Falsche Fronten
Nicht nur beim ME, auch beim englischen „Melody Maker“ häufen sich Leserbriefe, in denen musikalische Glaubenskämpfe mit Schwert und Flamme ausgetragen werden. MM-Redakteur Lyndon Barber warf sich furchtlos zwischen die Fronten – und nimmt im folgenden Essay kein Blatt vor den Mund. Aber selbst wenn er dabei den streitbaren Musik-Fraktionen kräftig vor’s Schienbein tritt, so sind seine Anmerkungen doch nichts anderes als ein eindeutiges Plädoyer für gegenseitige Toleranz.
Es heißt ja, daß große Vögel ihren Kopf in den nächstbesten Sandhaufen stecken, wenn sich vor ihren Schnäbeln etwas Bedrohliches zeigt. Dort vergessen sie ihre Sorgen, taub und blind gegen Verstand und Wirklichkeit.
In Ordnung. Ein gemütliches Nest ist nicht das Schlechteste, aber langfristig ist das wohl doch keine Lösung. Zu viele Kreaturen dieser Art werden einfach zum Ärgernis. Und da jetzt gerade die Jagdsaison beginnt, wird es höchste Zeit, die Federköpfe ein wenig aufzuscheuchen.
Die Sympthome kennt man ja. Seit geraumer Zeit liegt der ME unter dem Beschuß einer Schimpfkanonade, die von einem längst als ausgestorben abgehakten Typus Vogel abgefeuert wird. Das Merkwürdige ist, daß der Planet, von dem die Breitseiten kommen, eigentlich schon Millionen Lichtjahre von unserem Erdenschiff entfernt zu sein schien.
Heute, 1982, mag die Welt befremdlich, ja abstoßend erscheinen, aber zumindest ist sie real und in ihrer Sprache für die meisten verständlich. Der Dialekt, den alle diese Briefe sprechen, ist uns fremd, aber auch eigenartig bekannt. So wie ein halbvergessener Mythos, der von Generation zu Generation weitergegeben wird. Ausdrücke wie „Supergruppe“, „Tastengott“, „Meisterwerk“, „großartige Techniker“, „virtuose Musik“ und „Pink Floyd sind die Könige des Rock“ werden von ihnen in die Welt gesetzt – ohne dabei mit der Wimper zu zucken.
Es ist nicht nur das kindische „Meine-Lieblinge-sind-besser-als-deine“Gerede. Hier geht es vielmehr um tiefsitzende Vorurteile – und zwar solche, die schon vor Jahren in den Abfluß des Vergessens gehört hätten.
Die meisten Kritiker reagieren auf den reaktionären Dauerbeschuß mit verkniffenem Lachen und Schulterzucken. Problem ist, daß ein solches Verhalten nicht weit von den Kurzsichtigkeiten der Sandschnäbel aus dem Virtuosenland entfernt ist.
Wir distanzieren uns von dieser Schule des „Denkens“, fühlen uns peinlich berührt, schlagen ein Kreuz und hoffen, daß es vorbei geht. Natürlich tut es das nicht. Es gibt viele Leser, die so festgelegt, so in ihren „Kultur“-Bunkern verschanzt sind, daß sie sogar die bloße Möglichkeit, zeitgenössische Musik könne irgendeinen Wert haben, gar nicht erst in Betracht ziehen.
Jemand stellte beispielsweise die Frage, ob die englische Avantgarde-Gruppe 23 Skidoo jemals einen ähnlich bedeutenden Klassiker wie „Stairway To Heaven“ produzieren könne und sagt ihm selben Satz, daß er von 23 Skidoo noch nie einen Ton gehört hat.
Soviel Aufgeschlossenheit ist schon bewundernswert. Warum machen wir uns überhaupt noch die Mühe, diese Zeitschrift mit einem Spektrum musikalischer Stile zu füllen, wenn viele Leser glauben, sie wüßten schon alles über Gruppen, die sie andererseits nie hören wollen?
Die Wurzel des Problems liegt offensichtlich ein paar Jahre zurück, und zwar in den Tagen der „Supergruppen“ á la Yes, ELO, Genesis, Led Zeppelin etc. Ich möchte mich auf keinen Streit über den Wert dieser Bands einlassen das haben andere schon oft genug. Aber es gibt mir zu denken, wie diese Gruppen zu Ikonen werden, die ein vergessenes Golden Age of Rock repräsentieren, in dem noch Musikalität regierte und solides Handwerk der magische Schlüssel zu Respekt und Erfolg war.
Der Status des Virtuosen war die höchste Stufe auf der Qualitäts-Leiter, aber ironischerweise ist es gerade dieses Terrain, auf dem besagte Gruppen kläglich versagen.
Hierbei lassen wir die Frage, ob dem Ideal der Virtuosität im Bereich des Rock’n’Roll überhaupt irgendeine Bedeutung zukommt, zunächst mal außer acht – um Technokraten zu beeindrucken, muß man sich auf deren Territorium begeben.
Die Steinzeitmenschen der Mitt-Siebziger loben solistische Höchstleistungen in den siebten Himmel. Das Kranke daran ist, daß die meisten von ihnen einen echten Virtuosen nicht erkennen würden, wenn er vor ihrer Nase stände. Spricht man vom Beherrschen der Instrumente, dann sind Rockmusiker im Vergleich zu gestandenen Jazzern nur kindliche Schaumschläger. Doch wann hört man einmal, daß ein Steinzeitmensch Charlie Parker in den Himmel lobt, die Fußabdrücke von John Coltane verehrt oder den aufregenden Arsch von Miles Davis küßt? Die Techno-Verrückten spielen ein dummes Spiel, bei dem ihre Helden immer gewinnen. Versuche einmal, die Regeln zu ändern – und schon hagelt es Proteste.
Frage Eins: Welcher der folgenden Musiker setzte für das polyrhythmische Schlagzeugspiel „westlicher“ Prägung in diesem Jahrhundert neue Maßstäbe? (a) Carl Palmer, (b) Elvin Jones, (C) John Bonham.
Frage Zwei: Einer der folgenden Musiker revolutionierte die gesamte Improvisationstechnik, indem er Takt-Schemata und harmonische Gesetze durch instinktive-melodische und rhythmische Sensibilität ersetzte. War es (a) Nick Mason, (b) Jon Anderson, (c) Ornette Coleman?
Frage Drei: Wer würde Deiner Meinung nach das Match um die beeindruckendste Keyboard-Technik gewinnen, Rick Wakeman oder Cecil Taylor?
Die Fragen beantworten sich von selbst. Und Cecil Taylor ist genau der richtige Name, den man den Rock-Snobs um die Ohren schlagen sollte. Ein Pianist von ungeheurer Virtuosität, dessen Finger über die Tasten tanzen, als seien sie von einer Stahlfeder getrieben, dabei dichte, komplexe Strukturen aufbauen und sie im nächsten Moment wieder zusammenbrechen lassen. Er beherrscht sein Instrument außerordentlich, aber ihn nur deshalb zu feiern, wäre genauso verfehlt.
Bedenkt man, daß Taylor, Coleman, Parker, Coltrane oder Mingus alle schwarz sind – und die Techno-Langweiler des Rock alle weiß, dann beginnt man zu kapieren. Rock entwickelte sich hauptsächlich aus der schwarzamerikanischen Tradition (die Ausdrücke „Soul“ und „Blues“ betonen den Stellenwert der Emotionalität in dieser Tradition schon genug), und übernahm einige ihrer Qualitäten. Schwarze Musik war gefühlvoll und kernig, ohne viel Brimborium – die Rockmusik folgte diesem Beispiel.
Für die meisten von uns ist das selbstverständlich, nicht aber für die alten, grauen Fürze. Für diese Spezies hat Rock – oder überhaupt Popmusik – eher Gemeinsamkeiten mit der Klassischen Musik Europas. Ihre Vorurteile wurzeln in einem selbstgefälligen, weißen und ethnozentrichen Mittelschicht-Ethos mit unbewußt rassistischen Untertönen. Was zur Folge hat, daß sie Musik schwarzen Ursprung nur mit den anachronistischen Begriffen der weißen, westeuropäischen Kunstwelt („Meisterwerk“, „Musikgenie“) beurteilen können. Künstlerische Kreativität besteht bei ihnen in „universaler“ Bedeutung, klugen „Konzepten“, versteckten Botschaften und ähnlichem Schund.
Das hat ironischerweise zur Folge, daß selbst Bands wie etwa Led Zeppelin, die ganz offensichtlich in der Schuld von Blues-Sängern wie Willie Dixon stehen, am Maßstab bourgeoiser Klassiker gemessen werden. Verehrt man Led Zeppelin nun wegen ihrer erdigen Versionen früher Blues Songs – oder deswegen, weil Jimmy Page zehn Arpeggios pro Sekunde spielen kann?
Ich habe nichts gegen die Verehrer klassischer Musik. Ich habe nur etwas gegen Leute, die Pop und Rock an elitären Kriterien messen, die absolut keine Relevanz besitzen. Traurig daran ist nur, daß neuen Talenten die kalte Schulter gezeigt wird, bestenfalls mit der Begründung, daß sie keine mysteriöse, symphonische Bedeutungen vorweisen, meist aber nur deshalb, weil sie einfach neu sind.
Oft wird von Musikalität geredet, seltsamerweise aber selten in Zusammenhang mit Musikern schwarzer Tradition. Der Grund dafür liegt zum Teil in der alten Fehlinterpretation des Wortes. Für die alten Fürze bedeutet „Musikalität“ nichts anderes, als die Leicht-Zu-Beeindruckenden zu beeindrucken. Für den aufgeschlossenen Rest heißt Musikalität: die Fähigkeit zu besitzen, ein Instrument für den Ausdruck eines Gefühls zu nutzen.
Holger Czukay faßte das einmal perfekt zusammen: „Die Velvet Underground haben ihre Instrumente wie die Schweine gespielt. Aber mit diesem Gefühl spielten sie besser als alle Experten zusammen. Wenn du Musiker bist, dann ist alles, was du anfäßt, Musik. Und wenn du dein Instrument nicht spielen kannst, dann ist die Musik vielleicht primitiv, ergibt aber doch einen Sinn. Ich hasse Musiker, die mit phantastischer Technik spielen, aber nichts zu sagen haben.“
Auf der Basis dieser Perspektive war Mo Tucker von den Velvets eine vorzügliche Trommlerin, Steve Jones ein brillianter Gitarrist. Obwohl sie im konventionellen Sinne kaum spielen konnte, wußten sie ihre beschränkten Möglichkeiten fast instinktiv zu nutzen. Kurz gesagt: sie waren inspiriert.
All dies hätte natürlich schon vor fünf Jahren klar sein müssen, als die Pistols versuchten, den Supergruppen-Bombast mit einem einzigen, kräftigen Tritt in die Wüste zu schicken. Als Schüler war auch ich in den frühen Siebzigern diesen snobistischen Ideen zum Opfer gefallen – und rückblickend kann ich heute feststellen, daß ich damals meinen Enthusiasmus für Musik langsam zu verlieren begann. Die damalige Einstellung war nicht nur dumm, sondern auch gefährlich, denn sie verkleistert die Sinne, führt zu Selbstzufriedenheit und Isolation. So weit, so schlecht, aber es kommt noch schlimmer. Anscheinend hat die 1977er Wasserscheide nicht nur die Kunst und die Fürze getrennt und die Hirne vieler Leute kräftig durchgeblasen, sondern auch zu einer neuen Form der Blindheit geführt.
Es gibt eine neue Generation, die sich grundsatzlich weigert, die Existenz hörenswerter Musik vor der großen Trennung anzuerkennen (außer ein paar offensichtlichen Namen wie Marc Bolan, Doors, Monkees) und außerdem auf jedes Trittbrett springt, das sich gerade in Reichweite befindet. Erwähnt man vor diesen trendgeilen Typen beispielsweise den Namen Bob Dylan, dann schauen sie dich nur fassungslos an oder lachen. Egal, ob Dylan selbst Lou Reeds nasales Genöhle beeinflußt hat – oder der politische Inhalt von Heaven 17’s „Fascist Groove Thang“ auf Dylans lyrischer Militanz aufbaut.
Ihre Stichworte stammen meist aus den oberflächlicheren Teilen der Musik-Presse – und so interessieren sich diese Leute denn auch hauptsächlich dafür, den richtigen Namen zum richtigen Zeitpunkt fallen zu lassen. Hipness ist etwas schönes – Problem ist nur, daß es zwei Arten gibt.
Der echte Hipster ist gut informiert, hat ein wachsames Auge und hört das Gras wachsen. Der echte Hipster verlangt nach neuer Musik, er jagt nach neuen Platten, testet die neueste Mode und forscht nach neuen Namen. Er ist kritisch, hat etwas gegen aufgeblasenen Schrott und weiß instinktiv, was gut ist und was nicht.
Der Mode-Hipster dagegen ist beeinflußbar und lahm, hat zuviel Geld und nichts im Hirn. Den Modehipster locken nur die Namen, nicht die Musik. Er ist mit Sicherheit gut angezogen und kauft sich jeden neumodischen Schnickschnack, nur weil’s eben modisch ist. Der Mode-Hipster gibt mehr Geld für Kleidung als für Platten aus. Der echte Hipster ist ein Vinyl-Junkie.
Der Mode-Hipster trägt seine Platten für alle sichtbar unter dem Arm. Der echte Hipster versteckt sie unter den Mantel.
Der Mode-Hipster tut so, als gefiele ihm nur das Neueste. Der echte Hipster hingegen mag Neues und Altes.
Die Schlußfolgerung sollte an diesem Punkt eigentlich schon offensichtlich sein. Dieser ganze Ärger „alt gegen neu“ ist eigentlich nur traurig. Nicht nur plagen uns falsche Alternativen, falsche Fronten, sondern obendrein auch noch Engstirnigkeit und Kurzsichtigkeit auf beiden Seiten. Vielleicht haben Pink Floyd tatsächlich „bedeutendere“ (schon wieder dieses gräßliche Wort) Platten gemacht als Human League. Und wenn schon!)
Warum bestehen die Leute darauf, Musik in vorgefaßte Schubladen wie „musikalisch wertvoll“ oder „modisch“ einzuordnen? Das klingt jetzt vielleicht scheiß-liberal, aber ich begreife einfach nicht, wieso man sich nicht Bob Fripp oder Grateful Dead anhören kann, ohne dabei gleich auf Kraftwerk und Depeche Mode zu schimpfen? Oder sich schon bei den bloßen Namen Rip Rig & Panic, the Associates oder Flying Klassenfeind die Ohren zuhält, ohne überhaupt mal reinzuhören?
Schade, daß all das gesagt werden mußte, aber ich glaube, es ist an der Zeit, der Gefahr eines militanten Grabenkriegs vorzubeugen. Weg mit den Strohköpfen und rein in die Ecken der Plattenläden, die man bisher keines Blikkes gewürdigt hat.
Und wenn ich jetzt mit der Bemerkung abschließe, daß sich Genesis von ihrem bisherigen Pomp-Schund erstaunlich entfernt haben, ich ihre letzte Single sogar ganz gut finde – werde ich dann für immer als unhip gebrandmarkt sein? Und wird mich das einen Dreck scheren …?