ME-Jahresrückblick

Die 50 besten Alben des Jahres 2022


Trommelwirbel, wir haben gewählt: Das hier sind, ganz offiziell – die 50 besten Alben des Jahres 2022.

Die Plätze 40 bis 31

40. Lean Year – Sides (Western Vinyl, VÖ: 2.9.)

Die Praxis der Askese soll schließlich zur Erleuchtung führen. SIDES aber ist so asketisch, so reduziert und spartanisch, so essenziell, dass man sich bisweilen wundert, ob das Ehepaar Emilie Rex und Rick Alverson beim Abmischen ihres zweiten Albums als Lean Year, auf dem sie Todesfälle lieber Menschen und andere Verluste verarbeiten, nicht aus Versehen ein paar Aufnahmespuren gelöscht haben. Aber manchmal liegt die Wahrheit eben nicht in den Tönen, sondern in der großen Leere zwischen ihnen – oder eben dort, wo die Katharsis zu finden ist. (Thomas Winkler)

39. Red Hot Chili Peppers – Unlimited Love (Warner, VÖ: 1.4.)

John Frusicantes erste Rückkehr spülte die Chili Peppers geradewegs in die Stadien Arcadien. Nach einem kaum erinnerungswürdigen Jahrzehnt mit Gitarrist Josh Klinghoffer befeuerte sein zweites Comeback die Funkrocker derart, dass sie 2022 gleich zwei Alben veröffentlichten. Auf dem ersten davon wollen sie’s noch mal richtig wissen, das hört man zu jeder hot minute. Fleas Bass hüpft ebenso gewohnt wie Anthony Kiedis oberkörperfrei durchs Video zu „Black Summer“. Dass dennoch keine Klassiker von der Tracklist abfallen werden, liegt schlicht daran, dass die Band schon zu viele hat. (Stephan Rehm Rozanes) 

Unsere Review zur gesamten Platte gibt es hier.

38. Oliver Sim – Hideous Bastard (Young/XL/Beggars/Indigo, VÖ: 9.9.)

Mit zärtlicher Brummbassstimme legt Oliver Sim seine Traumata offen: Verglichen mit seiner Gruppe The xx, die den Sound vor die Texte stellt, verfolgt Sim mit HIDEOUS BASTARD einen wesentlich persönlicheren Ansatz. So verriet Sim vor dem Release, dass er seit seinem 17. Lebensjahr mit HIV lebt. Die Schwere der Themen spiegelt sich in der von Jamie xx produzierten Musik in dunkel schimmernden Balladen wie „Confident Man“ und „Saccharine“ wider. Doch es gibt auch Licht: zu „Sensitive Child“ oder „Run The Credits“ lässt sich melancholisch lächelnd tanzen. (Christina Mohr)

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37. Makaya McCraven – In These Times (XL/Beggars, VÖ: 23.9.)

Das Schöne am Jazz – ob oldschool oder neo – ist die Tatsache, dass die Bandvorsteher*innen nicht unbedingt das Autoritätsinstrument Gitarre spielen müssen. Da gibt es den Saxofonisten Kamasi Washington, den Bassisten Thundercat und den Drummer Makaya McCraven, der eigentlich viel mehr als ein Drummer ist, nämlich auch: Bandleader, Komponist und Arrangeur einer Musik, die von Beats angetrieben wird, die nur einem Menschen in den Sinn kommen können, der nicht linear, sondern rhythmisch denkt. Schon super, welche Entwicklungsschritte Jazzmusik dank Leuten wie McCraven zuletzt gemacht hat. (André Boße)

36. Ezra Furman – All Of Us Flames (PIAS/Bella Union/Rough Trade, VÖ: 26.8.)

Auf ALL OF US FLAMES hat Ezra Furman den Postpunk weitestgehend hinter sich gelassen und präsentiert sich als die großartige Geschichtenerzählerin. Das lyrische Ich auf dem in Americana und Rock verwebten Album ist auf der Flucht, will einen Neuanfang, will der Großstadt und all ihren Versuchungen entfliehen. Furman wirkte schon wie aus einer anderen Zeit, auf dieser Platte ganz besonders: vom Cover, das an einen Film Noir aus den 40er-Jahren erinnert, bis zu ihrer leicht verzerrten Stimme, die klingt, als spiele ein Grammofon sie ab. (Emma Wiepking)

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35. Sault – Air (Forever Living Originals, VÖ: 13.4.)

Knapp neun Monate nachdem das mysteriöse Kollektiv sein Album NINE nach 99 Tagen aus dem Netz entfernt hatte und bevor es am 1. November Guns-N’-Roses-beschämend fünf Alben gleichzeitig veröffentlichte, ließen Dean Josiah Cover alias Inflo und wer auch immer (wahrscheinlich die Ensembles Music Confectionery Choir und Wired Strings) ein Werk in den Himmel fahren, das radikal wie sanft mit dem bisherigen Sound brach. Weit über den Wurzeln aus Funk und Rap umkreisen wir hier auf Chorwolken einen Kirchturm, der lediglich aus einem Fenster Wörter wie Friedenstauben aufsteigen lässt. (Stephan Rehm Rozanes)

34. Perfume Genius – Ugly Season (Matador/Beggars/Indigo, VÖ: 17.6.)

Alben als „Gesamtkunstwerke“ zu bezeichnen, ist in etwa so originell wie vom „Popstar der Stunde“ zu sprechen. Bei Perfume Genius‘ neuem Album UGLY SEASON ist der Begriff allerdings angebracht: Der Multiinstrumentalist Mike Hadreas spannt auf seinem sechsten Album einen eleganten Bogen zwischen der ihm eigenen Grandezza, die nie überschnappt, und Minimalismus, um die Höhen noch stärker wirken zu lassen. UGLY SEASON ist eine Art Pop-Oper zwischen Kammermusik und Experimentierraum, mit Hadreas als genialem Dirigenten im Zentrum des Geschehens. (Emma Wiepking)

Unsere Review zum gesamten Werk gibt es hier.

33. Ebow – Canê (Alvozay/Virgin/Universal, VÖ: 18.3.)

„Was mein größter Flex ist? Dass ich ich selbst bin!“ Eine Zeile aus dem Stück „Dersim62“. Aufgeschrieben klingt das kaum speziell, doch im Kontext der oft spröden, aber immer vielseitigen Soundkulisse des vierten Ebow-Albums springt sofort die Gänsehaut an. Die Münchner Rapperin mit kurdischen Wurzeln war noch nie näher bei sich als auf CANÊ. Lieblingstrack: „Prada Bag“ über den Markenfetisch des HipHop-Biz. So differenziert wie dieser Vier-Minuten-Banger bringt manch marxistisch-soziologisches Blockseminar das Thema nicht rüber. (Linus Volkmann)

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32. The Smile – A Light For Attracting Attention (XL Recordings/Beggars/Indigo, VÖ: 13.5.)

Einer der Helden 2022 heißt Tom Skinner und ist Schlagzeuger. Was ihn zu einem stillen Helden macht. Skinner, Teil der Londoner Neo-Jazz-Szene, trommelt bei Shabaka Hutchings‘ Sons Of Kemet, zu hören ist er auch auf dem grandiosen neuen Album von Beth Orton, das in dieser Liste fehlt, weil es unterm Radar schwebte. Auch bei The Smile ist Skinner eine Hauptattraktion – und das, obwohl die anderen beiden Typen dieser Band die Namen Thom Yorke und Johnny Greenwood tragen. The Smile sind daher reduzierte Radiohead mit einem ganz neuen, ganz anderen Groove. (André Boße)

31. Pauls Jets – Jazzfest (Staatsakt/Bertus, VÖ: 18.2.)

Sänger Paul Buschnegg hat das Glück des Suchenden, der immer dann fündig wird, wenn es ihm gelingt, aus der Welt der Erwachsenen zu entwischen. Hinein in Obstbaumwälder voller Zwetschgen, Nüsse und Gerüche, die im Drogenrausch geboren werden. Oder hoch über die Wolken. Mit dem Flieger besucht er seine Leute in Magdeburg und auch überall sonst. Es sind romantische Utopien, die in seinen Texten blühen. Orte des Glücks. Deshalb ist JAZZFEST eine durch und durch lebensbejahende Indie-Platte: Ode auf die Zweisamkeit und Revolte gegen die Welt der Erwachsenen. (Martin Schüler)