Der Style Bruch
Mit schrillen Kostümen, grellem Make-Up und aggresivem Styling überfütterten Pop-Stars und Medien in den Achtziger Jahre das Publikum. Heutzutage lässt sich mit dem modeischen Overkill kein Blumentopf mehr gewinnen. Me/Sounds-Mitarbeiter Steve Lake ging dem neuen Purismus auf den Grund.
Ist das wirklich nur ein paar Jährchen her? Eine der damaligen jungen Hochglanz-Bands – war’s Duran Duran oder Spandau Ballet? – veranstaltete zum Abschluß ihrer Tournee eine Party. Pete Townshend und Paul McCartney hockten zusammen in einer Ecke und jammerten.
McCartney beklagte sich bitterlich darüber, daß seine Rückkehr auf die Bühne durch unbarmherzige Kritiker vereitelt würde, die einmütig die Pioniere der 60er Jahre als trübe Tassen und Langeweiler abgeschrieben hätten. Townshend, dessen Herzenswunsch „I hoope I die before I get old“ sich nicht erfüllt hatte, widersprach. „Du mußt dich damit abfinden, Paul“, sagte er. „Pop ist nun mal die Spielwiese der Jugend Musik und Stil lassen sich im Popbereich nicht trennen. Und dieses Gefühl für Stil – die typische Arroganz und der Riecher für ausgefallene Klamotten – ist ein Monopol der Jungen. Selbst die beste Faltencreme schafft es nicht, Typen wie dich und mich wieder verjüngt auf die Bühne zu bringen.“
Townshend trank seinen Orangensaft aus und verabschiedete sich. Er mußte früh aufstehen, um für seinen Schreibtisch-Job im Verlagsgebäude von Faber & Faber fit zu sein.
Die Jungs von Spandau Duran, glitzernd und elegant, eine Champagner-Flasche unterm Arm, entschwanden in die lange Nacht der Londoner Clubwelt.
So war das damals. Wenn man heute die „New Romantics“ erwähnt, weckt das bei ehemaligen Anhängern dieses Trends im besten Fall einen schwachen Schimmer der Erinnerung, denn Stilbewußtsein ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Der Gedanke, eine Band könnte sich tatsächlich ernsthaft Style Council nennen (was machen die eigentlich? Stilberatung?) erscheint geradezu lächerlich. Und Paul McCartney befindet sich trotz Übergewicht und noch mehr Falten wieder auf Tour.
Auch die Who locken wieder hunderttausende von Zuhörern an, denen Townshends lebenslange Beschäftigung mit den Gesetzen der Mode seit den Tagen der Mod-Dandys herzlich egal ist. Wie die Künstler aussehen, mag früher mal von entscheidender Bedeutung gewesen sein -heutzutage ist es eine Nebensache, die höchstens noch die Musiker interessiert, wenn sie sich morgens im Rasierspiegel betrachten.
Pop-Symbole? In den Staub mit ihnen! Symbolträchtig ist in diesem Zusammenhang Elton Johns Verkauf seiner Brillensammlung. Reginald Kenneth Dwight klammerte I sich schon immer an seinen exzentrischen Stil wie an eine Rettungsinsel – in der verzweifelten Hoffnung, Glam-Rock-Phantasiekostüme könnten die Aufmerksamkeit von den eher unästhetischen Merkmalen seines Aussehens ablenken.
Die glitzernde, tuntige Maske vieler Rockstars gehörte zu einer koketten sexuellen Ambivalenz. „Wie schwul sind diese Jungs?“, fragte sich die Welt fasziniert. Die Attraktivität der „unartigen“ Bisexualität hat mittlerweile wegen AIDS jedoch ganz gehörig gelitten, und schwule Popstars legen keinen Wert mehr darauf, als auffallend anders zu gelten. Daraus erklären sich die Rückkehr von Boy George zu simplen Jeans und T-Shirts ebenso wie die Arbeitsklamotten der Communards und Elton Johns späte Selbstbejahung als glatzköpfiger Zwerg mit fettem Arsch.
Er ist häßlich, aber talentiert. So sieht das Ende einer wilden Ära aus.
Diese Entglorifizierung ist ein mächtiger Trend (oder besser Untrend), der alle Spielarten der Popmusik und ihres Umfelds erfaßt hat. Im Heavy Metal mußten aufgedonnerte Gestalten wie Twisted Sister (noch mehr sexuelle Ambivalenz), Mötley Crüe und Ratt bodenständigeren Bands wie Guns n‘ Roses, Metallica und Anthrax weichen, deren Musiker allesamt kompetent genug sind, um es auf die Titelseite des Fachmagazins „Guitar Player“ zu schaffen. Keine toupierten, gel-gestützten Frisuren – nur der richtige Sound zählt.
Living Colour, die erste schwarze Hardrock-Band, singt nicht darüber, wer es mit wem treibt, all night long, baby, sondern über die Rechte von Slumbewohnern und die Gefahren des „Cult Of Personality“: Folgt nicht uns, folgt niemandem, sondern denkt selbständig. Im Rap beschränkt sich das Stilbewußtsein der Musiker normalerweise sowieso nur darauf, die Baseball-Mütze verkehrt herum zu tragen. Und auch die sozialen Inhalte – jagen wir die Crackdealer zum Teufel, laßt uns ohne Drogen unseren Spaß haben – würden durch die Unterwerfung unter einen offenkundig dekadenten oder bourgeoisen Lebensstil unglaubwürdig werden. Wenn Rap die Straße reflektieren soll, darf er die Straße nicht verlassen, oder er läßt sein Publikum dort zurück. Im weißen amerikanischen Rock versetzten drei wichtige Underground-Bands, die später sehr bekannt wurden, der Stil-Versessenheit der Popmusik bereits Anfang der 80er Jahre einen dreifachen Schlag in die Magengrube: R.E.M., Hüsker Dü und die Replacements. Diese drei Gruppen weigerten sich standhaft, ihre Hemden ordentlich in die Hose zu stecken; sie trugen die Haare so, wie sie gerade wuchsen, und rasierten sich nur einmal die Woche. Außerdem vertraten sie einen aus seligen Hippie-Zeiten herübergeretteten Idealismus, der mittlerweile zur Tagesordnung gehört.
„Let’s put our heads together, and start a new country up“ (laßt uns die Köpfe zusammenstecken und ein neues Land aufbauen), sang Michael Stipe vage und naiv. Das Charisma der Musiker von R.E.M. und der in ihrem Geleit folgenden Bands basierte auf einem erfrischenden Mangel an Künstlichkeit, auf der Unfähigkeit der Kleinstadt-Kinder, etwas anderes als sich selbst darzustellen. Die frühen R.E.M.-Videos, körnige Do-it-yourself-Geschichten in Schwarzweiß, wichen krass von der MTV-Hochglanznorm ab, was jedoch weniger Absicht war, sondern vielmehr die Scheu der Band vor dem Medium widerspiegelte.
Berührungsängste anderer Art gab’s im folgenden Fall: In den Büros von Elektra/Asylum in Los Angeles versammelte sich vor einiger Zeit ein erlesener Kreis tatkräftiger Yuppie-Manager, um ein lebenswichtiges Problem zu debattieren. Die A&R-Abteilung der Plattenfirma hatte soeben 10.000 Maniacs eingekauft, und diese Band sah einfach furchtbar aus. Gesichtslos. Nein, noch schlimmer: stillos. Fieberhaft wurden in den Zeitplanern geblättert, auf der Suche nach einem Berater, der dieser Malaise abhelfen könnte. „Aha“, sagte einer, „ich hab’s. Wir holen DEN MANN, DER HUMAN LEAGUE STYLTE.“ Mit dem nächsten Erster Klasse-Flug traf der berühmte Spezialist ein, um die Band zu inspizieren, die sich – ganz und gar keine Spielverderber – für guten Rat empfänglich zeigte. Na gut, wenn Hits nur eine Frage der richtigen Hosen sind, dann tragen wir sie eben.
DER MANN, DER HUMAN LEAGUE STYLTE, warf einen einzigen Blick auf 10.000 Maniacs und lachte, bis ihm die Tränen kamen. „Tut mir leid“, keuchte er, „für euch kann ich leider überhaupt nichts tun. Um die Wahrheit zu sagen, ihr seid ein Haufen Hinterwäldler. Landpomeranzen. Ich kann euch nicht helfen; an euch wären sämtliche Styling-Maßnahmen verschwendet.“
„Oh Mist“, sagten sich die Maniacs ein wenig niedergeschlagen und ohne einen blassen Schimmer, daß Stillosigkeit der nächste Trend werden sollte. Ihre Laune besserte sich, als ihr Album IN MY TRIBE verkaufsmäßig langsam in Richtung Platin marschierte – nahezu ausschließlich deswegen, weil nicht im Trend liegende College-Radiostationen es spielten.
Gleichzeitig pries die Rockpresse im ewig trendbewußten London eine stilbesessene Band nach der anderen – und mußte dann mit Bestürzung zusehen, wie diese Favoriten eine Bauchlandung nach der anderen hinlegten. Sigue Sigue Sputnik, Gaye Bikers On Acid – die Journalisten sangen ihr Loblied. Alle sahen hinreißend aus und verfügten über die tollsten Presseerklärungen und Werbekonzepte zur Eroberung der Welt. Diese Bands wiesen alle erdenklichen Vorzüge auf, außer vielleicht gute Musik – aber gute Musik war schon lange nicht mehr ausschlaggebend für den Charts-Erfolg. Die Platten kaufende Öffentlichkeit jedoch schaltete in kollektivem Einverständnis auf stur und weigerte sich, die Kohle lockerzumachen: Nein danke, wir kaufen nichts.
Da Popmusik schon immer ein Barometer für Klimaveränderungen im Life-Style war, liefen Schockwellen durch die Mode- und Verlagswelt. Londoner Zeitschriften wie „The Face“, „I.D.“ und „Blitz“ (und natürlich auch ihre deutschen Nachahmer, wie „Tempo“) sahen sich gezwungen, Layout und Konzept zu ändern.
„I.D.“ stellte beispielsweise kürzlich von Hochglanz- auf Mattpapier um und verpaßte der nervigen Grafik einen Eisbeutel. Außerdem erschien ein Sack-und-Asche-Editorial, betitelt „Life Beyond Style“, in dem angedeutet wurde, die Zeitschrift hätte ihre Leser womöglich während der vergangenen Jahre auf einen falschen Kurs geführt. „Stil“, so gab man zu, „ist zu einer Massenware geworden, reproduzierbar und in handlicher Verpackung, mit der sich alles vom Lebensstil bis zum Lagerbier verkaufen läßt.“
Alle, die sich in den 80ern bisher unermüdlich auf Kreuzzug unter dem Banner des Stils befanden, verlassen nun das sinkende Schiff in hellen Scharen – ein amüsanter Anblick. Nachdem sie ihre Karriere auf dem Versuch aufbauten, kurzlebiges Vergnügen in ewige Werte umzumünzen, sind sie auf einmal emsig bemüht, aus ihrer Rolle als Hohepriester des Stils zu schlüpfen und sich gleichzeitig einen Hauch von Würde zu bewahren.
Meistens fallen sie damit auf die Nase: Wie Modedesignerin Maria Cornejo, die sagt “ Trend ist ein negativer Ausdruck – das ist das Letzte, was ich heute will“. Diese Haltung teilt Pam Hogg, eine Designerin, die sich ihren Ruhm als modisches Mastermind hinter dem englischen „Blitz“-Club erworben hat. Augenscheinlich mit Humor gesegnet, war sie es, die Spandau Ballet in Schottenröcke steckte.
Obwohl es schwierig wäre, Pam Hogg als „stillos“ zu bezeichnen – derzeit kleidet sie sich in ein durch Johanna von Orleans inspiriertes Amazonen-Kostüm – hat sie ihre Einstellung zur Bedeutung von Mode gründlich geändert: „Das Wort Trend verursacht mir Brechreiz, weil es die schlimmste Art von Mode beschreibt – eine Mode, die vollkommen blind ist, nicht auf die Individualität des Einzelnen eingeht und die Leute nicht selbst denken läßt. „
Dieser selbstkritische Ton überzeugt zwar nicht sehr, ist aber längst nicht so lachhaft wie Richard Jobsons Bekenntnis. Erinnert sich jemand an Richard Jobson? Er war Leadsänger der Skids und der unglaublich prätentiösen Armoury Show und firmiert neuerdings als „Poet“ und Fotomodell. Hier haben wir ihn, in all seiner Weisheit: “ Großkotze sind out. Bis letztes Jahr stand ich auf Autos, Bars und Maisonette-Wohnungen. Ich hab‘ mein Jahr als Dinky (Double Income No Kids) hinter mich gebracht und dabei alle meine Freunde verloren. Aber das ist jetzt vorbei. Meine jetzigen Freunde sind Klempner, Schaufenster-Dekorateure, Barkeeper und Fußballspieler, keiner hat was mit den Medien zu tun.“
Robert Elms, Schriftsteller, Ex-Freund von Sade und Mitarbeiter der Zeitschrift „Face“, war einst einer der glühendsten Verfechter des Stils. In einem „Face“-Artikel vertraten er und der konservative Jazz-Trompeter Wynton Marsalis die Auffassung, es gebe nur wenige Dinge, die wichtiger wären als ein gutsitzender Anzug. Neben der Befriedigung der Grundbedürfnisse – nämlich genug zu essen und zu trinken – gebe es nur noch Stil, sagten sie. Stil ist der Sinn des Lebens.
Heute sagt Elms: „Es gibt eine starke Gegenbewegung zu Design und Etiketten.“
Im Rock rührten Wohltätigkeitsaktionen wie Live Aid und Band Aid, bei denen sich Künstler unterschiedlichster Couleur trafen, zum Untergang des Stils. Bis dahin hatte sich das Publikum immer sehr parteiisch verhalten. Wer auf Punk stand, konnte kein Folk-Fan sein und hatte tunlichst auch für Hitparaden-Pop nur ein Naserümpfen übrig. Der Lebensstil des echten und überzeugten Fans – von der Kleidung bis zur bevorzugten Droge – hing mehr oder weniger von der Musikrichtung ab, die er verehrte.
Heute jedoch singen Iggy Pop und Belinda Carlisle, Jon Anderson und Joey Ramone zusammen zur Rettung des Regenwaldes. (Als treuer Iggy-Pop-Gefolgsmann beispielsweise bist Du jetzt reichlich aufgeschmissen. Deine unbefleckte Plattensammlung wird auf einmal durch den Leadsänger von Yes verunreinigt.) Bruce Springsteen schmettert ins selbe Mikro wie Youssou N’Dour (auf der Human-Rights-Tour), U2 tritt mit Queen auf (im Live-Aid-Chor), Harry Belafonte mit Bob Dylan (USA For Africa) und Van Morrison mit Cliff Richard (für Jesus) – und plötzlich werden alle Unterschiede, die bisher Identität und Stil der verschiedenen Pop-Richtungen definierten, bedeutungslos.
So unterschiedliche Musiker wie Lou Reed und die Grateful Dead machen Werbung für Greenpeace. Auf der letzten R.E.M.-Tour konnte man sich bei jedem Gig an zwei Greenpeace-Ständen informieren. Die schottische Soul/Pop-Band Hue And Cry erklärte, ihre Plattencover würden in Zukunft aus Recycling-Papier hergestellt (womit die beiden nicht ganz so weit gingen wie Neil Young, der in der Countryrock-Ära verlangte, das Cover zu HARVEST solle aus Vollkorn bestehen. „Wir haben’s wirklich versucht. Neil“, logen die Drucker, „aber die Hülle fing an zu krümeln, als wir sie bedrucken wollten.“) Patrick Kayne, Sänger von Hue And Cry, sagt: „Ökologisches Image und ökologischer Stil werden mit dem herkömmlichen Stildenken aufräumen.“
Zurück zur Natur und rauf auf die Bühne, so wie Gott uns geschaffen hat: Diese Haltung vertritt besonders extrem Neneh Cherry, die ihre Promo-Fernsehauftritte für „Buffalo Stance“ im siebten Monat absolvierte und dann, mit dem Baby auf dem Arm, im Video zu „Manchild“ wieder auftauchte.
Parallel zu ihrem Ringen um eine saubere Welt haben viele Musiker auch mit der Entgiftung ihres Privatlebens begonnen. Neuerdings heißt es, daß man in Los Angeles Musiker nicht mehr in Rock’n’Roll-Schuppen wie der „Rainbow Bar“ findet, sondern in der „Ortsgruppe West-Hollywood der Anonymen Alkoholiker“ oder beim Drogen-Therapeuten.
In London verursachten die Cowboy Junkies aus Kanada im verganenen Monat einen Ansturm auf die Vorverkaufsstellen. Die ausgefallenste Sache an der Band ist ihr Name. Weder Cowboy noch Junkies, hocken sie um eine Kerze und spielen introvertierte, hauptsächlich akustische Folk- und Country-Musik. Ihr Debüt-Album nahmen sie in einer Kirche mit nur einem Mikrofon und mit Hilfe des natürlichen Echos des Gebäudes auf. Eine Band, die sich noch weniger an Stil orientiert, läßt sich wohl kaum finden. Und trotzdem haben die Cowboy Junkies weltweit bisher fast eine Million Platten verkauft.
„Es gibt eine Menge Haltungen im Rock’n-‚Roll, mit denen wir nicht einverstanden sind“, sagte Leadgitarrist Michael Timmins einem Londoner Journalisten. „Sie haben nichts mit der Musik zu tun. Das ist alles oberflächliches Zeug; es geht nur darum, ein bestimmtes Image rüberzubringen.“
Das ist eine bestechende Logik – so viel mußte der Reporter von der „Sunday Times“ zugeben. Aber er beeilte sich hinzuzufügen: „Die Zukunft sieht ziemlich eintönig aus. „
Das gilt sicher für all jene Musikjournalisten, die es sich jahrelang erlauben konnten, über sämtliche Aspekte der Szene zu schreiben – außer über den Inhalt der Musik. Sollte Stil tatsächlich ad acta gelegt werden, dann werden die meisten von ihnen ziemlich in der Klemme sitzen, da sie nie gelernt haben, sich mit den Songs oder dem Talent der Musiker zu beschäftigen.
Sie sollten sich nach einem neuen Job umsehen und so lange ausharren, bis sich herausstellt, daß die Abkehr vom Stil doch nur ein weiterer Stil war. Bis eines schönen Tages am Horizont die nächste, ungeheuer neue und unglaublich hochmodische Pop-Kollektion auftaucht.