Zirkus Maximus mit viel heißer Luft
Über die European Music Awards gibt es nicht viel zu erzählen. Über die launigen Details abseits des roten Teppichs schon. Ein Protokoll aus Rom.
Wir befinden uns im Jahr 2004 nach Christus, es ist 20:45 Uhr, eine Viertelstunde vor Showbeginn. Der ganze Backstage-Medienbereich der MTV European Music Awards ist von Journalisten besetzt … Der ganze Medienbereich? Nein! Ein von unbeugsamen römischen Uniformierten bewachtes Grüppchen steht noch draußen vor den Toren des eingezäunten Geländes und friert: eine einheimische Vertreterin von „Gossip News“ aus Mailand, zwei Damen von der Deutschen Presseagentur DPA und der Abgesandte des ME. Ohne diesen einen Aufkleber, wird ihnen wieder und wieder erklärt, der aus unerfindlichen Gründen auf der Rückseite ihrer High-Tech-Pässe fehlt, gibt es hier kein Durchkommen. „Typisch. TYPISCH Italien“, schimpft die Kollegin aus Mailand und die Nicht-Italiener in der Gruppe blicken betreten zu Boden.
Die Anreise war bereits eine einzige Katastrophe gewesen. Ein kaum beleuchtetes eisernes Tor – es ist der Ambulanz-Eingang- bleibt die letzte Hoffnung auf Einlass. Eine gute halbe Stunde lang sind die Medienvertreter an den riesigen Zäunen auf- und abgewandert, waren von Tor zu Tor geschickt und überall abgewiesen worden. Wohl aus Mitleid hatte ein freundlicher Ordner schließlich am Sanitätseingang seine Anweisungen ignoriert und die mit Pässen mit Aufklebern gesegnete Schar von über 50 Journalisten – die bereits zu spät angekommen war, nachdem sich der Busfahrer aus Neapel auf der Strecke vom Akkreditierungsbüro zum Stadtrand so verfahren hatte, dass die Reise knapp zwei Stunden gedauert hatte – aufs Gelände gelassen.
Je näher der Showbeginn rückt, desto schlechter wird die Moral bei den vier Abgewiesenen. Zwischen verzweifelten Vorstößen, bei denen der längst wieder versteinerte Wachtposten abwechselnd bequasselt, bezirzt und angeschrien wird, sammelt sich die kleine Gruppe immer wieder im Mondschein unter einer Platane, um neue Pläne zu schmieden. Nervöse Finger verteilen Zigaretten, Nummern von ewig belegten Telefonen der deutschen, englischen und italienischen Schlüsselpersonen der „Pressebetreuung“ werden ausgetauscht. Das DPA-Duo ist kurz davor, die Fassung zu verlieren. Seine Mission lautet, nicht nur um Mitternacht eine „ZuFa“ zu senden, sondern die Agentur auch von Beginn an mit „Highlights“ zu versorgen. Leicht panisch ruft eine der Damen schließlich ihren Chef mit der Bitte an, die Awards im Fernsehen zu verfolgen, um ihr später das Wichtigste diktieren zu können. Das Gespräch läuft nicht gut. „Wir können ja auch nichts dafür“, ruft sie irgendwann entnervt in ihr Handy, und dann „MTV! Das kriegt man über Satellit! „Ais klar wird, dass der Vorgesetzte am anderen Ende weder genau weiß, ob der Sender im heimischen TV-Gerät überhaupt eingespeichert ist und zudem offenbar „die Familie etwas anderes sehen will“, breitet sich stille Verzweiflung aus.
21:05 Uhr
Im Saal beginnt die Show mit Eminems Auftritt, im Medienzentrum plündert die Meute der Celebrity-JouTnalisten – überwiegend einer Spezies Mensch mit keinem oder bestenfalls beschämendem Musikgeschmack zugehörig („I can’t believe how good Hoobastank are“, etc.) – das Büffet und verteilt sich auf den Plätzen vor der Leinwand, über die das Spektakel in der Halle verfolgt werden kann. Knapp einen Kilometer Fußmarsch entfernt stehen DPA, „Gossip News“ und ME ratlos bei einer Fahne mit einem roten Kreuz und klammem sich an das Versprechen der englischen Medienbetreuerin, uns „so bald wie möglich „Aufkleber für unsere Pässe nach draußen zu bringen. Drei griechische Mädchen laufen vorbei und fragen in gebrochenem Englisch, was sie jetzt „machen sollen“: In Athen war ihnen doch gesagt worden, sie könnten Eintrittskarten für das Event im „Foot Locker“-Store in Rom abholen. ME ist ratlos, und die drei Mädchen weinen.
21:18Uhr
Kid Rock sagt wenig enthusiastisch Franz Ferdinand an. Erst am Ende seiner Ankündigung setzt er ein breites Grinsen auf und stellt fest: „Of all the bands in the world, they are defenitely one of them: Franz Ferdinand“. Unterdessen werden draußen, man möchte es kaum glauben, die Aufkleber verteilt. Nachdem eine der DPA-Ladies eine Szene gemacht hat, an die man sich überall außerin Italien noch lange erinnern würde, war tatsächlich ein Mann mit den kleinen weißen Stickern erschienen, die mit langen Zahlenreihen beschriftet sind. Das Grüppchen erhält Zutritt und wird in den nächsten sieben Stunden nie wieder nach den Aufklebern gefragt werden.
21:43 Uhr
Nach ausgiebigem Suchen, erneuten Zurückweisungen („No. You need blue pass!“) nehmen sich zwei fürsorgliche Mitarbeiter von MTV-Deutschland der vier verirrten Journalisten an und führen sie zurück nach draußen. Über Pfützen-gesprenkelte Kieswege erreichen sie schließlich das Medienzentmm. Ein Seufzen, ein gequältes Lächeln, und DPA und „Gossip News“ verschwinden im Stechschritt im Computer-Raum, um zwischen abgegessenen Tellern und Spinat-verklebtem Plasükbesteck Laptops zu verkabeln. Während ME die Reste des Büffets begutachtet- eine in Falten gezogene rote Tischdecke als Unterlage für fünf Tüten Chips -, wird dem auf der Leinwand zappelnden Xzibit der Ton abgedreht. Die Türe öffnet sich, ein etwas sauertöpfisch dreinblickender Kid Rock wird auf die kleine Bühne vor der gelben Wand ge- und den Journalisten vorgeführt. „Hey, Kid Rock! So good to see you „, zwitschert die aufgetakelte Zeremonienmeisterin des Medienbereichs. „Do you like Franz Ferdinand?“ Kid Rock: „Äh, ich kenn die gar nicht so richtig.“ Die Moderatorin: „Oh, die sind toll! Junge Burschen, die Retro-Musik machen und enge Hosen tragen.“ Kid Rock: „Ah. Hm. Ich mag eigentlich Frauen in engen Hosen.“ Gelächter im Medienzentrum, Kid Rock ergreift die Flucht.
22:00 Uhr
Eaman wird hereingeführt. Die Moderatorin bemüht sich um Smalltalk, aber die Presse hat keine Fragen. Er wird wieder hinausgeleitet. Linkin Park betreten die Medien-Bühne. Dann RobertSmith. Dann Alicia Keys. Frauen werden nach der Marke ihres Abendkleides gefragt, Männer nach ihrem Eindruck von Rom. Das „Backstage-Medienzentrum“ ist ein Laufsteg, auf dem die schillerndsten Exemplare ihrer Art wie im Zoo vorgeführt werden. „Ladies and Gentlemen: Usher!“ „Ladies and Gentlemen: Naomi Campell!“, etc.
22:23 Uhr
Kurz nach dem einzigen Skandal des Abends (Best Female: Britney Spears!) macht sich Amy Lee von Evanescence sympathisch: Auf die Frage, was sie trage, stülpt sie ihren Kragen nach außen und bittet die Moderatorin, das Etikett vorzulesen. Nach ihr betreten Ozzy und Sharon Osbourne die Bühne und es gibt zum ersten Mal Applaus. „Ozzy, was würdest nur ohne deine Frau machen?“,fragt ein Mann. Ozzy: „Ich würde losziehen und mir eine andere suchen.“
22:45 Uhr
Keiner merkt, dass die Beatsteaks im Saal „Best German Act“ gewinnen, denn Pelle Almqvist stürmt die Bühne: „Hello, worldpress!“, kräht er. Zögerlicher Applaus. „You can do better! Hello World Press!“ Stimmung kommt auf, allerdings nur, bis wenig später Duran Duran hereingeführt werden und ein Mann in der ersten Reihe sein Handy in die Luft hält und ruft: „Please, Simon! Say ,Hello Israel‘.“
00:45 Uhr
Große Aufregung vor dem Medienzentrum. Ein „Pendelbus“ wird bereitgestellt. Die geschafften Journalisten steigen zu und werden 300 Meter weit zur After-Party kutschiert. ME gratuliert den Beatsteaks und freut sich auf das unbestrittene Highlight des Abends: ein Kickerturniermit den Sportreunden.