Kolumne

Erschlichene bis unangenehme Interviews: Linus Volkmann über Pulp, Titanic & Fischmob


Was abseits des Gesprächs passierte: Auf der Suche nach Jarvis Cocker, Sonneborn-Ärger und das Glied von dem einen von Fischmob.

Linus Volkmann ist in die großen Ferien abgetaucht. Doch nicht ohne vorher eine Folge seiner losen Reihe „Was abseits des Gesprächs bei Interviews noch so passierte“ vorzulegen. Enjoy 3000!

Das erschlichene Interview (Pulp)

Wie jeder exzentrische Brillenträger bin ich Fan des Nerd-Dandys Jarvis Cocker. Jarvis Cocker von Pulp. Deren glamourös düstere Platte THIS IS HARDCORE aus dem Jahr 1998 faszinierte mich noch mehr als der ebenfalls ikonische Vorgänger DIFFERENT CLASS. Mit dem Jahr 2000 nun arbeitete ich frisch und erstmals in der Redaktion eines Musikmagazins – und war fest entschlossen, mir alle im Jugendzimmer gehegten Interviewträume zu verwirklichen. Bei Pulp selbst hakte es zu jener Zeit, sie arbeiteten seit geraumer Zeit an einem Album, wechselten Produzenten, verschoben Termine … Als ich erfuhr, dass Pulp-Gitarrist Mark Webber in Oberhausen bei den dortigen Kurzfilmtagen in einer Jury saß, fuhr ich dorthin und interviewte ihn zu irgendwas mit Film, das mich – ich hoffe, das hier liest er nie – kaum interessierte. Mir ging es vielmehr um Kontaktaufnahme – und tatsächlich war zu erfahren, dass bald darauf Jarvis Cocker seinen 38. Geburtstag auflegend in einem Club in London zu feiern gedachte. Gemeinsam mit meinem Redaktionskollegen, dem bis heute hochaktiven Autoren Thomas Venker, reiste ich kurzerhand nach Great Britain.

Die fixe Idee: Irgendwie auf diese Party zu kommen und Jarvis Cocker dann davon zu überzeugen, mit uns ein Interview führen zu müssen. Das besaß alles schon etwas von einem kleinen Journo-Krimi, den man später in dem Magazin würde nachlesen können: „Aussteigen bei Vauxhall und ab zu einem sonst als Fetisch-Club fungierenden Laden. Heute legt hier Jarvis zusammen mit Steve Mackey von Pulp als Desperate Sound System auf, wir sind nicht eingeladen. Daher erstmal zur Hintertür. Läuft nicht. Vorne am Einlass berufen wir uns auf die Pulp-Managerin Jeannette und hoffen, dass sich noch nicht bis zu diesen Türstehern herumgesprochen hat, dass wir uns längst via Mail mit ihr überworfen haben. Hat sich nicht, wir kommen rein.“

Bis es ein paar Tage später tatsächlich noch zu einem Interview kommt, müssen diverse weitere Stunts aufgestellt werden. Im Nachhinein wirkt vieles, was wir da getrickst haben, auf mich eher befremdlich – aber heißt es bei dem Autoren Max Frisch nicht: „Erlaubt ist, was gelingt“?

Linus Volkmanns Streifzug durch Club-Klos: „Preiset das Schaf!“

In der aus dieser Geschichte resultierenden Titelstory für das Intro-Magazin sieht man jedenfalls Stationen des London-Trips. Wir haben unter anderem nicht nur das Haus von Mark Webber aufgesucht, sondern es auch fotografiert und abgedruckt?
Kein Wunder, dass ich das bis heute verdrängt hatte!

Nun ja, Pulp veröffentlichten dann tatsächlich bald ihre ominöse Platte WE LOVE LIFE, um die sich alles drehte. Es sollte ihre letzte sein.

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Das gestrichene Interview (Tim Wolff)

Er war von 2013 bis 2018 Chefredakteur der Titanic. Eine der ersten Ausgaben des Satire-Magazins, die er betreute, stellte die Skandalnummer dar, die den Papst in vollgepisster Soutane zeigte („Die undichte Stelle ist gefunden“). Nur wenig später dann ein Titanic-Titelbild mit dem Gesicht von Niki Lauda – dazu die Unterzeile „Exklusiv. Erstes Foto nach dem Unfall: So schlimm erwischte es Schumi wirklich“. Wolff facht den Skandal rund um dieses Cover noch mit einer offiziellen Stellungnahme an:

„Wir haben unter Einhaltung der üblichen journalistischen Moralstandards einen Investigativ-Reporter als Krankenschwester verkleidet und in die Grenobler Klinik geschickt. Sollte es dabei zu einer tragischen Verwechslung mit einem anderen prominenten Crashpiloten gekommen sein, bedauern wir das ein bisschen.“ (Tim Wolff)

In Wolffs Amtszeit fiel darüber hinaus auch der Anschlag auf die Redaktion des französischen Magazins Charlie Hebdo, was ihm wiederum eine zeitlang das „Privileg“ von Polizeischutz einbrachte. Kurzum, über Wolffs Amtszeit gab also einiges zu erzählen. Das sah auch das beliebte Studienratsmagazin „Die Zeit“ so. Das weiß ich so sicher, weil ich schnell eine Zusage bekam, auf meinen Vorschlag, Tim Wolff für das Magazin zum Interview zu treffen. Das muss sich alles 2018, also kurz nach Wolffs Abgabe der Titanic-Chefredaktions-Würden an Moritz Hürtgen, abgespielt haben.

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Nur kurz nach dem erteilten Auftrag allerdings titelte die Wochenzeitung „Die Zeit“ mit einem Themenschwerpunkt über Geflüchtete in Seenot – dazu die Unterzeile: „Oder soll man es lassen?“ Auf diese „provokative“ Art schaltete sich „Die Zeit“ in die aktuelle Diskussion ein um ertrinkende Menschen im Mittelmeer – und die Tatsache, dass Retter kriminalisiert wurden. „Oder soll man es lassen?“ … War das einfach eine provokante Headline mit humanistischer Intention? Oder doch eher Diskursverschiebung nach Rechts?

Der sinistre Teddybär, als den ich Tim Wolff bis heute wahrnehme, pointierte auf jeden Fall die Eskalation des Sagbaren und eröffnete ein Abstimmungsposting auf Twitter: „‘Zeit‘-Mitarbeiter auf offener Straße erschießen?“ und den Antwortmöglichkeiten „Pro“ beziehungsweise „Contra“.

To make a long story short: Mein Interview mit Tim Wolff erschien am Ende auf dem Popblog „Kaput-Mag“, den ich selbst betreibe. Dem großen bürgerlichen Wochenmagazin „Die Zeit“ schien der Satiriker dann wohl doch zu viel der eigenen Medizin gewesen zu sein. Bisschen schade (kein Honorar), aber auch irgendwie geil (Fame fürs „Kaput-Mag“).

Das unangenehmste Interview (Martin Sonneborn)

Das unangenehmste Interview überhaupt? Da muss ich nicht lange sinnieren, ich weiß es: Das Gespräch mit Martin Sonneborn. Um fair zu sein: Sicherlich lag das auch daran, dass hier von Anfang an klar war, dass kein gefälliger Talk zu einem neuen Buch oder ähnlichem anstand. Vielmehr wollte ich den Satiriker mit den Recherchen zu Sexismusfällen in seiner Partei DIE PARTEI konfrontieren. Denn spätestens seit Sonneborn mit dieser Spaßpartei ins reale EU-Parlament eingezogen war, hatte der Witz eine unglaubliche Eigendynamik entwickelt. Überall sprossen neue Ortsgruppen aus dem Boden, ein Spaßvogel-Domino-Effekt klapperte über die Lande und DIE PARTEI besaß mitunter mehr Nachwuchsorganisationen als manch etablierte Partei. Doch nicht alle neuen Kräfte konnten dem Witz von Titanic und der Frankfurter Schule Ehre machen, was wenig verwundern durfte.

An diversen Stellen herrschte eine ungute Stammtisch-Aura, die immer wieder sichtbar wurde, wenn ein lokaler Ortsverein von Die PARTEI sexistische Plakatmotive postete. Die lustigen Plakatmotive von DIE PARTEI waren für die Sache ein wichtiger Multiplikator vor zehn, fünfzehn Jahren gewesen – man kann sie als eine Art Proto-Meme betrachten. Martin Sonneborn schien die Quote an mackermäßigen Gags seiner unüberschaubaren und meist männlichen Follower nicht zu stören, viel eher glänzte er selbst noch durch ein Plakatmotiv, auf dem er in Blackfacing zu sehen war – Pointe war irgendwas mit Obama. In diesem hemdsärmeligen Fun-Klima blieb es dann nicht bloß bei sexistischen Witzen, auch wendeten sich (ehemalige) Mitglieder an die Öffentlichkeit und berichteten von Übergrifferfahrungen im Rahmen ihrer Mitgliedschaft bei DIE PARTEI. Innerhalb der Organisation schienen sie mit ihren Klagen nicht wirklich durchgedrungen zu sein. Das jedenfalls kam bei einer Recherche heraus, die ich mit anderen Journalist:innen des ehemaligen Magazins „Vice“ aufgerollt hatte.

„Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat“ – Tanzt den 8. März!

In dem Interview zu all diesen Vorwürfen hatte ich darauf gehofft, Sonneborn würde nicht bloß Klärendes zum Thema bereithalten, sondern vor allem auch empathische Worte finden – für die Betroffenen, deren Fälle ich ihm vorlegte. Mir erschien es aber, als wäre ihm Sexismus in den eigenen Reihen bloß lästig. Als Thema wohlgemerkt. Ihm schien es weit besser zu gefallen, die strukturellen Defizite der etablierten EU-Parteienkultur auf- und anzugreifen – und zwar von seiner Position des moralisch integren Outlaws. In der eigenen Partei hatte ich dagegen nicht den Eindruck, will er sich nicht „die Blöße geben“ und unmissverständlich sagen, wo „der Spaß“ auch in DIE PARTEI aufhört. Mein Eindruck: Er redete die erhobenen Vorwürfe klein und es schien ihm kaum möglich, innerhalb seines wirklich respektablen Life-Time-Mega-Gags DIE PARTEI herrschende Probleme überhaupt nur zuzugeben.

Das Interview, für das ich extra nach Brüssel gereist war, hätte ich mir sparen können – und in der „Vice“-Reportage über Sexismus bei DIE PARTEI flossen leider wenig O-Töne vom Parteichef ein, die den Eindruck gegeben hätten, Übergrifferfahrungen von Mitgliedern aufzuarbeiten, wäre hier ein priorisiertes Thema.

Kleiner Fame am Rande: Im Nachklapp bemühte sich Sonneborn, die „Vice“-Recherchen zu diskreditieren und verwendete über mich das Attribut „der Musikjournalist“ in abwertender Weise. Wenn ich mal wieder Zeit finde, rahme ich mir das ein. Ich habe lange Zeit DIE PARTEI gewählt, das würde mir – trotz allen guten Leuten, die ich dort kenne – heute nicht mehr passieren. Zumindest nicht bei der EU-Wahl.

Das penisförmigste Interview (Fischmob)

Ende der Neunziger stand die Crew Fischmob hoch im Kurs. Next-Level-Humor, Beats und Anarchie, das war unberechenbarer Rap mit Kiff-Hintergrund. Ihr Album MÄNNER KÖNNEN SEINE GEFÜHLE NICHT ZEIGEN – bis heute ein Meisterwerk.

Zu jener Zeit schrieb ich noch nicht in hochherrschaftlichen Magazinen, sondern unterhielt ein eigenes Heftchen – Fanzine nannte man sowas, und meines hieß „Die Spielhölle“. Doch auch mit so einem kleinen Magazin öffneten sich mitunter Türen – und das war zumindest für mich eine große Verheißung. Von diesen Möglichkeiten beseelt öffnete ich daher selbst die Backstage-Tür in einem Club in Frankfurt an der Konstabler Wache, hieß (und heißt noch): Nachtleben. Wie in einem Büro hatte ich geklopft und dann einfach die Klinke heruntergedrückt, ohne auf eine spezielle Aufforderung zu warten. Wieso auch? Schließlich war ich lose mit den vier Big Stylern zu einem Interview nach ihrem Konzert verabredet. Doch was ich dann sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Das Backstage in jedem Laden bestand nur aus einem Raum und offensichtlich zogen sich Teile von Fischmob darin gerade um. Ich sah also gleich prominent das Glied von „Der schreckliche Sven“, es brannte sich sofort in meinen Kopf ein, bevor mich DJ Koze wieder zurück aus der Tür stieß. Bei Interesse zeichne ich es Fans der Band gerne auf, PN genügt.

Linus' Popkolumne: Kachel’n‘Katastrophen – Tücken von Online-Interviews

„Der schreckliche Sven“ übrigens verließ mit dem Ende von Fischmob 1998 dann mehr oder weniger auch den Popbetrieb. Über 20 Jahre später traf ich ihn in Kiel wieder – und malte ihm sofort begeistert sein Glied aus der Erinnerung auf. Er wunderte sich darüber weniger, als man hätte vermuten können.

Ich bekam beim Wiedersehen sogar ein Selfie. Habe es für euch noch aus einer alten Insta-Story ausgegraben. Keine Sorge – komplett angezogen.

Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.

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