Willkommen im Plattenbau
Wohl dem, der sein Hobby zum Beruf gemacht: Der Berliner Peter Patzek sammelt seit 38 Jahren Platten - und hat mittlerweile so viele, daß er auch welche verkauft.
BERLIN-CHARLOTTENBURG, EINE VIEL BEFAHRENE STRASSE MIT dem gewissen Nichts. Drumherum ein Wohnviertel mit charmanter 60er-Jahre-Architektur und wenigen Geschäften. Nicht unbedingt die Gegend, wo man das älteste und bestsortierte Schallplatten-Antiquariat Deutschlands vermuten würde.
Und doch ist es da. Das merkt man aber erst, wenn man direkt vor der Tür steht. Dann aber bleiben erst mal keine Fragen offen: „Platten-Pedro mag keine Vertreter und hasst CDs“, steht da auf einem schön mittig auf der Eingangstür plazierten Zettel geschrieben. „Das ist keine ideologische Sache mit der CD. Ick wollte nur ‚hasst‘ mit Doppel-s schreiben, wegen der Rechtschreibreform“, sagt Platten-Pedro. Mit richtigem Namen heißt er Peter Patzek, ist Ende 50, Gründer, Inhaber und einziger Angestellter des Ladens – und vor allem kein Freund digitaler Tonträger: „CDs hören sich einfach nicht jut an. Man kann natürliche Schwingungen digitalisieren, aber nicht renaturalisieren. Schwingungen klingen einfach wärmer von Vinyl.“
Hörbare Belege für seine These sind reichlich vorhanden. Die Schallplatten türmen sich bis unter die Decke, kein Zentimeter, der hier nicht genutzt würde, und so finden auf 40 Quadratmetern insgesamt 250.000 Tonträger – darunter Tausende Schellack-Platten und zirka 160.000 Singles – ihren Platz. Bewegungsfreiheit bleibt dem Kunden da kaum: Zu dritt tritt man sich schon bald gegenseitig auf die Füße, und sollte sich ein Vierter dazugesellen, stößt der sich garantiert an irgendeinem der verwinkelten Regalsystemeden Kopf. „Det macht aber nischt“, erklärt Platten-Pedro, „ick hab sowieso keene Laufkundschaft, und für meine Stammkunden turn ick gerne schon mal auf der Leiter rum. Is‘ auch besser so: Einmal im Regal daneben gelangt, und schon liegste in der Auslage.“
Die Gefahr für Leib und Leben ist aber nicht das einzige, was den selbständigen Einkauf bei Platten-Pedro erschwert. Hier gibt es kaum ein Eckchen, das nicht mit Vinyl vollgestopft wäre – da geht dem Nichteingeweihten schon mal die Übersicht flöten. Die musikalische Bandbreite ist riesig: Kabarett und Kleinkunst der 20er und 30er lahre, seltene Cover-Versionen, Schlager aus sechs Jahrzehnten, obskure Psychedelic-Platten, der handelsübliche Rock-Mainstream all das hat Platten-Pedro im Programm: „Stammkunden, die jeden Monat auf der Matte stehen, wissen, wo sie die Einmeterfuffzich Elvis finden. Die Sammler aus Japan kommen natürlich nicht so oft vorbei, weil det immer so weit is. Wenn die dann im Laden wat suchen, helf ick jerne“
Meistens auch mit Erfolg, sogar in schwierigen Fällen: „Letztens klingelt et vorne, da stand so’n Männchen in der Türe, pfeift und sagt: Da stand inner Zeitung, datte hier vorbeikommen kannst, wat falsch vorpfeifen – und Platten-Pedro erkennt et trotzdem.“ Ehrensache, daß der Schallplattenhändler den Test bestanden hat – in diesem Fall drehte es sich um eine Tarantella aus den 30er Jahren. Sogar bis nach Hollywood ist Platten-Pedros Ruf vorgedrungen. Als Steven Spielberg „Schindlers Liste“ drehte, bestand der Regisseur für den Soundtrack auf Original-Schellack-Aufhahmen, die man bei dem Antiquar zu finden hoffte: „Da kommt eines Tages so ein Männchen in den Laden, stellt sich als ein Assistent vom Spielberg vor und will wissen, ob ick ‚Heimat, deine Sterne‚ habe. Klar, hab‘ ick gesagt, hab‘ das Fünf-Mark-Schild abgepopelt und gesagt: Hier, det kostet zweihundert.“
So teuer muß der Einkauf bei Platten-Pedro aber nicht sein. Wer die hohe Kunst des Feilschens beherrscht und womöglich noch den Monty Python-Film „Das Leben des Brian“ gesehen hat, kann auch billiger wegkommen. „Letztens steh‘ ick uff der Leiter, da kommt einer mit zwei Platten an, eine für 40, eine für 60 Mark. Also zusammen 100, sagt er. Wat, ruf ick von oben, willste mich beleidigen? Du mußt handeln! Darauf er: Wieso, das haben wir doch noch nie gemacht – na jut: 90. Wat? Sag‘ ick, willste mich ruinieren? 95 hab‘ ick dafür bezahlt.“ Das Ende vom Lied: Der Kunde knallt 100 Mark hin und verläßt entnervt den Laden. „Der kannte die Marktszene garantiert nicht, sonst hätte er ne Menge Geld sparen können.“
SEIN GEBALLTES WISSEN ÜBER WESENTLICHE UND KURIOSE MUSIK DES 20. Jahrhunderts hat Patzek natürlich nicht über Nacht erlangt. „So wat erfordert ne richtig lange Ausbildung. 38 lahre beschäftige ick mich jetzt intensiv mit Musik, det sind satte 76 Semester, und eigentlich hört det auch nie auf.“ Irgendwann aber hat sogar Platten-Pedro kapituliert. „So ab 1985 hab ick die janze Breite der Produktion nicht mehr mitbekommen. Warum Punk sein mußte, hab ick ja noch verstanden, die Musik aber schon nicht mehr – und auch nicht, warum die dauernd mit Kotze rummachen mußten.“
Daß Platten-Pedro den Konsum aktueller Musik eingestellt hat, ist nicht nur eine Geschmacksfrage: „Es hat noch nie so viel Musik gegeben wie heute, und ick habe genug damit zu tun, meinen Bestand zu halten.“ Er habe eine Klingel im Kopf, sagt er, die klingelt, wenn das Sortiment Substanz gelassen hat. „Dann weeß ick: jetzt brauch‘ ick wieder wat Jutes.“ Als Werbung genügt Platten-Pedro eine Annonce im Branchenbuch, Anruf genügt, und Patzek kommt ins Haus: „Meistens ist es ja so, daß die Männer sammeln. Und wenn die dann sterben, wollen die Ehefrauen die Sammlungen möglichst schnell loswerden. Von wegen mein Mann hat mich sein Leben lang damit gequält. Jeden Sonntag saß die Familie auf dem Sofa. Er hat Platten gespielt, und wir mußten raten, was es ist. Nehmen Sie das Zeug einfach mit.“ Tut Platten-Pedro natürlich nicht. Wenn eine Sammlung ihren Wert hat, wird auch ein adäquater Preis gezahlt. „Det is mein Berufsethos. Und wenn bei einer Sammlung von 1000 Platten 20 Schätzchen dabei sind, is det okay. Den Rest stell ick rüber in meinen Schallplatten-Supermarkt und verhöker ihn für drei Mark das Stück.“
Platten-Pedro sieht sich aber nicht nur als Händler, sondern hat auch eine Mission als Antiquar: den Leuten Musik nahebringen, die im Format-Radio einfach nicht mehr vorkommt: „Wenn’s gewünscht wird, kann ick jede Menge über irgendwelchen obskuren Mist und Nischenmusik erzählen – ick hab im Laden auch so ’ne Art Lehrauftrag.“ Es ist noch nicht lange her, da konnte Platten-Pedro seinen Lehrauftrag auch noch beim Radio erfüllen – zuerst beim SFB mit einer Raritäten-Sendung, in der er schlecht interpretierte Cover-Versionen aus seinen Beständen spielte: „Wenn der Techniker nebenan würgte, war ick goldrichtig.“ Später moderierte Patzek eine ständige Sendung bei einem Berliner Privatsender, deren Titel er von „Golden Oldies“ bald in „Nonstop Schizopop“ ummodelte: „Da hab ick Sachen jespielt, die außer mir und dem Interpreten keiner kennt. Die Garantie war, dat nischt zum anderen paßte. Auf ne Abba-Dub-Version von Voulez Vous‘ kam ein Tango von 1937. Nach nem halben Jahr muß det wohl irgend jemandem aufjefallen sein. Da hieß et dann: sach ma, kannste det nicht ’n bißchen kommerzieller gestalten?“ Woraufhin Platten-Pedros Radioarbeit bald beendet war.
Ein zweites berufliches Standbein hat Patzek aber nach wie vor: Wann immer zwischen dem Ankauf von Plattensammlungen und dem Einsortieren von Vinyl Zeit bleibt, speicht er Rollstuhlräder ein: „Det is ganz nett nebenbei und außerdem ne zusätzliche Geldquelle.“ Doch ganz gleich, was Platten-Pedro gerade macht, ob er nun auf der Jagd nach rarem Vinyl ist oder sich um die Räder kümmert – sein Enthusiasmus ist ihm längst noch nicht flötengegangen: „Ick bin ooch immer bejeistert, jeden Morgen, wenn ick uffstehe.“