„Wiedererweckung alter Schönheiten“: Second Hand ist wieder begehrlich
Julia Friese erklärt, was sich hinter dem TikTok-Begriff „Stitch“ verbirgt.
Drei Beobachtungen:
1. custom made second hand espresso
Kleidung ist ein Müllgebirge in der Atacama-Wüste. Ein Klima-Killer! Das einzelne Kleidungsstück kann eigentlich nur dann noch begehrlich sein, wenn seine Einzigartigkeit die Überproduktion seiner Art vergessen lässt. Wenn es Custom Made ist, limitiert, oder am besten: Second Hand. „Wiedererweckung alter Schönheiten“ war das Thema der diesjährigen Met-Gala. Gesucht wurden die alten Schönheiten aber nicht in Chile, sondern in den Archiven der Design-Häuser. Damit das gemeine Publikum weiß, wo es alternativ noch suchen könnte, wurde das Event von Ebay gesponsert.
Begehrlich ist, was Second Hand ist, das gilt auch in den Medien. Denn Popularität erkennt man daran, wie oft etwas weitergereicht, zerschnitten und kommentiert wird – egal ob Musikvideo, Podcast oder Film. Auf TikTok heißt Second Hand „Stitch“: Man vernäht sein Kommentarvideo mit dem Ursprungsmaterial. Die YouTube-Entsprechung ist das „Reaction Video“ in dem man YouTubern dabei zuschaut, wie sie Videos anderer YouTuber anschauen.
Als Louis Klamroth Anfang 2024 mit eigener Produktionsfirma die Talkshow „Hart Aber Fair“ verjüngt, versucht er diese Erfolgsmarker zu imitieren, indem er eine Mediathek-Ausgabe herausgibt, in der er seine Sendung selbst kommentiert, um diese zum Archiv-Material zu machen, das er dann „Hart Aber Fair – To Go“ nennt. Ein künstliches Second Hand – von der rechten in die linke Hand.
2. geflochtenes süßgras
Als Taylor Swift im April THE TORTURED POETS DEPARTMENT veröffentlicht, hagelt es Reaction-Videos. Oft wird das Album auf den die Lyrics einblendenden Fernseher gestreamt. Die Swifties sitzen zu mehreren auf der Couch davor, und schreien bei so mancher Zeile auf. Denn die sind das Gewebe, um das es ihnen eigentlich geht. Aus ihnen knüpfen die sie ihre Geschichten über Taylor Swift, die diese selbst zwar befeuern und irritieren, niemals aber komplett steuern kann. Die Nachfrage von Reaction Videos ist die direkte Folge davon, dass das Handy – anders, als der Fernseher – ein Allein-Medium ist, dem die unmittelbare Reaktion der Anderen fehlt. Nun ist diese selbst ein Inhalt geworden, den man ebenfalls allein konsumieren kann.
3. reaction video killed the critic
Die klassische, journalistische Reaktion hingegen scheint aus der Zeit gefallen. Als der „NME“ seine THE TOTURED POETS DEPARTMENT-Kritik hochlädt, ist ein vielfach gelikter Kommentar: „It’s been six minutes. Have you even been listening?“ Der Umstand, dass ein Medium ein Album schon vorab gehabt haben könnte, da es eben keine natürliche Person ist, scheint unwahrscheinlich. Im April destilliert die Schriftstellerin Kathrin Weßling den Zeitgeist auf Threads: Verrisse, von unbekannteren Autor*innen im Feuilleton fände sie „mittlerweile so whack“. Lieber solle das Feuilleton zeigen „was einem gefällt“, es solle „bewegen und mitreißen“.
Durch Social Media hat sich unsere Erwartung an die Massenmedien verändert. Das Influencer-Credo „Aufmerksamkeit ist entweder verdient oder bezahlt“ hat sich verinnerlicht. „Ein Vergewaltiger auf der Titelseite eines Magazins? Den macht ihr auch noch berühmt?“ Ein Schriftsteller opfert seine wertvolle Zeit für ein Interview zwecks Portrait im „Spiegel“, und dann schreibt der „Spiegel“ kritisch über diesen Schriftsteller? „Hinterlistig!“
„Und gestern postet ihr Kritik an Swifts Album, und heute einen Hinweis zu ihrem Konzert … Hä? Entscheidet Euch mal!“ Wir leben im Zeitalter der Bestätigung, in dem Medien personalisiert wahrgenommen werden, also Vorbildfunktionen zu erfüllen haben, idealerweise wie Eltern bindungs- und bedürfnisorientiert sein sollten und ihre Aufmerksamkeit gerecht verteilen sollten, um uns zu sehen und zu spiegeln. Kritisch auseinandersetzen sollte sich jeder vor allem mit sich selbst. In Therapie. Um da zu lernen: Alle Gefühle und alle Reaktionen sind valide.
Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 7/2024.