Wie das Leben als Ü50-Rockmusiker in Hannover aussieht
Jan Müller prokrastiniert auf Tour in Hannover – und verliebt sich.

„Nächster Freitag? Klar, das schaffe ich!“ Meine Zusage war leichtfertig. Es ging um die Abgabe der nächsten Reflektor-Kolumne in dieser Zeitschrift. Um diese Seite hier, die ihr gerade lest. In unserem Telefonat am Montag sicherte ich Stephan Rehm Rozanes die Abgabe für Ende der Woche zu. Obwohl feststand, dass ich mich am nächsten Tag auf die dritte Tour-Etappe mit meiner Band Tocotronic begeben würde. Es war fahrlässig von mir. Äußerst fahrlässig. Denn mir ist klar, dass sich auf Tournee mein Gehirn in einen speziellen Zustand schaltet. Es ist auf soziale Interaktion optimiert. Wirkliche, geistige oder gar schöpferische Fähigkeiten sind in diesem Zustand nahezu auf null reduziert.
Und wie gesagt, ich weiß das. Aber mein Gehirn weiß auch, dass ich das weiß und trickst mich aus. Vor jeder Tournee suggeriert es mir: „Diesmal wirst du viel schaffen auf Tour, Jan!“ Und so kann es durchaus passieren, dass ich mir „Moby Dick“ von Melville oder die ersten 5 Bände von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ins Reisegepäck lade. Ihr dürft raten, wie viele Seiten dieser Werke ich jemals geschafft habe, auf Tourneen zu lesen.
Ich liebe es, wie die Tage auf Tour dahin rinnen
Ist ja alles auch nicht schlimm. Denn ich liebe es, wie die Tage auf Tour dahin rinnen. Sie sind von unsinnig-sinnigen Unterhaltungen unter den Mitreisenden geprägt. In diesen Dialogen geht es auch viel um Musik. Und erfreulicherweise lerne ich auf Tour noch immer neue Musik kennen. Gestern Nacht im Bus wurde mir zum Beispiel der wundervolle Song „Unterwegs“ von Klaus Lage vorgestellt. Im Text heißt es: „Ich sang in Hamburg in der Fabrik / Und fuhr von Bremen nach Osnabrück / Ich war in Stuttgart, danach in Trier / Dazwischen Köln, und heut’ bin ich hier!“ Das finde ich schon deshalb gut, weil es ziemlich exakt meine, seit dreißig Jahren bestehende Lebenssituation beschreibt.
Und da das Leben auf Tournee ein stetes Geben und Nehmen ist, konnte ich im Bus mit einem Geheimtipp kontern. Und zwar mit „Reisende“, meinem Lieblingsstück von Manfred Maurenbrecher: „Wir sind auf ner Reise / wir schauen uns das nur an / Ey, wir sind auf ner Reise / durch ’n merkwürdiges Land“.
Es gibt ja so viele tolle Bands aus Hannover
Und nun bin ich im Backstage unserer heutigen Spielstätte in Hannover, dem Capitol. Ich sitze auf einem roten Kunstleder-Sofa. Es ist Freitag und die Uhr läuft ab. Gleich explodiert die Deadline des Rehm Rozanes. Aber immerhin flossen mir bereits ein paar Zeilen in die Tastatur. Natürlich werde ich dauernd gestört. Es kommen immer wieder Mitreisende mit wichtigen Fragen. „Warum heißt die Straßenbahn in Wien eigentlich Bim?“ Irgendjemand weiß zu berichten, dass sie in Hong Kong „Ding Ding“ genannt wird und in Darmstadt „Ellebembel“. Wichtig bei diesen Dialogen ist natürlich, das Handy in der Tasche zu lassen und nicht zu googlen. Diese Art von Gesprächen finde ich wunderbar. Aber sie lenken mich doch zumindest ein wenig von meiner derzeitigen Aufgabe ab. Immerhin war ich heute bereits joggen. So ist es wohl, als Rockmusiker Ü50: Jogging statt Exzess. Ich bin zufrieden mit dieser Entscheidung.
Glücklicherweise haben wir mit unserem neuen Gitarristen Felix Gebhard einen waschechten Hannoveraner in unseren Reihen. Er gab mir die Empfehlung, einfach dem Fluss Ihme, der direkt vorm Capitol entlang fließt, stadtauswärts zu folgen. Aus meinen Kopfhörer drang lokale Musik. Es gibt ja so viele tolle Bands aus Hannover. Gestern hörten wir im Bus bereits die Scorpions. Die Leute, die sich über die Scorpions lustig machen, sollten wirklich mal darauf achten, was für eine schöne Stimme Klaus Meine hat! Zum Joggen entschied ich mich jedoch für etwas anders. Die Boskops sollten es sein.
Jahrelang hatte ich mit dieser Band nichts mehr zu tun haben wollen. Der Grund: Ich hatte Ute Wieners’ sehr lesenswertes Buch „Zum Glück gab es Punk“ gelesen. Ich kann es auch euch nur wärmstens ans Herz legen. Ute Wieners war die Macherin des Pogo-Girl-Fanzines. Ihre Schilderungen über das frauenfeindliche Verhalten des Sängers der Boskops sorgten dafür, dass ich dieser Band bis heute mit Distanz begegne.
Die Frage, inwieweit sich Kunst und Autor:in trennen lassen, ist allerdings so kompliziert, dass ich keine generelle Antwort für mich finden konnte. Und so wagte ich es, zumindest zum Joggen mal wieder das Debütalbum SOL 12 der Boskops aus dem Jahr 1983 zu hören. Manches darauf ist durchaus kritikwürdig. Aber es beinhaltet auch deepe Songs wie „Angst“ oder „Trauma“ und den Hit „Wir leben alle“.
Ich habe mich heute in die Stadt Hannover verliebt
Ich joggte also an der Ihme aus der Stadt hinaus; vorbei am Platz des Fährmann-Festes, wo ich die Boskops einst live sah und an den Ruinen der Continental-Werke in Limmer vorbei. Plötzlich passierte ich eine Punkette. (Ich weiß nicht, ob das Wort Punkette noch zeitgemäß ist, aber ich finde, es ist eines der edelsten Worte der deutschen Sprache). Ich lief also an der Punkette vorbei, auf meinem Kopfhörer noch immer die Boskops. Die Punkette trug bunte Haare und vielen Badges auf ihrer Punkjacke. Sie war etwa 60. Ich überlegte kurz, sie anzusprechen. Vielleicht ist es ja sogar Jule, die Gitarristin der Boskops, dachte ich?
Oder ist es vielleicht Dussel? Dussel,die Sängerin von Blitzkrieg, der Vorläufer-Band der Boskops? Ja, sie sieht aus wie Dussel, dachte ich. Trotzdem, ich ließ es mit dem Ansprechen. Ich wollte ja schließlich noch ein paar Kilometer runterreißen vorm Soundcheck. Nach dem Joggen spazierte ich noch ein wenig durch Hannovers Innenstadt. Aber nicht allzu lange, Denn mir war bewusst: Stephan Rehm Rozanes will heute den Text sehen.
Trotzdem: Ich habe mich heute in die Stadt Hannover verliebt. Diese Stadt mit all ihrem Beton ist doch tatsächlich eine der schönsten! Ich passierte das „Mode Rock Center“ unweit des Hauptbahnhofs und spielte kurz mit dem Gedanken, mir ein Bullet-for-my-Valentine-Shirt zu kaufen. Aber dann fällt mir ein, dass ich die Band gar nicht kenne, Außerdem habe ich keine Zeit für solche Sperenzien. Stephan Rehm Rozanes will den Text haben. Jetzt!
Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 6/2025.