2000-2015: Die 50 besten Alben des neuen Jahrtausends
Wir haben die 50 besten Alben aus den Jahren 2000 bis 2015 ausgewählt und gerankt – wie es sich gehört. Und dann haben unsere Autoren aufgeschrieben, weshalb es genau diese 50 Platten sind – und keine anderen.
1. The Libertines – UP THE BRACKET (2002)
Rockmusik ist ja eher so die CSU der Popkultur. Der Rock’n’Roll hat seit ein paar Jahrzehnten ein kleines Innovationsproblem. Er kann sich nicht aus sich heraus erneuern, weil er als erzkonservative Kunstform stark limitiert ist, sich deshalb Innovationen bewusst verweigert, weil schon der leichteste Versuch der Erneuerung ihn schnell aus seiner Umlaufbahn schießen könnte, und dann wäre der Rock kein Rock mehr. Genauso wie die CSU nicht mehr die CSU wäre, wenn sie „Ja“ zur gleichgeschlechtlichen Ehe sagen würde.
Aber der Rock ist ja keine Partei und zieht sich regelmäßig am eigenen Schopf aus dem Innovationsdilemma. So hat er eine allgemein anerkannte Methode entwickelt, die zwar nichts mit Neuerfindung zu tun hat, aber die alle zehn oder so Jahre angewandt wird, damit die Menschen denken, er hätte sich neu erfunden: Neue, jugendliche Bands, geben mit größtmöglicher Selbstverständlichkeit vor, sie wären die erste Rockband aller Zeiten. Sie recyclen die Haltung, die der Haltung und dem Image nahekommen, die der archetypische Rock in den 50er-Jahren eingenommen hat: als eine Gefahr für die Erwachsenen, als Mittel der Abgrenzung gegenüber Erwachsenen jeden Alters, als Kennzeichen einer Stammeszugehörigkeit und als ein donnerndes „Leck mich am Arsch!“ für den Rest der Welt, für die armen Idioten, die das nie kapieren werden.
In New York wurde die Rolle dieser Fake-Neuerfinder Anfang der Nullerjahre von The Strokes übernommen, und die halbe Welt spielte verrückt. Aber es dauerte nicht lange, bis das Mutterland des Pop seine eigenen Strokes hervorbrachte. The Libertines, vier Lads aus London, die mit „What A Waster“ eine der stärksten Debütsingles der jüngeren Vergangenheit veröffentlicht hatten – einen Song, in dem mehrfach das im englischen Sprachraum immer noch nicht wohlgelittene Wörtchen „cunt“ benutzt wurde. Allein daran sah man, dass Carl Barât, Pete Doherty, John Hassall und Gary Powell anders waren, als ihre amerikanischen Artverwandten, nicht so akademisch, sondern ein bisschen abgefuckt, immer ein wenig neben der Spur. Und dann war da noch diese Liebe zwischen dem Junkie Doherty und Barât, die bald schon zu einer Hassliebe werden würde und nach kurzer Zeit das Ende der Band bedeutete.
Das Debütalbum UP THE BRACKET war eine Urgewalt. Der Produzent, der ehemalige The-Clash-Gitarrist Mick Jones, hatte die Band einfach spielen lassen: Power-Rock, der mit Punk-Spirit, also immer etwas „unsauber“, gespielt wurde, mit aggressiven Gitarren und Kompositionen, die vor Lebendigkeit hüpften und sprangen und in alle Richtungen aufbrachen, dezente Spuren von Jazzyness und Einflüsse von Brit-Folk zogen sich durch die Songs. UP THE BRACKET hatte ungeahnte Folgen: Eine Band, die die Instrumente nicht richtig beherrschte, die auf der Bühne die eigenen Songs verhunzte, zwei bedrogte, besoffene Sänger, die nicht richtig singen konnten, aber deren Einstellung so originär punk war, wie lange nichts vor ihnen – fertig war das role model für die Indie-Band der Nullerjahre. Wenn die das können, können wir das auch, dachten sich die anderen und gründeten ihre eigene Band. The Libertines brachten die Summe aus vier Jahrzehnten britischer Popmusik auf den Stand von 2002. Die ganz Alten fühlten sich an die frühen Kinks erinnert und die nicht ganz so Alten an The Clash und The Smiths. Und die Jüngeren an den Britpop der 1990er-Jahre. Und wer Ohren hatte zu hören, der hörte das beste Gitarrenalbum der Nullerjahre. (Albert Koch)