Verkannte Kunst (6): Ed Sheeran: Konturlos, gehasst – und irrsinnig erfolgreich
Ed Sheeran gibt mustergültig den supernetten Typen – und ist mit dieser Konturlosigkeit unglaublich erfolgreich. Dafür verdient er Respekt, meint Julia Lorenz in der sechsten Ausgabe von „Verkannte Kunst“.ed
Seit Mai hatte unser Enfant terrible Linus Volkmann hervorragende Unterstützung an seiner Seite – und seine Hater eine Verschnaufpause: Die Popkolumne, die er seit Anfang 2019 wöchentlich für uns schreibt, schrieb Linus fortan nur noch zweimal pro Monat, im Wechsel übernahm ME-Autorin Julia Lorenz. Die hat Anfang Februar 2020 ihr Zepter leider niederlegen müssen. Zum Glück bleiben uns ihre Texte aber erhalten.
Während Linus sich regelmäßig über sogenannte „Verhasste Klassiker“ hermachte, entgegnete Julia ihm mit ihrer Rubrik „Verkannte Kunst“. In der sechsten Ausgabe ihrer Kolumne vom 1. August 2019 ging es um die Loser Kollegah und Xavier Naidoo, die Winner Rammstein und um Ed Sheerans Kunstgriff der Konturlosigkeit.
Verkannte Kunst (6): Ed Sheeran, der keck verwuschelte Schwiegermutterliebling unter den Topsellern
Die Karriere des Edward Christopher Sheeran fußt auf einem gewaltigen Paradoxon: Dafür, dass angeblich jeder, den man je kennengelernt hat, seine Musik hasst, verkauft er verdammt viele Platten. Rein statistisch gesehen muss also mindestens jeder vierte Sheeran-Hater lügen. Überhaupt fragt man sich, was genau Menschen an Ed, dem keck verwuschelten Schwiegermutterliebling unter den Topsellern, so rasend macht. Immerhin tut er ziemlich genau, was die Welt (zu Recht) von einem modernen Mann erwartet: Er lässt keine Hinweise darauf erkennen, dass er ein schlimmer Draufgänger, ein grober Trunkenbold oder generell ein Arschloch sein könnte – sondern gibt mustergültig den supernetten, supersensiblen, superbescheidenen Typen, dem man irgendwie zutraut, nur volltätowiert zu sein, weil ein alter Kumpel ein Studio eröffnet hat und halt irgendwen zum Üben brauchte.
Wer wenn nicht er sollte es also schaffen, auf seinem neuen Album NO.6 COLLABORATIONS PROJECT so unterschiedliche KünstlerInnen wie Travis Scott und Stormzy, Eminem und Justin Bieber, Chance The Rapper und Skrillex zu versammeln – um schließlich die Individualität besagter Acts in einem Mahlstrom der freundlichen Gefälligkeit wegzuspülen? Auf seinem neuen Album trägt Ed Sheeran seiner Liebe für HipHop Rechnung (wozu es passt, dass es näher an der Logik eines Mixtapes als einer konventionellen EP ist), schafft es aber doch in jedem Moment, allein nach sich selbst zu klingen. Ob das ein Kompliment ist, mag jeder selbst entscheiden.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Es sind ein paar wirklich okaye Popsongs auf NO.6 COLLABORATIONS PROJECT. Manchmal geht der Plan vom semi-crazy HipHop-Radiopop-Mashup sogar auf skurrile Art auf, etwa in „South of the Border“, an dem Cardi B und Camila Cabello mitwirken. Und doch zeigt uns Ed Sheeran deutlich wie derzeit kein anderer Künstler die erstaunliche Dialektik des Gefallenwollens: Wer konturlos bleibt, wird gehasst – und irrsinnig erfolgreich. Für diesen Kunstgriff gebührt ihm mindestens Respekt. Anhören werde ich mir seine neue Platte, zumindest aller Wahrscheinlichkeit nach, trotzdem nicht noch einmal. Tut ja schließlich, nunja, niemand.
Dieser Text erschien zuerst in Folge 28 unserer Popkolumne:
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