Teilen in Rubins Studio.
In einem ersten, kurzen Promofilm zu Tour und Platte klingen zwei Songs an, beide eher synthie-poppig als rockig. Einer von ihnen heiße „Ghosts Again“, verrät Gore, sei „klassisch Depeche Mode“ und könnte die erste Single werden.
MEMENTO MORI – gedenke, dass du sterblich bist: Den Titel hatte das Projekt schon, bevor Fletch verstarb. Er selbst soll sich für ihn starkgemacht haben. Tourstart ist am 23. März in Kalifornien – was eine Albumveröffentlichung Anfang März erwarten lässt.
Und in der Tat: Am 24. März 2023 war es schließlich soweit – MEMENTO MORI wurde auf die Welt losgelassen. Wenige Tage zuvor war es aber sogar schon im Netz geleakt.