Interview

Charles Aznavour und sein letztes Interview: „Die Lieder werden überleben“


Seine Stimme war eine der bekanntesten Frankreichs, jahrzehntelang prägte er mit Welthits das Chanson-Genre: Jetzt ist der Sänger und Schauspieler Charles Aznavour im Alter von 94 Jahren gestorben. Das hier war eines seiner letzten Interviews.

Charles Aznavours Tod kam so überraschend, wie der Tod eines 94-Jährigen noch überraschen kann: Bis zuletzt stand der umtriebige Künstler und französische Superstar noch auf der Bühne. Für den 26. Oktober war sein nächstes Konzert in Brüssel angesetzt. Eines seiner letzten Interviews gab er im Dezember 2017 anlässlich seines Konzerts in Wien. Der Mann, der die Frauen und den Wein liebte, wirkte munter und lebensfroh und dachte gar nicht daran, seine Karriere an den Nagel zu hängen.

Musikexpress: Monsieur Aznavour, am 9. Dezember treten Sie in der Wiener Stadthalle auf.

Charles Aznavour: Oh ja, Wien! Ich bin so froh, in die Stadt zurückzukehren, die ich so sehr liebe. Das österreichische Publikum hat mich von Anfang an mit offenen Armen empfangen. Also ich bin bereit für unser Rendezvous.

Was können wir von Ihrem „One Night Only“-Konzert erwarten?

Die Leute erwarten von mir alle Hits, also sollen sie sie kriegen. Ich liebe und respektiere mein Publikum und habe die Einstellung, dass das Mindeste, was ein Entertainer tun kann, ist, dem Publikum das zu geben, was es verlangt. Die Zuschauer machen uns zu dem, was wir sind. Aber einige Künstler sind von ihrem eigenen Ego so geblendet, dass sie das vergessen. Ein paar neue Titel werde ich aber auch einstreuen.

Wird eines Ihrer Kinder mit Ihnen auf der Bühne stehen?

Meine Tochter Katia singt ja schon seit 25 Jahren Backingvocals für mich, aber leider ist sie aufgrund privater Verpflichtungen für das Wien-Konzert verhindert. Aber mein Sohn Nicholas ist mit dabei, allerdings nicht auf der Bühne. Er kümmert sich um meine Reisen, wenn ich auf Tour bin.

2006 haben Sie Ihre Abschiedstournee begonnen. Aber Sie können nicht aufhören, oder?

Na ja, ich mache immerhin keine langen Tourneen mehr, bei denen ich 200 Konzerte am Stück spiele. Ich wähle das heute genau aus und absolviere 30 bis 40 Shows im Jahr. Ich liebe meine Arbeit nun mal, und ich liebe den Kontakt mit der Öffentlichkeit.

Wie schaffen Sie das mit 93?

Ich denke, ich habe einfach das Glück, eine robuste Gesundheit zu haben. Aber ich passe auch auf mich auf. Ich esse gesund, ich schwimme, wann immer ich Zeit habe, ich sehe zu, dass ich ausreichend Schlaf bekomme. Für den Rest muss ich meinen Eltern danken, die mir die guten Gene gegeben haben.

Wie sieht denn Ihr Ernährungsplan aus?

Eine Diät ist es jedenfalls nicht, ich esse alles. Den Fleischkonsum habe ich reduziert. Aber ich gebe acht Stückchen Zucker in meinen Tee und Kaffee, und ich esse gerne salzig – all die Sachen, die ich nicht soll. Hat aber bisher gar nicht mal schlecht für mich funktioniert.

Gönnen Sie sich noch ein Gläschen Wein?

Natürlich! Ich liebe Bordeaux, chilenische Weine, Dom Perignon – aber alles in Maßen.

Was ordern Sie für Ihre Garderobe auf Tour?

Ich mag keine Räume, in denen die Klimaanlage läuft. Ansonsten Tee, Sandwiches, den besagten Bordeaux und Champagner. Ich bin da eher schlicht gestrickt.

Und was tun Sie dafür, damit Ihre Stimme nicht schlapp macht?

Dafür mache ich nichts Besonderes. Meine Stimme war gebrochen, als ich anfing mit dem Singen. Und sie ist es heute noch, aber die Leute haben sich daran gewöhnt.

Sie erwecken den Eindruck eines rastlosen Mannes. Täuscht das?

Nein, das täuscht nicht. Ich bin mit zu viel Leidenschaft bei der Arbeit dabei. Und mit der Aznavour-Stiftung, mit der ich mich für soziale Projekte in meiner zweiten Heimat Armenien einsetze und dort auch ein Museum in Jerewan führe, gibt es auch immer neue Herausforderungen, neue Abenteuer, neue Länder und neue Leute zu erleben. Ich war immer ein Getriebener, aber ich habe das auch immer genossen.

Schreiben Sie immer noch jeden Tag Lieder?

Jeden Tag! Ich habe genug Songs, um zwei Alben rauszubringen. Und wenn ich keine Lieder schreibe, dann Bücher oder Filmskripte. Aber das braucht alles seine Zeit. Manchmal arbeite ich an einem einzigen Songtext ein ganzes Jahr!

Können Sie sich noch an jeden der 800 Songs, die Sie geschrieben haben, oder der 1200 Songs, die Sie aufnahmen, erinnern?

Nicht an alle. Wenn man berücksichtigt, dass ich auf Französisch, Italienisch, Deutsch, Englisch und Spanisch aufgenommen habe, gibt es da ja auch sehr viel zu erinnern.

Edith Piaf hat Sie in Ihren Anfängen gefördert. Sie lebten sogar lange unter einem Dach mit ihr. Was ist Ihre stärkste Erinnerung an diese Zeit?

Da gibt es zu viele. Ich lebte acht Jahre bei ihr, war ihr Sekretär, Chauffeur – aber niemals ihr Liebhaber! Ich habe unheimlich viel von Piaf gelernt, wenn es um Bühnenpräsenz geht, Respekt vor dem Publikum, die Art, wie man einen Song hören sollte, was einen guten Song ausmacht und wie man ihn rüberbringt. Neben ihrer beeindruckenden Stimme hatte sie einen unglaublichen Instinkt und ein außergewöhnliches Gehör. Das Tolle an Piaf ist, dass sie heute bekannter ist als früher, als sie noch lebte. Wenn sie zurückkommen könnte, würde sie es nicht glauben, welch Bewunderung ihr heute entgegen gebracht wird. Wirklich schade, dass sie das nie gesehen hat!

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Machen Sie sich manchmal Sorgen, was mit dem Chanson-Genre passieren wird, wenn Sie dann doch eines Tages von der Bühne abtreten?

Die Lieder werden überleben, aber vielleicht wird die Bewegung, die sich Chanson nannte, verschwinden. Aber die großartigen Songs sind nicht totzukriegen, weil sie so stark sind und ein gutes Fundament haben. Da hege ich keine Zweifel.

Fühlt es sich anders an, wenn Sie die Songs jetzt mit 93 singen als mit, sagen wir, 30?

Ja, natürlich. Einen Song wie „Sa jeunesse“ habe ich in jungen Jahren über die Jugend, die so schnell vorbeizieht, geschrieben. Das Lied hat eine total andere Bedeutung und Tiefe, wenn ich es heute singe. Denn nun habe ich das erlebt, worüber ich singe.

„Die Welt ist verrückt geworden, wenn es um die sogenannte politische Korrektheit geht.“

Sie sangen mal „Mit Deiner schlampigen Figur gehst Du mir gegen die Natur“. Das klingt ziemlich sexistisch. Glauben Sie, dass es heute noch okay ist, solche Zeilen zu singen?

Ach, die Welt ist verrückt geworden, wenn es um die sogenannte politische Korrektheit geht. Da wird ja viel über alles Mögliche diskutiert. Manches davon ist lächerlich. Bei besagtem Song war es damals und heute nie sexistisch gemeint. In der deutschen Übersetzung entspricht die Zeile auch nicht wirklich dem, wie ich sie im Original niederschrieb. Eins zu eins übersetzt aus dem Französischen bedeutete sie nämlich: „Mit deiner schlampigen Erscheinung erinnerst du mich an deine Mutter.“ Und es ist natürlich humorvoll gemeint. Bei mir hat sich übrigens noch nie jemand beschwert über den Song, denn die meisten Frauen sind der Meinung, dass sie selbst solche Damen kennen!

Sie waren fast Ihr ganzes Leben verheiratet, wenn auch mit drei verschiedenen Frauen. Und Sie sangen viele Lieder darüber. Wie wichtig waren Frauen für Ihr Leben?

Die verstorbenen Persönlichkeiten 2018
Es gab kaum etwas Wichtigeres! Das fing schon mit meiner Mutter an, dann mit meiner Schwester Aida und ja, dann kamen meine Ehefrauen. Von den dreien war Micheline, meine erste Frau und hauptsächlich Ulla, mit der ich seit 50 Jahren verheiratet bin und die mir drei Kinder geschenkt hat, von Bedeutung. Ja, Frauen waren wohl meine größte Inspiration.

Was ist Ihre Leidenschaft außerhalb der Musik?

Ich besitze 300 Olivenbäume. Die sind unweit von Marseille, in Moriès in den Alpilles angepflanzt. Es ist eine große Freude, sie wachsen und gedeihen zu sehen. Und ich bin sehr stolz auf das Olivenöl, das ich produziere.

Was ist typisch französisch, was typisch armenisch an Ihnen? Und was ist der Vorteil, zwei Kulturen zu haben?

Ich wurde in Frankreich geboren und bin in Paris aufgewachsen. Meine Art zu sprechen und meine Kultur sind französisch – ich liebe Frankreich. Meine Wurzeln liegen aber in Armenien. Ich bin auch mit armenischen Traditionen, der Kultur und Geschichte aufgewachsen. Die Mischung macht es interessant, und ich denke, dass das bei mir dazu geführt hat, dass ich die Welt ein bisschen besser verstehe.

Im August 2017 bekamen Sie einen Stern auf dem „Hollywood Walk Of Fame”. Ist das etwas Besonderes für Sie im Vergleich zu all den anderen Preisen, die Sie in Ihrem Leben erhielten?

Ja, das ist sogar sehr besonders! Denn es sind die Vereinigten Staaten, die meine Arbeit in Amerika und rund um den Globus honorieren. Ich bin natürlich auch Europäer und nur einer von zehn Franzosen, dem diese Ehre bis heute zu Teil wurde. Die anderen sind fast alle hauptberufliche Schauspieler. Und wenn man noch berücksichtigt, dass es nur 2600 Stars gibt, die in den vergangenen 100 Jahren einen Stern bekamen, obwohl das Entertainment-Business Millionen von potenziellen Mitgliedern hat, dann bin ich schon ein wenig stolz darauf.

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