Reflektor

Von Playback-Geschummel bis Geigenkunst: Jan Müller erinnert sich an seine liebsten Straßenmusiker


Jan Müller von Tocotronic trifft für seinen „Reflektor“-Podcast interessante Musiker*innen. Im Musikexpress und auf Musikexpress.de berichtet er von diesen Begegnungen. Hier die 21. Folge seiner Kolumne, in der er erklärt, warum auch Straßenmusiker*innen seine Kollegen sind.

Viele Jahre lang ging mir fast jegliche Straßenmusik auf die Nerven. Bis meine Mutter mir in ihrer friedfertigen Art ganz nebenbei sagte: „Straßenmusikern gebe ich immer was, das sind doch deine Kollegen!“ Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Es ist die Wahrheit – das sind meine Kollegen! Sie können zwar weiterhin manchmal sehr nerven, aber es sind eben Kollegen. Außerdem muss ich mir eingestehen, einige tolle Begegnungen mit Straßenmusik erlebt zu haben. Ich erinnere mich an den punkigen Briten, der in der Hamburger U3 zwischen Eppendorfer Baum und Sternschanze „Boys Don’t Cry“ von The Cure spielte. Ich litt gerade unter heftigstem Liebeskummer. Er beschränkte sich nicht auf eine verkürzte Strophe und einen verdoppelten Refrain, sondern spielte den bitteren Hit komplett von Anfang bis Ende. Er trieb mir die Tränen in die Augen.

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Weiterhin entsinne ich mich des hageren Singer/Songwriters, dem irgendwer den Spitznamen Ameise gegeben hatte. Er spielte englischsprachige Eigenkompositionen mit abenteuerlichen Versmaßen. Einer seiner Hits hieß „Happy Birthday To Our Port“. Der hartnäckige Ohrwurm plagt mich sogar heutzutage noch dann und wann. Meinen Freunden Henna und den Skubsch-Brüdern gefiel sein Schaffen so gut, dass sie ihn auf das Cover ihres Fanzines „Hamburger Schotenkampf“ nahmen. Überhaupt, Eigenkompositionen: Viel zu selten trauen sich Straßenmusiker*innen zu, sich nicht hinter Evergreens zu verstecken.

Das ist zumindest originell

Vor zwei Wochen traf ich auf einen mutigeren Kollegen. Zunächst war ich schwer genervt von dem Typen, der sich direkt neben unserem Restaurant-Tisch am Berliner Weinbergsweg aufbaute. Er war mit einem Hackenporsche unterwegs, beladen mit Verstärker, Keyboard und Loopstation. Mit Letzterer sampelte er seine verstimmte Ukulele, die er mit einem Gurt direkt unter seinem Hals befestigt hatte. Ein Mikro, in das er mit vorgestrecktem Kopf hineinkrähte, hatte er auch dabei. Die Beats aus dem Keyboard schienen aus einem Paradies der Presets entflohen zu sein. Der Mensch war hartnäckig, und nach dem fünften Song (!) musste ich mir eingestehen: Das ist zumindest originell. Mit diesem Eindruck war ich nicht allein. Eine Menschentraube bildete sich, und er bekam Applaus. Ein Kollege, dachte ich.

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Mir kam der ältere Typ in den Sinn, der Anfang der 90er in Hamburg-Altona in der Neuen Großen Bergstraße seine Kunst zu Gehör gebracht hatte. Im beeindruckenden Bariton und mit hochrotem Kopf trug er a cappella Schlager und Operetten-Lieder vor. Ein schöner Mann mit einem sehr spezifischen Oma-Fan-Publikum. Und wenn man Glück hat, dann trifft man auch mal auf einen russischen Künstler mit Garmon, der etwas von Bach oder Tschaikowski vorträgt. Unglaublich, was diese Menschen aus ihren Instrumenten hinauszaubern! Dennoch: Gut finde ich auch das Geschummel mancher Straßenmusiker. Viele spielen ein Playback ab, über das sie ein paar Overdubs legen. So wie letztens ein etwa 14 Jahre alter Japaner vorm Karstadt am Ku’damm. Er spielte kaum einen Ton auf seinem Saxofon, machte aber mit seiner oversized Sonnenbrille eine sehr gute Figur – es war im weitesten Sinne Jazz.

Das hatte Wumms inmitten der Warenwelt

Auch bin ich Fan des Steeldrum-Spielers, der regelmäßig im Tiergarten, unweit des Bahnhofs Zoo, zu hören ist. Seine gekonnt gespielte Steeldrum klingt melancholisch und fröhlich zugleich. Auch der Typ, der am Hackeschen Markt mit geknotetem Kopftuch, verstärkter E-Gitarre, Mikrofon und hochrotem Kopf U2, Guns N’ Roses und ähnliches Zeug nachspielt, ist mein Kollege. Aber die wirklich beste Erfahrung machte ich in den 80er-Jahren in Hamburg in der Spitalerstraße. Ein strubbeliger Typ mit verfilztem Wollpullover, Nickelbrille und Geige brüllte Polittexte durch die Einkaufsmeile. Und wenn er nicht brüllte, dann spielte er betörend schön Geige. Er wurde von zwei oder drei Mitmusikanten begleitet. „Nein, nein, wir woll’n nicht eure Welt / Wir woll’n nicht eure Macht / Und wir woll’n nicht euer Geld / Wir woll’n nichts von eurem ganzen Schwindel hören / Wir woll’n euren Schwindel zerstören.“

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Das hatte Wumms inmitten der Warenwelt. Dieser Mann wurde 1940 unter dem Namen Klaus Christian von Wrochem geboren. Er studierte Violine und Komposition in Köln und den USA, widmete sich der Avantgarde und Neuen Musik. In den 60ern kehrte er sich ab von all dem, was er nun nur noch als elitär empfand, begann ein Leben auf der Straße und in Kommunen, nannte sich fortan Klaus der Geiger. Ich wollte ihn schon vor zweieinhalb Jahren für meinen Podcast Reflektor interviewen. Wir führten bereits schöne Telefonate; dann kam uns die Pandemie dazwischen. Ich hoffe, das Gespräch bald nachholen zu können. Und ich würde es durchaus für vermessen halten, mich als seinen Kollegen zu bezeichnen.

Zu Jan Müllers „Reflektor“-Podcast: www.viertausendhertz.de/reflektor

Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 11/2022.