Urzeit-Pop aus den Archiven
Wie das von Damon Albarn mitbetriebene Londoner Label Honest Jon's die Geschich- te der Black Music in Großbritannien-und demnächst noch ein paar mehr-aufrollt.
Man sollte erst gar nicht versuchen, einen Fußball an das andere Ende dieser Halle zu schießen, so groß ist sie. Die riesigen Regale werden von Rädern bewegt. Und was sich in diesen Regalen befindet, entlockt Mark Ainley immer noch ein Staunen. Seit anderthalb Jahren geht Ainley im EMI-Archiv in Middlesex ein und aus, auf der Suche nach den vergessenen Musikschätzen desfrühen 2O.Jahrhunderts. Denn neben den Beatles, den Beach Boys, Pink Floyd und Blur finden sich im gigantischen Archiv der einst stolzen Musikmacht EMI („His Master’s Voice“) zum Beispiel etwa 150.000 schnelldrehende – 78 rotations per minute -Schallplatten aus der Schellack-Ära. Musik, die sogar am britischen Publikum vorbei rauschte, weil sie einst für Märkte in Afrika und im vorderen Orient bestimmt war. „Das ist ein sehr eigenartiger Ort“ erzählt Ainley. „Niemand führt dich durch diese immensen Archive. Du musst dir schon deine Hände schmutzig machen, wenn du nach den alten 78ern suchst. Die Papierhüllen lösen sich in Staub auf wenn du sie anfasst“
Ainley ist weder Archivar noch Pop-Wissenschaftler. Er betreibt mit Partner Alan Scholefield und dem afrikaphilen Popstar Damon Albarn seit sechs Jahren das Londoner Label Honest Jon’s. Mit wachsendem Erfolg aus dem kleinen Plattenladen am Ende der Portobello Road ist eines der führenden Liebhaber-Labels für Afrobeat, Calypso(LONDON is the place for ME),Reggae, Soul und Pop linksseitig des Mainstreams geworden. „Es mag schon sein, dass der Name Damon Albarn die Aufmerksamkeit auf unser Label lenkt, aber auch der Laden und das Label beeinflussen Damon.“
Albarn forscht seit seinem Mali Music-Album in den Musikszenen Afrikas. Ainley, der auch die studio ONE-Reggae-Compilations für das Label Soul Jazz zusammenstellt, unterfüttert die aktuellen News mit den weithin verlorenen „Erzählungen“ der Roots-Musik. Was vor knapp 100 Jahren kein „Pop“-Thema war, kocht nun dank Albarn und dem Hipness Faktor von Honest Jon’s auf heißer Flamme. Ainley möchte in lockerer Reihenfolge dem nach Authentizität gierenden Indie- Publikum neue Musik-Welten öffnen: mit den Liedern der Migranten und Niedriglohnarbeiter im Großbritannien Anfang des vorigen Jahrhunderts, dem rauen Blues der afrikanischen Einwanderer, der auf dem gerade veröffentlichten Sampler LIVING IS HARD-WESTAFRICAN MUSIC IN BRITAIN 1927-1929 zu hören ist.
Ein „Einstieg in die History der Black Music Großbritanniens , meint Ainley.
Die Tage im EMI-Archiv seien schon eine Fleißarbeit, findet der rastlose Compiler.“Doch der Aufwand lohnt sich. Was ich hierzu hören bekomme, hat mein Verständnis von Popmusik verändert. Seitdem ich zum Beispiel diese Orchestersounds aus Albanien kenne, höre ich auch Velvet Underground und John Cale ganz anders.“ Die Musik ist größer als deine Vorstellung. So lautet Ainleys Botschaft. Seine nächste Zusammenstellung aus der EMI-Archiv-Reihe lockt mit Musik aus dem Irak, die darauf folgenden Themensampler hat Ainley schon im Kopf: „Ghanaians In London 1929“, Musik aus dem Kaukasus, aus Griechenland und Osteuropa. Er wird die Räder in den Regalen bewegen, solange die EMI ihn lässt.
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