„ICH HASSTE ALLE – OHNE AUSNAHME.“ KURT COBAIN


Wir gerieten voll in die Sturmfront. Nirvana waren 1993 die erfolgreichste Rockband Amerikas – und die Stimmung in ihrem Umfeld war entsprechend nervös und gereizt. Es erinnerte mich irgendwie an die misslichen Umstände, in denen sich die Sex Pistols 1977 befunden hatten: Sie wurden von den Medien genüsslich seziert, aber niemand hatte auch nur den Hauch einer Ahnung, wie er mit der Situation umgehen sollte. Was zur Folge hatte, dass man die dicke Luft mit dem Messer schneiden konnte.

Das folgende Interview wurde am späten Abend des 22. Juli 1993 geführt – und war Teil einer PR-Offensive, die ihr Presseagent Anton Brookes für das neue Album organisiert hatte. Rund zehn englische Journalisten wurden nach New York geflogen und erhielten eine Vorab-Kassette von IN UTERO (die damals noch – zwischen „Tourette’s“ und „All Apologies“ – den Song „I Hate Myself And I Want To Die“ enthielt, der bei der regulären Veröffentlichung dann eliminiert wurde).

Dave Grohl und Krist Novoselic waren die erwartet bodenständigen Typen, die Nägel mit Köpfen machten. Bei den kurzen Interviews, die ich mit ihnen führte, kamen die Antworten wie aus der Pistole geschossen. Sie wussten natürlich auch, dass sich das mediale Interesse fast ausschließlich auf Kurt Cobain konzentrierte. Nirvana waren nicht nur erfolgreich, sondern galten – Kurt im Besonderen – als das Sprachrohr einer neuen Generation. Sie waren die Speerspitze der Grunge-Bewegung, dienten aber auch als Seismograf für all das, was in der amerikanischen Gesellschaft aus dem Ruder zu laufen schien.

Um ein vernünftiges Interview mit ihm führen zu können, schien es mir unerlässlich, ihn aus dem Trubel loszueisen und allein vors Mikro zu bekommen – was mir dann schließlich auch gelang. Um 23 Uhr setzten wir uns in ein Zimmer im 20. Stock eines Nobel-Hotels und sprachen bis in die Morgenstunden.

Ich fragte ihn zunächst danach, wo er geboren wurde und aufwuchs. Es ist eine Vorgehensweise, die ich in allen Interviews praktizierte, die ich für „England’s Dreaming“ führte – das Buch über die britische Punk-Szene, das 1991 veröffentlicht wurde. Es erwies sich als entspannter Einstieg in ein Gespräch und gab dem Gegenüber die Gelegenheit, sich an eine Zeit zu erinnern, in der er noch nicht im Scheinwerferlicht stand. (Das Thema war nicht zuletzt auch deshalb relevant, weil Kurt in „Serve The Servants“, dem Opener des neuen Albums, auf seinen Vater Bezug nimmt.) Nachdem das erst einmal abgehakt wurde, erwies sich alles Weitere als Kinderspiel. Das Interview war eins der besten, wenn nicht das beste, das ich je geführt habe. Die Stunden schienen wie im Flug zu verstreichen. Es war eine der seltenen Situationen, wo das Gespräch die natürlichen Limitierungen derartiger Interviews sprengte. Und es war auch eins der letzten großen Musik-Interviews, die ich noch führen sollte. Als Kurt am 5. April des nächsten Jahres starb, mottete ich mein Mikrofon endgültig ein.

Wo wurdest du geboren? Wie sah deine Kindheit aus?

KURT COBAIN: Ich wurde 1967 in Aberdeen/Washington geboren und lebte zwischen Aberdeen und Montesano, was etwa 20 Meilen entfernt ist. In meiner ganzen Kindheit zog ich eigentlich immer hin und her.

Warst du noch jung, als sich deine Eltern scheiden ließen?

Ja, ich war sieben.

Hast du noch Erinnerungen an diese Zeit?

Irgendwie schämte ich mich, ich schämte mich für meine Eltern Meinen Schulkameraden konnte ich nicht mehr ins Auge sehen, weil ich um jeden Preis Teil einer normalen Familie sein wollte. Ich suchte nach dieser Sicherheit. Und deshalb hab ich auch jahrelang Antipathien gegenüber meinen Eltern gehegt.

Hast du dich inzwischen wieder mit ihnen arrangiert?

Nun, zu meiner Mutter hatte ich eigentlich immer eine Beziehung, weil sie die herzlichere Person ist. Mit meinem Vater hatte ich zehn Jahre lang nicht gesprochen, bis er mich voriges Jahr nach einem Konzert in Seattle besuchte. Ich wollte ihm schon lange sagen, dass ich ihn nicht mehr hasste, aber es gibt auch nichts, worüber ich mit ihm sprechen möchte.

Ich will keine Beziehung zu jemandem haben, nur weil er zufällig mit mir verwandt ist. Sie öden mich an. Mein Vater ist unfähig, seine Gefühle zu zeigen – oder sogar nur ein Gespräch am Laufen zu halten. Und als wir uns beim letzten Mal trafen, machte ich ihm auch klar, dass ich auf weitere Kontakte verzichten wollte. Aber ich glaube sogar, dass beide Seiten erleichtert waren. Er hatte wohl jahrelang geglaubt, dass ich ihn abgrundtief hasste.

Schreibst du über solche Erfahrungen? Ich sah, dass es bei „Serve The Servants“ die Zeile gibt: „I tried hard to have a father/But instead I had a dad.“

Es ist das erste Mal, dass ich darüber schrieb. Ich habe mich eigentlich nie zu derart persönlichen Dingen geäußert, auch wenn mich das Thema offensichtlich beschäftigt …

Warst du kontaktarm in deiner Kindheit?

Absolut. Nun, ich hatte wirklich eine problemlose Kindheit, doch mit der Scheidung wurde meine Welt auf den Kopf gestellt. Ich mied jegliche Kontakte und begann zu verstehen, dass mir meine nähere Umgebung herzlich wenig geben konnte. Es war nun mal eine kleine Stadt. Ich fand keine Freunde, die zu mir und meinen Interessen passten. Ich hatte so was wie eine künstlerische Ader, ich mochte Musik …

Was hast du damals gehört?

Was immer mir in die Hände fiel. Meine Tanten schenkten mir Beatles-Platten, also hörte ich vorwiegend Beatles. Und dann und wann hatte ich genug Geld beisammen, um mir eine Single zu kaufen.

Mochtest du die Beatles?

Oh ja. Meine Mutter versuchte immer, einen Hauch englischer Tradition in unserem Haushalt aufrechtzuerhalten. Wir tranken grundsätzlich nur Tee. Ich hatte mich eigentlich nie für meine Vorfahren interessiert – bis ich im vorigen Jahr rausfand, dass Cobain ein irischer Name ist. Überall in Amerika hatte ich in die Telefonbücher geguckt, um nach ähnlichen Namen zu suchen. Als ich keine „Cobains“ fand, versuchte ich einfach mein Glück mit „Coburns“ – und fand diese Dame in San Francisco, die sich schon seit Jahren mit unseren Vorfahren beschäftigte.

Wie war’s auf der Highschool? Warst du abgekapselt? Wurdest du gehänselt?

Ich war der geborene Buhmann – nicht in dem Sinne, dass man mich nun ständig gehänselt oder verprügelt hätte. Ich war nur so verschlossen und asozial, dass es wirklich schon krankhaft war. Ich fühlte mich so anders und war so verrückt, dass die Leute lieber einen weiten Bogen um mich schlugen. Wenn’s einen Preis gegeben hätte wie „Wer ist der wahrscheinlichste Kandidat, der beim Highschool-Dance alle Anwesenden umbringt?“, hätte ich bestimmt locker das Rennen gemacht.

Konntest du denn nachvollziehen, wie sich Leute in eine derartige Rage hineinsteigern können?

Absolut. Ich konnte mir plastisch vorstellen, wie dein mentaler Zustand einen derartigen Tiefpunkt erreicht, wo man zu allem fähig ist. Ja. Ich war sogar an dem Punkt, wo ich selbst darüber fantasierte – obwohl, vor die Wahl gestellt, hätte ich mich immer lieber erst selbst umgebracht. Ich liebe Filme, in denen es um solche Sachen geht: die große Rache beim Abschluss-Ball der Schule, Sachen wie „Carrie“ …

Wann hast du zum ersten Mal Punkrock gehört?

Wahrscheinlich um ’84 herum. Ich versuch mich an die chronologische Reihenfolge zu erinnern, pack’s aber nicht. Ich weiß noch, dass ich über SANDINISTA (von The Clash – Anm. d. A.) in der Schulbibliothek stolperte, es aber hasste. „Wenn das Punkrock sein soll“, dachte ich mir, „willst du damit nichts zu tun haben.“ Was ein Jammer war, weil ich unbedingt Punkrock hören wollte, seit ich im „Creem“-Magazin über die letzte Tour der Sex Pistols gelesen hatte. Ich stellte mir vor, wie aufregend es sein musste, ihre Musik zu hören oder sogar live dabei zu sein. Ich war damals vielleicht elf Jahre alt und wäre natürlich in keine Konzerthalle reingekommen. Selbst der Gedanke, nach Seattle zu fahren, war völlig unrealistisch – es war 200 Meilen entfernt.

Ich hatte immer den Wunsch, mehr über Punkrock zu erfahren, aber natürlich war im Plattenladen von Aberdeen Punk nicht vertreten. Ich kaufte mir wahrscheinlich Sachen wie Devo oder Oingo Boingo, die mit mehrjähriger Verspätung endlich nach Aberdeen kamen. Bis mir Buzz Osborne (der Frontmann der Melvins ), mit dem ich zeitweilig befreundet war, ein paar Mix-Tapes zusammenstellte: Black Flag und Flipper, eigentlich alle angesagten Punk-Rock-Bands. Es blies mich völlig um. An dem Tag wusste ich, was meine Bestimmung war.

Am gleichen Tag schnitt ich mir die Haare ab und fing an, bei den Tapes mitzusingen. Ich hörte sie jeden Tag – es war riesig. Ich spielte zu dem Zeitpunkt schon einige Jahre Gitarre, also versuchte ich nun, das zu spielen, was ich mir unter Punkrock vorstellte. Ich wusste, er war schnell und hatte reichlich Distortion. Ich versuchte, die Sachen auszudrücken, die ich gesellschaftlich und politisch wahrnahm – meine Wut, meine Entfremdung.

Jahrelang konnte ich nicht verstehen, warum Ich hörte zwar Aerosmith und Led Zeppelin – und kriege noch heute einen Kick aus einigen ihrer Melodien -, aber irgendwie schien was zu fehlen. Ich habe lange gebraucht, um zu kapieren, dass es was mit dem Sexismus zu tun hatte – die Art und Weise, wie sie über ihre Schwänze schrieben oder übers Ficken. Diese Sachen törnten mich nur ab.

Was für ein Mitglied einer Rockband ja eher ungewöhnlich ist. War es der Punk, der bei dir diese Einstellung auslöste?

Nein, das empfand ich schon früher so. Da ich keine vernünftigen Jungs fand, mit denen ich mich anfreunden konnte, hing ich schließlich mehr mit Mädchen rum -und die wurden in Aberdeen unglaublich respektlos behandelt: Worte wie „bitch“ und „cunt“ standen auf der Tagesordnung. Aber ich brauchte lange Zeit, bis mir bewusst wurde, dass es genau diese Dinge waren, die mir gegen den Strich gingen. Das passierte im vergangenen Jahr auf der Highschool – und dann kam der Punkrock. Es fiel alles zusammen – bis mir eines Tages klar wurde: Es bist nicht du, der hier bescheuert ist.

Hattest du Angst, die Leute könnten vielleicht denken, du seist schwul?

Ja. Ich glaubte ja selbst, dass ich vielleicht schwul wäre. Ich dachte, dass sich dadurch auch meine allgemeine Situation erklären ließe. Auf der Schule war ich einmal mit einem schwulen Jungen befreundet, und auch wenn zwischen uns beiden nichts lief, war es das erste Mal, dass ich am eigenen Leib spürte, wie aggressiv die Leute darauf reagieren. Jahrelang hatten sie mich in Frieden gelassen, weil ich ihnen nicht geheuer war, aber als ich mit diesem schwulen Typ rumhing, kam’s knüppeldick. Sie versuchten, mich zu verprügeln und solche Geschichten. Und meine Mutter, die nun mal komplett homophob ist, verbot mir, mich weiter mit ihm zu treffen.

Du hast schon einige provokante Statements zu diesem Thema in deine Lyrics gesteckt. War das eine Reaktion auf die damalige Zeit?

Würde ich so nicht sagen. Ich halte mich nur weiterhin an meine Überzeugungen. Kommerziell gesehen – angesichts der Millionen Platten, die wir verkaufen – mag das vielleicht eine Provokation sein, aber in „All Apologies“ auf dem neuen Album heißt es in einer Zeile: „Everyone is gay“.

Ich mochte vor allem „Very Ape“ auf dem Album, speziell den Gitarrensound.

Das ist Steve Albinis Metall-Gitarre – es ist ein seltenes Stück, das komplett aus Aluminium besteht.

Und du schätzt seinen etwas klaustrophobischen Sound, für den er berühmt ist?

Könnte man so sagen. Er kreiert einen Sound, der aus einem Raum zu kommen scheint, der nicht größer als dieses Zimmer ist. Keine großartige Halle -nichts, was einen unnatürlichen, überlebensgroßen Eindruck erwecken könnte. Der Sound springt dich direkt an. Was den technischen Aspekt betrifft, so habe ich gelernt, dass man diesen Effekt erreicht, indem man möglichst viele Mikros im Raum postiert. Seit ich Aufnahmen mache, ging ich immer davon aus, dass man wohl oder übel mehrere Tracks einspielen muss, um einen räumlichen Klang zu erzeugen – weil die Mikros in der Regel direkt auf das Instrument ausgerichtet sind. Benützt man hingegen ungerichtete Mikrofone und postiert sie in größerer Entfernung, fängt man auch den Hall von den Wänden ein.

Stimmt es, dass ihr einige Tracks neu aufgenommen habt?

Nein, wir haben nur zwei remixt, weil der Gesang nicht laut genug war. Als ich mir das Band von „Heart-Shaped Box“ zu Hause anhörte, sang ich zur eigentlichen Melodie noch eine Harmonie, die ich unbedingt draufh aben wollte. Steve ist großartig, was die Aufnahme angeht, aber für den Prozess des Abmischens völlig ungeeignet. Für mich ist der Mix wie ein riesiges Kreuzworträtsel, wie Mathematik – etwas, das ich überhaupt nicht mag. Es laugt dich völlig aus, weil man sich unglaublich konzentrieren muss. Jedes Instrument kann in so vielen Variationen abgemischt werden, dass man Tage für einen einzelnen Song braucht – wenn man sich denn wirklich in die Sache reinknien will. Ich bin grundsätzlich dafür, dass man auf Band nur das hören sollte, was man aufgenommen hat, aber bei einigen Songs erwies es sich einfach nicht als die geeignete Methode.

Ich war auf diesem Album vor allem von den langsamen Songs beeindruckt …

Ja, sie kamen wirklich gut raus, weil Steves Aufnahmetechnik und die Akustik perfekt dazu passten. Aber bei „All Apologies“ und „Heart-Shaped Box“ fehlte einfach noch was Eigentlich kommen bei allen Albini-Aufnahmen, die ich kenne, die Vocals nicht richtig zur Geltung. Aber so mag er’s nun mal – und er ist nicht gerade der Typ, den man so einfach vom Gegenteil überzeugt. Er versuchte, einen Song innerhalb einer Stunde abzumischen -was aber beim besten Willen nicht funktioniert, zumindest bei einigen Songs nicht. Man sollte die Möglichkeit haben, sich verschiedene Varianten anzuhören und dann die beste rauszupicken. Ich mag gar nicht glauben, dass ich so viel über den technischen Aspekt einer Aufnahme rede, aber jetzt mach ich auch Schluss. Es war früher immer ein Buch mit sieben Siegeln für mich.

Eigentlich befindest du dich in einer beneidenswerten Position: Selbst wenn das Album nicht verkaufen sollte – was ich nicht glaube -, könntest du mit dieser Tatsache leben. Weil du das Album gemacht hast, das du unbedingt machen wolltest.

Absolut. Wenn ich wollte, könnt ich auch FLOWERS OF ROMANCE rausbringen (das dritte Album von P.I.L., das „schwierig“, streckenweise aber auch grandios war). Und deshalb bin ich auch so begeistert von diesem Album. Ich freue mich sogar, das Ding zu promoten – nicht weil ich hoffe, deswegen mehr Platten verkaufen zu können. Aber ich war noch nie so stolz wie diesmal. Wir haben endlich den Sound, den ich immer im Kopf hatte.

Was bei NEVERMIND nicht der Fall war?

Überhaupt nicht – das Album ist einfach viel zu glatt. Ich kann’s mir nicht anhören. Zu Hause lege ich derartige Platten nie und nimmer auf. Ich mag eine Menge der Songs, ich mag sie live gerne spielen. Kommerziell gesehen ist es vermutlich sogar eine exzellente Platte – aber auch nur, wenn man es aus einer Perspektive wie etwa Cheap Trick sieht. Für meinen persönlichen Geschmack ist es einfach zu gelackt. Ich hab mich von der Situation in dem Studio, in dem wir’s abmischten, ganz schön einlullen lassen. Ich war einfach völlig ausgebrannt zu dem Zeitpunkt Eineinhalb Wochen lang hatten wir versucht, es zusammen mit Butch (Vig) selbst abzumischen, aber dann zogen wir doch lieber Andy Wallace zu Rate. Und zu diesem Zeitpunkt konnte ich mich nicht mehr so drauf konzentrieren, wie ich’s bis zu diesem Zeitpunkt getan hatte.

Wie gehst du im Studio deinen Gesang an? Du scheinst ein ganzes Bündel verschiedener Stimmen zu haben …

Meist singe ich direkt aus dem Bauch, denn das ist der Ort, wo meine Wut und mein Schmerz sitzt. Immer wenn sie bei mir eine Endoskopie machen, finden sie eine Rötung in meinem Magen. Natürlich ist es psychosomatisch – das Resultat meiner Raserei. Und meiner Schreierei. Die Musik macht mich gleich zweifach fertig: Denn von dem kaputten Magen abgesehen, hab ich auch noch Skoliose – eine Rückgratverkrümmung, die ich schon auf der Highschool hatte. Aber seit ich Gitarre spiele, hat sich die Krümmung nur noch verschlimmert. Wenn ich glaube, gerade zu stehen, steh ich in Wirklichkeit schräg. Ganz seltsam.

Dagegen kann man doch was unternehmen.

Ich geh zum Chiropraktiker … ab und an. Aber Skoliose kann man nicht wirklich kurieren, weil die Wirbelsäule in deiner Jugend halt noch weiter wächst. Die meisten Leute haben eine leichte Krümmung, aber bei mir … Wenn’s wirklich schlimm wird, hilft nur noch ein Metallkorsett – und bei mir sind die Schmerzen eigentlich konstant vorhanden. Was den Schmerz, der schon in der Musik steckt, nur noch verstärkt. In gewisser Weise bin ich aber sogar dankbar dafür.

Wie sehen denn nun die Pläne für das Album aus? Werdet ihr eine kleine Tour machen?

Sechs Wochen in den USA, beginnend im Oktober. Darüber hinaus möchte ich mich noch nicht verplanen, sondern mal erst abwarten, wie’s mir gesundheitlich geht. Im Laufe des nächsten Jahres werden wir sicher auch nach Europa kommen, aber im Moment mag ich mich noch nicht festlegen. Ich möchte nicht ein ganzes Jahr mit Tourneen verplanen.

Es sieht fast so aus, als wohnten zwei Seelen in deiner Brust: Du sagst, Punk habe dich beeinflusst, aber ein Teil dieses Punk-Ethos besagt auch, dass kommerzieller Erfolg nicht cool ist. Fühltest du diesen Zwiespalt – und wie hat er sich geäußert?

So hab ich den frühen Punk nicht empfunden. Die Sex Pistols wollten die Welt erobern – und ich war voll auf ihrer Seite. Aber Mitte der Achtziger wurde der amerikanische Punkrock total nichtssagend und elitär. Es törnte mich komplett ab. Unabhängig davon war das aber immer schon meine Haltung gewesen – und deshalb fiel es mir so schwer, den Erfolg zu verarbeiten. Inzwischen lässt es mich kalt, weil ich eh nichts dran ändern kann. Ich habe nicht vor, eine beschissene Platte zu veröffentlichen, nur um sicherzustellen das wäre lächerlich. Aber vor eineinhalb Jahren hätte ich durchaus auf so eine Idee kommen können. Ich hätte alles daran gesetzt, das Album noch noisier zu machen, als es schon ist. Aber wir haben das Album jetzt genauso aufgenommen, wie wir es immer wollten.

Wofür ich dankbar bin. Ich hatte etwas Angst, dass du genau in diese Falle tappen würdest.

Das würde den Sinn des Musikmachens ad absurdum führen. Ich habe aus der Musik mehr Bestätigung bezogen, als ich je zu träumen wagte. Wenn wir das „Vogue“ in Seattle ausverkaufen könnten – es passen rund 300 Leute rein -, dann würd ich mit Kusshand dort auftreten. Ich würde auch liebend gerne vor 20 Leuten spielen – es macht mir noch immer Spaß. Das ist einer der positiven Aspekte des neuen Albums: Wir werden nicht Millionen Gelegenheitshörer haben, denen die Musik oder die Band eigentlich am Arsch vorbeigeht.

Was waren bislang die größten Verlockungen des Erfolgs?

Mir fällt ehrlich gesagt überhaupt nichts ein – Lollapalooza mal ausgenommen. Sie boten uns eine Garantie von sechs Millionen Dollar an, und das war mehr Geld als Auf der kommenden Tour werden wir mit Ach und Krach schwarze Zahlen schreiben, weil wir in kleineren Theatern spielen – was die Produktion vergleichsweise teuer macht. Aber die Angebote, die man gewöhnlich den Guns N’Roses, Metallicas und U2s dieser Welt macht, kamen für mich nie infrage. Sie haben in meiner Realität keinen Platz – und das Gleiche gilt für Kris und Dave. Das war also der einzige Vorfall, den man vielleicht als „Versuchung“ bezeichnen könnte.

Würdest du zustimmen, wenn man dich in früheren Jahren einen Misanthropen genannt hätte?

Absolut. Ich hasste alle – ohne Ausnahme. Ich hab’s immerhin geschafft, stets einen guten Freund zu haben – wobei ich mich manchmal auch nur mit dieser Person arrangierte, ohne sie wirklich zu mögen. Seit ich in der Band bin, hab ich Kris und ein paar andere, die wirklich gute Freunde sind. Aber bis vor eineinhalb Jahren, als Courtney schwanger wurde, hatte ich auch diese unglaublich narzisstische Einstellung: „Wie kannst du’s überhaupt wagen, ein Kind in diese Welt zu setzen?“ Verstehst du, was ich meine? Diese Lebenseinstellung ist wirklich unglaublich egoistisch. So könnte ich heute überhaupt nicht mehr denken. Ich hab einfach kein Recht, solche Sachen zu sagen.

Mit diesem positiven Statement ging unser Gespräch zu Ende. Am Tag danach erfuhr ich, dass sich Kurt Cobain eine Überdosis gesetzt hatte. Ich war konsterniert. Ich hatte seinen Heroin-Konsum in unserem Gespräch nicht weiter ansprechen wollen. Er sah zwar nicht gerade gesund aus, war aber hellwach und kommunikativ. Ich war nicht gerade Experte, was die Wirkung von Opiaten auf das menschliche Verhalten betrifft, doch als er mir sagte, dass er seinen Drogenkonsum unter Kontrolle habe, hatte ich keinen Anlass, an seiner Aussage zu zweifeln. Man bat mich, den Vorfall unter Verschluss zu halten -was ich auch tat. Inzwischen ist der Zwischenfall allerdings hinlänglich bekannt.

Die abendliche Show im „Roseland Ballroom“ ging zwar planmäßig über die Bühne, war aber eine seltsame Erfahrung: Das Publikum wollte Nirvana-Hits hören, doch die Band hatte sich bereits auf den Weg gemacht, um ihre dunklere, akustische Seite zu erkunden (was dann auf MTV UN-PLUGGED IN NEW YORK seinen Höhepunkt fand). Als sie die Cellistin Lori Goldston auf die Bühne brachten, wurde das Publikum so unruhig, dass ihre Version von Leadbellys „Where Did You Sleep Last Night“ fast unterging.

Es war ein Lehrstück in puncto gegenseitiger Entfremdung -und eine beunruhigende Erfahrung, die ich in dem Artikel aufgriff, den ich wenig später für den „Observer“ schrieb: „IN UTERO ist eine beklemmende Platte, die eine gewagte Balance zwischen Destruktion und Optimismus zu finden versucht. Ihr Konzert im ,Roseland‘ machte nur allzu deutlich, wie sehr sie auf diesem Drahtseil zu kämpfen hatten.“

Irgendjemand muss meine Ehrlichkeit zu schätzen gewusst haben. Ein paar Wochen später bekam ich mit der Post ein Paket. Es war eine gerahmte Gold-CD mit meinem Namen und der Widmung „to recognise sales in the United Kingdom of more than 100 000 copies of the Geffen album IN UTERO“.

20 Jahre später hängt sie noch immer an meiner Wand.