Neue Serie ME-Helden: The Doors
In unserer neuen Serie "ME-Helden" stellen wir Musiker vor, die uns inspiriert haben, die heute noch so wichtig sind wie einst. Den Auftakt bildet Jim Morrison, Sänger von The Doors. Von Arno Frank.
Wir haben eine neue Serie: ME-Helden. Wir stellen Musiker vor, die uns inspiriert haben, die heute noch so wichtig sind wie einst. Den Auftakt bildet Jim Morrison, Sänger von The Doors. Arno Frank erzählt seine Geschichte.
James Douglas Morrison ist ein toter Mann. Nach allem, was wir wissen und worauf wir uns geeinigt haben, nach allen mit extremer Vorsicht zu genießenden Erkenntnissen stirbt er irgendwann zwischen drei und fünf Uhr am Morgen des 3. Juli 1971 in der Badewanne seines Pariser Apartments im dritten Stock in der Rue Beautreillis 17, die er zusammen mit seiner heroinsüchtigen Freundin Pamela Courson bewohnt. Im Kino hatten sie sich zuvor einen alten Western mit Robert Mitchum angeschaut. Danach erledigt das Paar zu Hause den Abwasch und schnupft Heroin, wie üblich. Laut Courson hört Morrison danach bis spät in die Nacht hinein Musik, von den Doors, jeden einzelnen Song, sogar „The End“. Schon seit Tagen plagt ihn ein beharrlicher Schluckauf, und die Sache war immer schlimmer geworden. Nachts wacht er wegen akuter Atemprobleme auf, würgend, hustend. Courson verfrachtet ihn für eine kalte Dusche umgehend in die Badewanne. Der 27-Jährige kotzt auf die Fliesen, spuckt Blut. Er fühle sich „bizarr“, soll er gesagt und seine Freundin ins Bett zurückgeschickt haben, alles sei okay, er selbst wolle noch ein warmes Bad nehmen. Keine gute Idee während einer akuten Hämoptyse, wie der medizinische Fachbegriff für Lungenblutung lautet.
Als Courson wieder aufwacht, findet sie ihren Freund bereits leblos in der Wanne, mit dem Kopf auf dem Rand, einem leichten Lächeln auf den Lippen. Courson gelingt es nicht, Morrisons massigen Körper aus der Wanne zu hieven. In Panik ruft sie ausgerechnet ihren Ex-Freund und Dealer an, den Adeligen Jean de Breteuil, der gerade mit Marianne Faithfull im Bett liegt.
In ihrer Autobiografie schildert Faithfull ihren damaligen Freund rückblickend als „schrecklichen Typen, jemand, der unter einem Stein hervorgekrochen ist. Irgendwie bin ich an ihn geraten, es ging nur um Drogen und Sex. Wir waren im Hotel, als er von Pamela angerufen wurde und schnell weg musste. ‚Jean, ich möchte mitkommen‘, sagte ich. ‚Ich will Jim Morrison treffen.‘ – ‚Das geht nicht. Ich werde in ein paar Stunden zurück sein.‘ – ‚Bitte, Jean, bitte?‘ – ,Nicht jetzt. Ich erklär’s dir später, okay?‘ Er stürmte aus dem Zimmer. In den frühen Morgenstunden kam er ziemlich aufgebracht zurück und weckte mich auf (…) Dann schlug er mich zusammen, ohne einen besonderen Grund. Ich zündete mir danach eine Zigarette an und fragte: ‚Und? Hattest du eine gute Zeit da drüben? Willst du mir nicht sagen, warum du in so guter Stimmung bist?‘ – ‚Pack deine Sachen!‘ – ‚Warum? Wo gehen wir hin?‘ – ‚Marokko.‘ – „Sehr lustig. Wir sind doch gerade erst angekommen.‘ – ‚Ich will, dass du meine Mutter kennenlernst. Beeile dich!‘ – ‚Oh-oh … was ist da drüben passiert?‘ – ‚Halt die Klappe!‘ – „Oh, Scheiße!‘ – ‚Ja, es ist beschissen.‘ Er hatte Angst um sein Leben; Jim Morrison war tot und Jean hatte den Stoff geliefert, der ihn getötet hatte.
Unterdessen telefoniert Courson mit Morrisons alten Freunden, den Filmemachern Alain Ronay und Agnès Varda: „Jim ist bewusstlos, und er blutet. Kannst du für mich einen Krankenwagen rufen? Du weißt, dass ich kein Französisch kann. Bitte beeile dich. Ich glaube, er könnte sterben.“ Als um 9.24 Uhr endlich der Rettungsdienst der Pariser Feuerwehr alarmiert wird, hat Courson bereits alle Drogen das Klo heruntergespült. Der zuständige Arzt kann nur noch den Tod durch „Herzversagen“ feststellen. Eine Autopsie findet nicht statt.
Der 3. Juli ist ein schwülwarmer Samstag in der französischen Hauptstadt, von Westen rollen Gewitter heran, als die Leiche von Jim Morrison noch in seiner Wohnung übers Wochenende auf Trockeneis und danach in einen versiegelten Sarg gelegt wird. Courson hält unterdessen Totenwache und bereitet ihre Rückkehr in die Vereinigten Staaten vor. Dabei stößt sie in Morrisons Notizbuch auf dessen letzten Eintrag: „Lass den aufgeklärten Verstand in unserem Kielwasser zurück / Du wirst Christus sein auf dieser Pauschalreise / Geld schlägt die Seele / Letzte Worte, letzte Worte / Aus.“
Begraben wird Jim Morrison am 7. Juli 1971 auf dem Friedhof Père Lachaise. An der Beerdigung nehmen nur Pamela Courson, der eben aus Toronto eingeflogene Doors-Manager Bill Siddons, Alain Ronay, Agnès Varda und Morrisons Sekretärin Robin Wertle teil. Ronay, mit dem Morrison in den Wochen vor seinem Tod lange durch Paris flaniert ist, hat sich um die letzte Ruhestätte gekümmert. In seinen Erinnerungen schreibt Ronay: „Monsieur Guizard, der Eigentümer, kümmerte sich mit hochprofessioneller Expertise um die Formalitäten (…). Damit ich einen Standort für das Grab bestimmen konnte, legte er mir eine Karte des Friedhofs vor. ‚Jeder möchte auf dem Père Lachaise begraben werden. Es ist kaum mehr Platz übrig. Was war Ihr Freund? Ein Schriftsteller, oder?‘ – ‚Ja, genau, er war ein Poet.‘ – ‚Ah, wenn das so ist, dann haben wir Glück. Ob Sie’s glauben oder nicht, in Abschnitt 89 ist noch etwas frei, nahe bei einem anderen berühmten Schriftsteller. Sein Name ist Oscar Wilde. Kennen Sie ihn?‘ –‚Nein, ich bitte Sie! Nicht neben Monsieur Wilde. Gibt es nicht noch einen anderen Platz?‘ – ‚Hier. Aber das ist kein wirklich attraktiver Ort.‘ (…)“
So kam es, dass Jim Morrison mitsamt seiner Dämonen in Abschnitt 6, Reihe 2 und Grab 5 das fand, was man seine „letzte Ruhe“ nennen könnte.
Aber natürlich ist die Geschichte des Jim Morrison damit nicht zu Ende. Sie fängt erst an. So machte er im Tod den makabren „Klub 27“ komplett, gemäß eines modernen Mythos, nach dem die wichtigsten Musiker mit 27 Jahren sterben. Jimi Hendrix – betrunken an seinem Erbrochenen erstickt – Janis Joplin an einer Überdosis Heroin eingegangen – und Jim Morrison? Folgte den beiden anderen Ikonen auf dem steilen Pfad zur frühen Unsterblichkeit. Eine Unsterblichkeit, die von schlichteren Gemütern gerne falsch verstanden wird, weshalb es immer wieder Jim-Morrison-Sichtungen gibt, so wie immer mal wieder jemand Elvis gesehen haben will. Morrison habe sein Ableben nur inszeniert, um ungestört auf einer einsamen Insel leben und schreiben zu können.
Neulich befeuerte ausgerechnet Ray Manzarek, Organist der Doors, in der britischen Zeitung „Daily Mail“ mit launigen Anekdoten die Gerüchte um ein obskures zweites Leben des Jim Morrison: „Ich frage mich oft, ob sein Tod nicht eine ausgeklügelte Scharade war“, sagte Manzarek, „Jim war eine rastlose Seele, immer auf der Suche nach etwas Neuem im Leben, und selbst sechs Jahre voller Erfolg – und Exzesse – mit den Doors waren ihm nicht genug. Ein Jahr zuvor zeigte er mir Broschüren für die Seychellen und fragte: ‚Wäre das nicht der perfekte Fluchtort, wenn alle denken, du wärst tot?‘“
Dabei gehört die Vorstellung, Morrison lebe als etwas korpulenter Eremit mit Stirnglatze, weißem Bart und Bierbauch in einer Strohhütte in einer einsamen Bucht auf einer abgelegenen Insel im Indischen Ozean noch zu den harmloseren Verschwörungstheorien. Im US-Bundesstaat Ohio lebt ein Mensch davon, als angeblicher Agent „Interviews“ mit Jim Morrison zu vermitteln, der angeblich auf seiner Farm lebe, Pferde züchte und – außer seinem „Agenten“ – keinen Menschen mehr sehen wolle. Unter jenen, die seinen Tod akzeptieren, kursieren allerdings ähnlich krude Gerüchte. Mal heißt es, die CIA habe ihn auf dem Gewissen, mal der französische Geheimdienst. Zuletzt verbreitete der frühere Clubbesitzer und Radiomoderator Sam Bernett in seinem Buch „The End: Jim Morrison“ die Variante, der Star sei nicht in der Badewanne, sondern auf dem Klo gestorben. Demnach habe Morrison schon zwei Tage vor seinem offiziellen Todesdatum auf der Toilette von Bernetts Pariser Disko „Rock’n’Roll Circus“ eine Überdosis genommen: „Der hübsche Junge aus Kalifornien lag wie ein bewegungsloser Brocken zusammengekrümmt auf dem Klo, er war tot.“ Drogendealer, darunter Jean de Breteuil, hätten den leblosen Körper dann in dessen Wohnung platziert. Marianne Faithfull sei natürlich auch dabeigewesen, was Marianne Faithfull freilich bestreitet.
Gesicherter als die Umstände seines Todes sind da schon die Erkenntnisse über sein Leben. Jim Morrison hat eine weitgehend wurzelfreie, weil nomadische Jugend verbracht. Die Familie zog stets dem Vater hinterher, dem Offizier und späteren Admiral George Stephen Morrison. Ein interessanter Typ, den sich näher anschauen sollte, wer Jim Morrison verstehen will. Als Fähnrich erlebte der Vater den japanischen Überfall auf den US-Kriegshafen Pearl Harbour in Hawaii, später flog er Kampfeinsätze. Ab 1963 kommandierte er einen Flugzeugträger und ab 1964 die amerikanische Pazifikflotte.
Es ist zunächst einmal die ganz klassische Konfliktlinie zwischen einem disziplinversessenen, strengen und staatstragenden Vater auf der einen und einem weichen, musisch begabten Sohn auf der anderen Seite. Ausgetragen wurde dieser Konflikt mit Worten. Jim interessiert sich nicht für Bruttoregistertonnen, sondern für Poesie. Mit zwölf Jahren führte er bereits ein Tagebuch, bald verschlang er Jack Kerouacs Schlüsselroman der Beat-Generation, „Unterwegs“, und Allen Ginsbergs nicht minder epochales Gedicht „Das Geheul“. Trivialer Schund im Vergleich zur Literatur, die er als Jugendlicher studierte: Honoré de Balzac, Charles Baudelaire (mit seinen fiebrigen „Blumen des Bösen“), Céline oder James Joyce, dessen „Ulysses“ er nach Einschätzung seines Englischlehrers „als einziger Schüler nicht nur gelesen, sondern auch verstanden hatte“. Mit den psychoanalytischen Theorien von Sigmund Freud und Carl Gustav Jung machte er sich ebenso vertraut wie mit den Grundlagen des antiken Theaters. Der junge Morrison muss Sprache nicht nur als Instrument zur Weltdeutung, sondern auch als wirksames Werkzeug zur Schaffung einer eigenen, besseren Welt erlebt haben. Zwei Bücher sollten dabei einen bleibenden Eindruck hinterlassen: Friedrich Nietzsches Frühwerk „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ und eine Biografie des Lebens von Alexander dem Großen von Plutarch.
Ab 1964 studierte er an der Universität von Kalifornien in Los Angeles beim legendären Regisseur Josef von Sternberg („Der blaue Engel“) Film- und Theaterwissenschaft. Nebenbei verfasste er Gedichte und Songtexte, einer seiner Studienkollegen war ein gewisser Francis Ford Coppola. Seine filmischen Versuche freilich waren nicht sehr vielversprechend. Ein Fragebogen, den er zu jener Zeit ausfüllte, erzählt von einem ernsten, aber nicht ungewöhnlichen jungen Mann. Lieblingsschauspieler: Jack Palance. Lieblingsfernsehsendung: Nachrichten. Lieblingsfarbe: Türkis. Worauf ich bei Frauen achte: Haare, Augen, Stimme, Gang. Was würdest du beim ersten Date machen? Reden. Pläne/Ambitionen: Filme drehen.
Als sich sein Vater brieflich über die Berufswahl seines Sohnes beschwerte, brach Jim Morrison den Kontakt zu seiner Familie ab. In Venice Beach, so will es die Legende, trat Morrison spaßeshalber mit Rick and The Ravens auf, der Band des Keyboarders Ray Manzarek. Später gesellten sich Robby Krieger (Gitarre) und John Densmore (Schlagzeug) hinzu, und bald wurde die Band auf Anregung Morrisons umbenannt in The Doors, angelehnt an ein Zitat aus Aldous Huxleys Drogen-Essay „Die Pforten der Wahrnehmung“. Die Grundthese des Büchleins griff eine Theorie des französischen Philosophen Henri Bergson auf, nach der das Gehirn vor allem eliminierend arbeitet, uns also als eine Art Filter vor der Flut universeller Erkenntnis schützt. Huxley machte, nach Experimenten mit Peyote, Meskalin und LSD, auf die Möglichkeit aufmerksam, dass das Bewusstsein „erweitert“ werden könne. Eine Botschaft, die nicht nur bei der Hippie-Bewegung auf sehr fruchtbaren Boden fallen sollte. Bei einem der ersten Konzerte in Clubs wie „London Fog“ oder dem berühmten „Whisky A-Go-Go“ lernte er die Modemacherin Pamela Courson kennen.
Den Jim Morrison jener Tage müssen wir uns als einen vollkommen ironiefreien Menschen vorstellen. Zumindest seine Selbsterfindung verfolgt er mit einem glühenden Ernst, der die Aufbruchsstimmung seiner Ära widerspiegelt. In „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ erklärt Nietzsche zwei griechische Götter zu den entscheidenden Polen des Lebens: Hier der rauschhafte, urwüchsige und zügellose Urwille, verkörpert in Dionysos; da die gestaltende, harmonische, ebenmäßige Kraft, verkörpert in Apoll. Laut Nietzsche existiert der Mensch im Spannungsfeld zwischen dem Dionysischen und dem Apollinischen. Das Motto „Sex, Drugs und Rock’n’Roll“ war in den Sechzigerjahren nicht nur das Credo der noch jungen Rockmusik, es war im Wesentlichen eben auch dionysisch. Jim Morrison, äußerlich von durchaus apollinischer Schönheit, muss Nietzsches Worte über das Dionysische wie eine direkte Regieanweisung gelesen haben, als eine Blaupause für sein künstlerisches Dasein, als eine Blaupause für jenen Urtyp des ersten, echten Rockstars.
Diese Kunstwerkwerdung gehört, siehe Lady Gaga, heute zum oberflächlichen Grundwortschatz des Pop – Jim Morrison hat sie als einer der ersten Künstler ernsthaft betrieben. Das Düstere, Abgründige dabei muss den Hippies entgangen sein, die in ihm einen ihrer Säulenheiligen erkennen wollten. So manisch Morrison seine Selbsterfindung betrieb, so zielgerichtet ging er dabei zu Werke. Es ist viel geschrieben worden über eine legendäre Fotoserie, in der Morrison frappierend den Abbildungen glich, die es auf Münzen oder als Statuen vom makedonischen Feldherrn Alexander dem Großen gibt. Dieser soll an der Ermordung seines Vaters beteiligt gewesen sein und seine Mutter begehrt haben. Er eroberte Griechenland und den Nahen Osten, marschierte in Ägypten ein, unterwarf Persien und unternahm Expeditionen bis nach Afghanistan und Indien, bevor er – viel zu jung und wahrscheinlich nach einem exzessiven Besäufnis – in Babylon starb. Morrison kannte die Abbildungen von Alexander, und für die Fotos ließ er sich eigens die Haare so ondulieren, wie Alexander sie trug. Ironischerweise drehte der Regisseur Oliver Stone nicht nur „The Doors“ mit Val Kilmer in der Hauptrolle, sondern einige Jahre später auch „Alexander der Große“ – mit Val Kilmer als dessen Vater Philipp.
Neben seiner bewusst erotischen Inszenierung als junger griechischer Halbgott bemühte sich Morrison aber auch auf sprichwörtlich geistiger Ebene um Glaubwürdigkeit. So schlüpfte er auf Konzerten in die Rolle des Schamanen, der im primitiven Tanz einen Kontakt zur Welt der Geister und Dämonen herstellen kann. Nun ist der Schamane, wie Morrison zweifelsohne wusste, in primitiven Kulturen eine Art Proto-Priester, der initiiert werden muss. Sein eigenes Initiationserlebnis sei es gewesen, im Alter von vier Jahren zum Zeugen eines blutigen Verkehrsunfalls geworden zu sein, bei dem, irgendwo zwischen Albuquerque und Santa Fe, ein
Lastwagen voller Indianer sich überschlagen hatte, die nun sterbend auf der Straße lagen. Er selbst schilderte das traumatische Erlebnis so: „Das Auto bremste ab und stoppte. Das war das erste Mal, dass ich Angst verspürte. Ich muss so um die vier Jahre alt gewesen sein – Mann, wie ein Kind, das wie eine Blume ist und seinen Kopf in einer Brise wiegt. Die Folge davon ist, dass ich heute zurückblicke und überlege – das sind die Seelen der Geister dieser toten Indianer … vielleicht einer oder zwei von ihnen … die damals ausgeflippt herumrannten und in meine Seele sprangen. Und dort sind sie noch immer.“
Zwar widersprach Morrisons Familie dieser Darstellung des Vorfalls. Frühkindliche Erinnerungen aber haben eine eigene Dynamik. Die Geschichte erinnert in ihrer emotionalen Wucht an den legendären Mythos von Ur-Blueser Robert Johnson, der an einer Kreuzung in Coahoma County seine Seele an den Teufel verkauft haben soll. Morrison jedenfalls überließ auch hier nichts dem Zufall.
Seinen legendären Bühnen-Look hatte er sich vom Hollywood-Stylisten Jay Sebring entwerfen lassen, der übrigens später beim Massaker in Sharon Tates Villa erstochen wurde: Ein unschuldig weißes Hemd, eine verrucht enge Lederhose – und ein sogenannter Navajo-Gürtel mit metallenen Conchos, wie ihn auch die Ureinwohner trugen. Dieser Wildheit suggerierende Rocker-Look prägt das Image von Jim Morrison noch heute, abgedruckt auf Millionen von T-Shirts, Tassen und Postern, romantisch und rebellisch, bis in den Tod und darüber hinaus.
Dies alles floss ein in die Performance der Doors, mit denen es unterdessen steil aufwärts ging. Ihr Debüt (The Doors, 1967) mit der Single „Light My Fire“ erregte so viel Aufmerksamkeit, dass es für den Nachfolger (Strange Days, 1967) bereits 500.000 Vorbestellungen gab. Ihre TV-Auftritte gestalteten sich skandalös genug. In der Ed-Sullivan-Show sang Morrison das Wort „higher“, um ein Publikum hellhörig zu machen, das genau auf eine solche Band gewartet hatte. Im Prinzip lieferten die Doors einen handelsüblichen, aber flexiblen Bluesrock, mal wuchtig, mal verspielt. Sie hatten ein Händchen für Pop, entwickelten aber vor allem dann einen fast beängstigenden Sog, wenn sie ihren psychedelischen Neigungen nachgaben. Dazu kamen die Texte eines Sängers, der sich als Dichter sah und tiefer gründeln wollte, als es damals üblich war. Eben erst hatte Bob Dylan die Lyrics als Kunstform quasi erfunden, da führte Morrison so unterhaltsame Themen wie den Ödipuskomplex in die Rockmusik ein: „Father! Yes, son? I want to kill you! Mother, I want to …“ sang er in „The End“, und solches hätte heute noch kein geringes Skandalpotenzial. Schließlich war da der Sänger selbst, mit einem Bariton wie ein Bärenfell, rau, aber warm. Frauen wollten ihn, und Männer wollten sein wie er. Die dicken schwarzen, langen Haare, die weiße Haut, die blaugrauen Augen, die hohlen Wangen, die spöttischen Lippen. Diese sinnlichen, sarkastischen Texte, die sich so lasen und anhörten, wie James Dean aussah. In Vietnam tobte der Krieg, in Ohio wurden demonstrierende Studenten von der Nationalgarde erschossen, und die Doors lieferten den düsteren Soundtrack zu dieser düsteren Zeit. Sie entführten ihr stetig wachsendes Publikum nicht nach Happy-Hippie-Land, sondern in die feuchten Verliese des Unterbewussten, des Begehrens und des Verfalls. Über seinen eigenen Tod sagte der zeitlebens vom Sterben Besessene damals: „Ich möchte wissen, wie es sich anfühlt. Ich möchte es schmecken, hören, riechen. Der Tod ist etwas, das dir nur ein einziges Mal zustößt. Ich möchte es nicht verpassen.“
Spätestens mit Waiting For The Sun hatte Jim Morrison den Schauspieler Marlon Brando als Sexsymbol seiner Generation abgelöst. Und trotzdem liefen die Dinge ab hier aus dem Ruder. Ein Problem könnte nun gewesen sein, dass Morrison lieber als Arthur Rimbaud des 20. Jahrhunderts wahrgenommen worden wäre. Er zog endlich die schreckliche Lederhose aus, ließ sich einen Bart wachsen, ließ seinen Alkoholproblemen freien Lauf und legte daher deutlich an Gewicht zu. Sein – wie immer – ernsthafter Versuch, als ernst zu nehmender Lyriker wahrgenommen zu werden, scheiterte an der Sachlichkeit der Literaturkritik, die ihm gerade mal „ein gewisses Talent“ zugestehen mochte. Und er scheiterte fatal bei einer Lesung im Fernsehen, die als Fiasko endete. Ihm fehle die „notwendige Sicherheit“ der Musik, erklärte er noch, bevor er aus dem Studio schlich. Seinen Gedichtband „An American Prayer“ verlegte er schließlich selbst und verschenkte ihn an Freunde.
Dieser misslungene Flirt mit dem Establishment trieb ihn endgültig in die Arme der Gegenkultur. Als dessen Ikone tat er nun alles, um das Establishment zu brüskieren: „Ich bin an allem interessiert, was mit Revolte, Ungehorsam und Chaos zu tun hat – speziell an Aktivitäten, die keinen Sinn zu ergeben scheinen. Ich glaube, das ist der einzige Weg zur Freiheit. Statt im Inneren anzufangen, fange ich im Äußeren an und erreiche das Geistige durch das Physische.“
Am 9. Dezember 1967 nutzte er bei einem Konzert in New Haven erstmals sein Charisma und seine Physis, um das ohnehin aufgekratzte Publikum zu Ausschreitungen zu animieren. Die Menge demolierte die Halle und machte anschließend auf der Straße weiter. Es war Punk, bevor es Punk gab, und Morrison ging in die Geschichte ein als erster Rockstar, der jemals von der Bühne weg verhaftet wurde. Während sich ein Elvis durch sein Eintreten in die Armee mit den Autoritäten arrangierte, gab Morrison den umgekehrten „agent provocateur“ und „geistigen Brandstifter“, der den schwelenden Studentenunruhen immer wieder neue Nahrung gab. Oder, wie er es ausdrückte: „Wenn du deinen Frieden mit Autoritäten machst, wirst du selbst autoritär.“ Das FBI verstand und legte eine erste Akte an, die sich rasch füllte. Immer wieder kam es nun bei Konzerten der Doors zu Tumulten und Zusammenstößen mit der Polizei. Am 1. Mai 1969 kulminierte der Konflikt im berühmten „Miami-Vorfall“.
An diesem Tag stand Morrison noch unter dem Eindruck eines experimentellen, anarchischen Theaterstücks, als er – mit einer Stunde Verspätung und betrunken – in dem zur Konzerthalle umfunktionierten Flugzeughangar eintraf. In der Halle, ausgelegt auf eine viel kleinere Menge, drängten sich 12.000 Besucher, die Stimmung war aufgeheizt und, wie sich Doors-Manager Siddons erinnerte, „bizarr und zirkusartig“. Morrison schwankte zwischen derber Publikumsbeschimpfung („Ihr seid ein Haufen verdammter Idioten! Was wollt ihr dagegen tun?“) und dem aggressiven Einfordern von Zuneigung („Ich will Liebe! Will nicht jemand meinen Arsch lieben?“) Als er mit Champagner besprüht wurde, streifte er mit den Worten „Lasst uns ein wenig Haut sehen, wir wollen uns ausziehen“ sein Hemd aus, und das Publikum tat es ihm gleich. Genau das war es, was Nietzsche damit meinte, als er forderte, in der Musik müsse „Nieempfundenes sich zur Äußerung“ drängen. Vier Tage später flatterte ein Haftbefehl für Morrisons „Äußerung“ ins Haus: Morrison habe Obszönitäten geschrien und Oralsex simuliert. Außerdem soll er auf der Bühne seinen Penis herausgeholt haben. Zwar sollte sich herausstellen, dass alle Zeugen für die angebliche öffentliche Masturbation irgendwie mit dem zuständigen Sheriff verbandelt waren. Trotzdem wurde der Rocker zu 500 Dollar Strafe verurteilt – und zu sechs Monaten Gefängnis ohne Bewährung. Morrison blieb nur deshalb auf freiem Fuß, weil seine Anwälte das Urteil anfochten – und er starb, bevor der Fall endgültig abgeschlossen werden konnte.
Auch für seine Kollegen wurde Morrison immer unberechenbarer. „Der Suff“, sagte er einmal, „ist eine gute Verkleidung. Ich trinke, damit ich mich mit Arschlöchern unterhalten kann, mich selbst eingeschlossen.“ Immer häufiger konnte er seine Texte nur noch lallen. Immer häufiger übernahm sogar Robby Krieger die Aufgabe, Texte für die Musik zu schreiben, während Morrison lieber über die Zukunft der Musik nachdachte. 1970 machte er in einer Fernsehsendung eine interessante Prophezeiung: „Ich stelle mir eine Person vor, die von Maschinen, Tonbändern und elektronischen Hilfsmitteln umgeben ist und singt oder spricht.“
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Morrison glaubte, diese Zukunft sei für ihn nun angebrochen. Mit dem Erscheinen von L.A. Woman im April 1971 hatten die Doors ihre Verpflichtungen bei der Plattenfirma erfüllt, ein neuer Vertrag war noch nicht ausgehandelt – Jim Morrison war frei. Er nutzte die Auszeit, um zu seiner Freundin nach Paris zu fliegen. Das Paar unternahm lange Reisen nach Korsika und Nordafrika, Morrison selbst schmiedete Pläne für eine ausgedehnte Indien-Reise, bei der er der Route Alexanders des Großen folgen wollte. Ansonsten streifte er mit seiner Kamera, seinem Notizbuch und Manuskripten in einer Plastiktüte durch die französische Hauptstadt, ganz der romantische „Amerikaner in Paris“.
Was jedoch wäre passiert, wenn dieser Amerikaner einfach so eingeschlafen wäre, nüchtern womöglich, in dieser Nacht am 3. Juli vor 40 Jahren? Was, wenn Morrison seiner Dämonen doch noch Herr geworden wäre? Antworten mögen müßig sein, aber reizvoll. Wäre er einen Monat später bei George Harrisons „Concert for Bangladesh“ aufgetreten? Hätte er vielleicht anstelle von Roy Harper als Gastsänger für die von ihm verehrten Pink Floyd den Song „Have A Cigar“ eingesungen? Womöglich wäre er danach alleine oder zusammen mit Laurie Anderson auf Tour gegangen, umgeben nur von „Maschinen, Tonbändern, elektronischen Hilfsmitteln“ und seinen Gedichten. Vielleicht hätte es ihn auch nach Las Vegas verschlagen, wie sein Vorbild Frank Sinatra. Punk hätte ihm, dem Proto-Punk, gefallen, und der Grunge hätte ihn auf einen ähnlichen Thron gehoben wie den anderen „echten Rocker“ und Späthippie, Neil Young. Und nach der Jahrtausendwende könnte ein Rick Rubin ihn noch einmal ins Studio gelockt haben, um seine alten Hits neu einzuspielen, ganz cool und reduziert. Vielleicht, womöglich, eventuell – was bleibt, ist der übermenschlich große Schatten des ultimativen Rockstars. Und ein mickriges, aber magisches Grab auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris.
Das Grab wirkt, mit Edding und Graffiti verziert, so unaufgeräumt wie ein Hindu-Schrein, übersät mit vorgedrehten Joints und Wegwerf-Feuerzeugen. Zwischen geschmolzenem Kerzenwachs sammeln sich Whisky- und Rotweinflaschen, Kondome, Spritzen, Bierdosen, Blumen und Briefchen – Opfergaben einer Gemeinde, die sich dem Toten noch immer verbunden fühlt. Die das Gleichnis noch immer versteht, zu dem dieses kurze Leben geronnen ist. Morrisons Grab ist das, was Ethnologen eine „polymorphe heilige Stätte“ nennen, ein Wallfahrtsort des Rock’n’Roll, als läge dort ein großer Heiliger dieser seltsamen Religion. Nicht einer, der für unsere Sünden starb. Einfach einer, der stellvertretend für uns gestorben ist, die wir nicht so wild und gefährlich leben.
Im Dezember 1990 ließen Morrisons Eltern übrigens die alte Grabplatte mit der Morrison-Büste entfernen und einen neuen Grabstein aufstellen. Die Bronzeplatte trägt die altgriechische Grabinschrift, die „gemäß seinen Dämonen“ bedeutet. Ein guter Satz. James Douglas Morrison mag ein toter Mann sein. Selbst sein Mythos hat, wenn wir ehrlich sind, bereits einen strengen Geruch entwickelt. Und seine Dämonen? Sie schlafen, schockgefrostet nach dem Tod ihres Wirtes, noch immer als Hausgötter in den Plattenschränken dieser Welt.
In der nächsten Reihe der ME-Helden: Pixies.