ME-Jahresrückblick

Die 50 besten Alben des Jahres 2022


Trommelwirbel, wir haben gewählt: Das hier sind, ganz offiziell – die 50 besten Alben des Jahres 2022.

Die Plätze 20 bis 11

20. Jockstrap – I Love You Jennifer B (Rough Trade/Beggars/Indigo, VÖ: 9.9.)

Die den Massen bisher weitgehend verborgene Sprengkraft der britischen Noise-Jazz-Explosion Black Country, New Road ist so gigantisch, dass selbst die Splitter des jungen Kollektivs geile Bands ergeben: Georgia Ellerys (dort Violinistin) Debüt mit ihrem Duo Jockstrap etwa. Das Album besteht aus Scherben von Twee, Elektro und Folk-Weirdness, fragmentarisch irgendwie zu Strukturen zusammengekleistert, im Kern Pop, an der Oberfläche ein großes „Hä?“, insgesamt attraktiv, vor allem, wenn es so gegenwärtig zeitlos leuchtet wie in der abseitigen Coming-of-Age-Ohrwurm-Single „Glasgow“. (Steffen Greiner)

19. King Hannah – I’m Not Sorry, I Was Just Being Me (City Slang/Rough Trade, VÖ: 25.2.)

Bestimmt die Indie-Community im Netz die besten Songs und LPs der 90er-Jahre, taucht ein Band oben auf, die man gerne vergisst, wenn man an die Großen dieser Dekade denkt: Mazzy Star und ihre verspulte kalifornische Zeitlupen-Psychedelia. King Hannah stammen aus Liverpool, doch der gespenstische Geist von Mazzy Star findet sich auf ihrem Debüt genauso wieder wie der feministische Klapper-Lärm-Blues von PJ Harvey oder das epische Storytelling von Nick Cave & The Bad Seeds. Klassischer Stoff, neu erzählt. (André Boße)

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18. Angel Olsen – Big Time (Cargo, VÖ: 3.6.)

Das Coming-out, der Tod der Eltern: Es sind die großen Themen, die diese Platte prägen, und sie erfahren hier die entsprechende musikalische Umsetzung: Gemeinsam mit ihrem Produzenten Jonathan Wilson entwickelte die Singer/Songwriterin einen mal melancholischen, mal weltumarmenden Sound, der dem Albumtitel in jeder Sekunde gerecht wird. Wir hören die warmen Slide-Gitarren Nashvilles, feierliche Bläsersätze, die nach Memphis klingen, aber auch ein bisschen nach Kalifornien, circa 1973. Natur brauche sie jetzt, und einen Kaffee, singt Olsen einmal. Man möchte sich dazusetzen. (Jochen Overbeck)

17. Arctic Monkeys – The Car (Domino/GoodToGo, VÖ: 21.10.)

Schon mit der ersten Single „There’d Better Be A Mirrorball“ machten die Arctic Monkeys klar, dass sie den Indie-Tanzboden unwiderruflich verlassen haben. Wie auf dem Vorgänger TRANQUILITY BASE HOTEL & CASINO arrangieren die Engländer erhabenen Lounge-Pop, der Streichern und Gitarren den gleichen Platz einräumt. Wer beim Hören die Lider schließt, dem erscheinen vor dem inneren Auge keine Lederjacken und Rockabilly-Tollen mehr, sondern Männer in ihren späten Dreißigern. Sie tragen weiße Leinenanzüge, trinken Vieux Carré und weiden sich am bittersüßen Leben. (Martin Schüler)

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16. Aldous Harding – Warm Chris (4AD/Beggars/Indigo, VÖ: 25.3)

Was begeistert uns an Aldous Hardings Singer/Songwriterin-Platten eigentlich immer wieder so sehr? Diese coole, leicht schläfrige, manchmal aber grell zwitschernde Stimme? Die Songs, die halb Experiment, halb Super-Duper-Hand- werk sein dürfen, die Fragezeichen hinter ihren Texten und Kostümierungen? WARM CHRIS, Album Nummer vier der Neuseeländerin, besitzt alles dieses im Überfluss. Vor allem aber sind diese zehn Songs so etwas wie eine klingende Heizdecke, die man sich überwerfen mag, wenn die Tage dunkler und die Fragen größer werden. (Frank Sawatzki)

15. Porridge Radio – Waterslide, Diving Board, Ladder To The Sky (Secretly Canadian/Cargo, VÖ: 20.5.)

Die Band aus Brighton hatte schon einige wenig überzeugende Alben veröffentlicht, bevor ihr 2020 mit EVERY BAD der Durchbruch gelang. WATERSLIDE, DIVING BOARD, LADDER TO THE SKY war nun die Bewährungsprobe: zurück in die regionale Indie-Nische oder weiterhin Weltklasseaußenseiterpop? Zweiteres! Die Angst und der Trotz in den Vocals von Sängerin Dana Morgalin ist wieder eine intensive Hörerfahrung, wie die Stimme vibriert, die Band dazu eine Musik spielt, die sich nicht zwischen Bequemlichkeit und Lust am Aufbruch entscheiden kann, bevor sie zügellos loslärmt. (André Boße)

14. Beyoncé – Renaissance (Sony, VÖ: 29.7.)

Wenn Queen B ihr erstes Album seit 2016 veröffentlicht, ist das ein popkulturelles Großereignis. Statt aber dem unerreichbaren Popideal von LEMONADE hinterherzujagen, ging Beyoncé einen anderen Weg: RENAISSANCE wirkt wie ein DJ-Mix und eine hedonistische Ode an die Geschichte queerer Schwarzer Clubmusik, Gastbeitrag von Grace Jones inklusive. Zwei Wermutstropfen: erstens eine Auseinandersetzung mit Kelis bezüglich einer musikalischen Hommage an „Milkshake“, zweitens der Umstand, dass erst Fans auf ableistische Sprache hinweisen mussten, bevor sie die- se entfernte. (Aida Baghernejad)

13. Sudan Archives – Natural Brown Prom Queen (Stone Throw/PIAS/Rough Trade, VÖ: 9.9.)

Ein autobiografischer Trip in 18 Tracks – der aus mindestens ebenso vielen Quellen schöpft: R’n’B, HipHop, westafrikanische Musik, Dance-Beats, digitale Sounds, Referenzen an Vorbilder wie Salt’n’Pepa und tausenderlei Ingredienzien mehr fügen sich zu einem glitzernden Porträt der NATURAL BROWN PROM QUEEN, die mit ihrer geloopten Geige alles zusammenhält – und wieder auseinanderfallen lässt, um ein neues Kapitel aufzuschlagen. Es geht um Alltagsrassismus, Diskriminierung, den Wunsch dazuzugehören – und die trotzige Erkenntnis, „I’m not average, I’m not average, I’m not average“. (Christina Mohr)

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12. Bilderbuch – Gelb ist das Feld (Maschine/Universal, VÖ: 8.4.)

Das Beglückende an diesem Album ist, dass man es auf vielerlei Arten lesen kann. Etwa der Opener „Bergauf“: Dieser erzählt von weißen Pferden im See, ist Psychedelic, ist Progressive Rock. Wenn man ihn später noch einmal hört, klingt er plötzlich nach Manchester Rave. Wie die österreichischen Pop-Chamäleons das machen? Keine Ahnung. Auf jeden Fall schrauben sie mit diesem Album allerhand Luftiges gleichzeitig an- und auseinander. Sie trinken, baden nackt in südamerikanischen Bergseen und suchen Geborgenheit. Und wer diese nicht sucht, der werfe den ersten Wattebausch! (Jochen Overbeck)

11. Jens Friebe – Wir sind schön (Staatsakt/Bertus/Zebralution, VÖ: 30.9)

In einem Jahr, in dem alles immer schlimmer zu werden scheint, bringt Jens Friebe eine Platte heraus, die eine(n) doch noch an das Gute glauben lässt: Alle Friebe-typischen Zutaten sind vorhanden: mehrdeutige Texte, hymnische Melodien, Überschwang. Dazu eine geniale Coverversion von Leonard Cohens „First We Take Manhattan“ sowie die Einführung des Begriffs „Microdoser“ in den deutschen Pop. Friebes siebtes Album schillert in süßer Melancholie, trotzigem Optimismus und antikapitalistischem Glamour: Ja, wir sind schön, trotz aller Kratzer und Beulen. (Christina Mohr)