Abitur und dann?
Nachdem sich ME in früheren Ausgaben mit der Situation von Haupt- und Realschulabgängern befaßt hat, sind heute die Oberschüler an der Reihe. Denn überall hört man die gleichen Fragen: Hat das Abitur überhaupt noch einen Sinn? Was kann man damit heute anfangen?
Nachdem sich ME in früheren Ausgaben mit der Situation von Haupt- und Realschulabgängern befaßt hat, sind heute die Oberschüler an der Reihe. Denn überall hört man die gleichen Fragen: Hat das Abitur überhaupt noch einen Sinn? Was kann man damit heute anfangen?
Eintrittskarte für die europäische Kultur Früher war die Sache klar. Für gehobene Kreise und die. die sich dazu zahlten, fing der Mensch erst beim Abitur an. Aus der Reifeprüfung, erstmals 1788 in Preußen exerziert, wurde im Laufe der Zeit nicht nur der Nachweis, daß man zum Studium befähigt sei. Das Abitur wurde zum Ausweis der Gebildeten und verhalf zu ähnlichem Prestige, wie ein Doktortitel bis heute. Meyers Konversations-Lexikon von 1896 widmete dem Stichwort „Reifeprüfung““ eine ganze Seite, und man erinnert sich noch an die Diskussion mit Franz-Josef Strauß, in der er vor Jahren öffentlich seinen Kontrahenten fragte, ob er überhaupt Abitur hätte.
Auch heute noch Bildungsnachweis Daran hat sich nichts geändert, wie wir in einer Umfrage unter Oberschülern feststellen konnten. Über 60% bezeichnen das Abitur als gleichbedeutend mit „Bildungsnachweis“, je 20% sehen einen „Schlußpunkt hinter die Schule“ und den „ersten Schritt zu viel Geld“.
Leute mit Abitur werden zu 52% als gebildet, zu 37% als intelligent und zu 35% als fleißig bezeichnet. Nur 9% der Befragten sprachen Abiturienten Kreativität zu.
Womit das Abitur nach Meinung der befragten Oberschüler wenig zu tun hatte, wurde mit einer Negativ-Auswahl ermittelt: 70% meinten, das Abitur habe nichts mit musischen Fähigkeiten zu tun, 63% vermißten Phantasie und überraschend hohe 41% „Faktenwissen ä la Fernsehquiz“.
Zu den Dingen, die sie am meisten während der Gymnasialzeit vermißten, gehörten praktische Kenntnisse und F.rfahrungen, die Verbindung zum Berufsleben und Informationen über das, was nach dem Abitur kommt. Daß aber gerade diese Informationen wichtig, ja lebensentscheidend sind, steht heute außer Zweifel.
Vickv und der Eisengießer Um etwas mehr über die Situation der Oberschüler von heute zu erfahren, luden wir Ralf, Steffen, Ragnhild, Claudia, Thomas. Dietmar und Silke, sieben Gymnasiasten eines Hamburger Vororts, zu einer Diskussion ein. Und schon die erste Frage zeigte, wie realistisch und kritisch das beurteilt wird, was in den Medien über das Berufsleben verbreitet wird. Nach dem Grundgesetz ist die freie Berufswahl garantiert. Stimmt das?
„Wer kann sich das heute schon noch aussuchen?“ fragte Thomas rhetorisch, und Steffen erinnert sich: „Wir haben da mal einen Film gesehen, „Reicht der Reichtum für alle?“. Die meinten da, es könne heute jeder werden, was er will, und zeigten dann als Beispiele u.a. Vicky Leandros und einen Eisengießer. Und dann meinten sie, nur der Eisengießer wäre geworden, was er werden wollte, er hätte unheimlichen Bock auf seinen Job gehabt.“
Der berüchtigte Numerus Clausus Nach der „Abiturientenbefragung ’74“ wollen rund 85% der Abiturienten studieren. Doch zu Beginn des letzten Wintersemesters wurden rund 70000 von ihnen abgewiesen. Wieso?
Früher, d.h. vor etwa zehn Jahren, konnte jeder das Fach seiner Wahl studieren (Ausnahmen schon damals: Medizin und Pharmazie). Dann begann die große Werbung fürs Abitur, man setzte Abitur mit Bildung gleich, sprach vom Nachholbedarf, und Politiker benutzten sogar die Abiturientenquote ihres Wahlkreises oder Bundeslandes zu Wahlpropagandazwecken. In der Folge sank das Niveau des Abiturs, und trotz zahlreicher Uni-Neugründungen überstieg die Zahl der Studienwilligen bald die Kapazitäten.
Mehr Leistungsdruck in der Schule
Jeder kann sich nun anhand seiner Zensuren die Studienchancen ausrechnen. Im Schnitt kommen auf einen Studienplatz vier Bewerber. Die Unsicherheit der Oberschüler hat niemand verringert, sie wurde nur größer, denn durch den Wegfall der Aufnahmeprüfungen kann prinzipiell jeder aufs Gymnasium gehen.
Ragnhild: „Wenn die Eltern wollen, daß man Abitur macht, dann geht man eben aufs Gymnasium.“
Steffen: „In unserer Klasse gingen 50% weiter auf die Oberschule, dann ist die Hälfte erst mal runtergeflogen.“ Ralf: „Und nun wird noch mit dem neuen Punktesystem aussortiert.“ Bekanntlich ist in manchen Bundesländern mit der Oberstufenreform das Punktesystem eingeführt worden, bei dem nicht mehr mit Zensuren, sondern mit Leistungspunkten beurteilt wird. Am Ende der Oberstufensemester wird wegen der bundesweiten Vergleichbarkeit – wieder in Zensuren umgerechnet. Thomas: „Durch das Punktesystem ist der Leistungsdruck viel größer geworden.
Claudia: „Mir wird der Klassenverband sehr fehlen. Da vermißt man einfach die Hilfe untereinander, weil jeder nach Punkten jagt.“
Und fla//gibt zu bedenken: „Will der Staat eine intelligente Elite oder eine große Masse mit Abitur haben? Mit der Masse weiß man nicht wohin, also wird die Auswahl verschärft.“
Das neue System scheint Alleingänger und „Einzelkämpfer“ im Gymnasium zu unterstützen. Jeder gegen jeden, Bildungscatch nach Punkten. Könnte eine Schülerlobby da was ausrichten? Thomas: „Was haben die denn für Mittel in der Hand? Streiken etwa?“ Dietmar: „Dann wird mit Polizei und Bußgeld gedroht.“
Was machen diejenigen, die den erforderlichen NC-Durchschnitt nicht erreichen? Welche Alternativen gibt es heute für Abiturienten? Steffen: „Viele gehen zur Bundeswehr oder zur Polizei.“
Claudia: „Man kann eine praktische Ausbildung im Krankenhaus anfangen.“ Silke: „In einigen Berufen wird man eher genommen als z.B. Realschüler.“ Dietmar: „Man kann eine Lehre anfangen.“
Auf die Frage, ob sie sich schon mal intensiver mit den verschiedenen Möglichkeiten beschäftigt haben, mußten Steffen und seine Freunde passen. Wie so viele Gleichaltrige glauben sie, der Kelch des NC und der schwerwiegenden Berufsentscheidung werde ihnen noch irgendwie versüßt. Bis zum Abi sind’s ja noch viele Monate Zeit, da wird sich schon was ändern. Zu hoffen wäre es, aber die Realität spricht dagegen. So sprechen die Trendberechnungen des 4. Rahmenplanes zum Hochschulbau immerhin von 130000 Studienwilligen, die bis 1978 keinen Platz an einer deutschen Hochschule erhalten werden.
Was kann der einzelne tun? Warten ist sicherlich keine gute Lösung und außerdem nur eine Möglichkeit für Leute mit Geld. Ebenso der Trick mit den Privatschulen, auf die manche rechtzeitig vor dem Abitur wechseln, um dann mit einem besseren Notendurchschnitt bessere Studienchancen zu haben.
Seit Jahren verzeichnen unsere Nachbarländer, besonders Österreich und die Schweiz, ansteigende Zahlen deutscher Studenten. Damit das deutsche nicht zu einem europäischen Problem wird, wurden in vielen europäischen Ländern drastische Maßnahmen getroffen oder sind in Vorbereitung. Doch prinzipiell ist ein Studium an euroiüncIkii l’niwp-itiitcn möglich. Auslandsstudienführer gibt der DAAD heraus (53 Bonn-Bad Godesberg 1, Kennedyallee 50); detaillierte Informationer holt man sich besser bei der Uni seiner Wahl.
Das Angebot ist knapp; es liegen derzeit knapp 2000 Ausbildungsplätze in ca. 40 Firmen bzw. Ausbildungsrichtungen vor. Im allgemeinen gilt, daß man sich so früh wie möglich mit der Firma seiner Wahl in Verbindung setzen muß, mindestens aber sechs Monate vor Ausbildungsbeginn.
Die Dauer reicht von der einjährigen betriebswirtschaftlichen Ausbildung bei der AEG über die zweijährige Ausbildung zum Strahlenschutzassistenten bei der Karlsruher Gesellschaft für Kernforschung bis zum etwa fünf Jahre dauernden Weg zum staatlich anerkannten Ingenieur grad. bei den Farbwerken Hoechst. Erfahrungsgemäß war das Verhältnis Bewerber zu Eingestellten bei der AEG 1:1, beim Waschmittelkonzern Henkel 7:1 und z.B. bei Daimler-Benz 20:1.
Eine Zusammenfassung des Angebotes betrieblicher Ausbildung veröffentlichten die Hefte 9/74 und 10/74 der Zeitschrift „aspekte“ (aspekte-Verlag, 6 Frankfurt 1, Am Dornbusch 9).
Das gilt ganz besonders für das eigene Berufsleben. Wartet nicht, daß andere Euch Informationen frei Haus liefern. Nach mehrstündiger Diskussion gestand Dietmar: „Ich glaube, mir geht das ganze Problem erst jetzt richtig auf.“ Und Steffen schlägt vor: „Auf jeden Fall muß sich jeder selbst darum kümmern.“
Erfahrene Berufsberater des Arbeitsamtes bemängeln immer wieder.
daß Abitunenten oder Realschüler erst dann zu ihnen kommen, wenn sie auf eigene Faust erfolglos waren. Wer unter den heutigen Bedingungen den Spielraum für Eigeninitiativen ausnützen will, sollte nicht erst nach dem Abituraufsatz aktiv werden. Neben der Information durch Presse, Funk und Fernsehen ist der Gang zum Abiturientenberater wichtig. Eine Dienststelle des Arbeitsamtes gibt es überall, und dort könnt Ihr Euch Tips und Broschüren holen. Zum Beispiel „step“. eine Broschüre zum Selbst-Durcharbeiten, die in verständlicher Form das Wichtigste über verschiedene Ausbildungen bietet, und mit der man sich selbst testen kann. Dann gibt es spezielle“.Blätter zur Berufskunde“, in denen einzelne Berufe mit allem Drum und Dran beschrieben weiden (Anforderungskarten beim Arbeitsamt). Nochmals weisen wir auf die Zeitschrift „aspekte“ hin. die wirklich ihre zwei Mark monatlich wert ist. Und in der beliebten Reihe des“.Fischer-Kolleg“ ist neben dem Abitur-Wissen auch ein Band zur Berufswahl erschienen.
Fazit: Wenn dann immer noch jemand sein Abiturienten-Wissen zitiert „hier steh‘ ich nun. ich armer Tor. und bin so schlau als wie zuvor“ —dann ist er selber schuld.