The Cure – nie klang Weltschmerz schöner


Die ME-Helden im Januar 2012: The Cure

Der eigensinnige Robert Smith legte eine der verblüffendsten Verwandlungen der Pop-Geschichte hin. Erst dann war er frei, als Pippi Langstrumpf des melancholischen Pop sich seine Welt so zu gestalten, wie es ihm gefällt. So wurden The Cure zu einer der einflussreichsten Bands unserer Zeit – für Goth- und epische Alternative-Rocker genauso wie für die Freunde des gepflegten Dreieinhalb-Minuten-Ohrwurms.

Spätestens jetzt musste Robert erkennen, dass die Dinge nicht so gelaufen sind, wie er sich das gedacht hatte. Er stand in der Diele seines Elternhauses und musste mit seinen 23 Jahren eine Gardinenpredigt über sich ergehen lassen. Sein Vater redete ihm ins Gewissen. „Die Leute haben Karten gekauft! Schau, dass Du zurückfliegst und die Tour zu Ende spielst!“ Verdammt, er hatte recht.

Robert Smith hatte vor einigen Stunden Hals über Kopf Straßburg verlassen. Am Vorabend hatten The Cure dort ein weiteres Konzert auf der Europa-Tour zu ihrem beispiellos übellaunigen Album Pornography gespielt, das kaum etwas anderes als negative Energie ausstrahlte. Was die Band auf dieser Tournee schnell zu spüren bekam: Diese dunkle Energie strahlte nicht nur nach außen, sondern auch nach innen ab. Die drei waren dem jeden Abend ausgesetzt wie in unzureichender Schutzkleidung arbeitende Atomtechniker. Ganz abgesehen natürlich vom Alkohol und anderen Drogen, die die Egos in der klaustrophobischen Situation einer Bandtour besonders effektvoll aufeinanderkrachen lassen. Ihr Goth-Teddybären-Image, das diese Band spätestens seit Ende der Achtziger genießt, erweckt einen falschen Eindruck: The Cure waren, und das sehr lange, eine amtliche Drinks-und-Drogen-und-Schlafentzug-und-schlimmer-Kater-Band. Wie die meisten anderen jungen Bands eben auch, die gefragt genug sind, für mehrere Wochen auf Tour zu gehen. Anders als die meisten dieser anderen Bands legten sich die Mitglieder von The Cure 1982 allerdings nicht nur untereinander an, sondern auch mit ihrem Publikum.

Nach dem Straßburg-Gig waren die Musiker samt Vorgruppe und Roadies in einen Club gegangen, um sich zu betrinken. Und als sie gar waren, dumpf und hemmungslos genug, prügelten Robert und sein Freund und Bassist Simon Gallup aufeinander ein. Der Grund war völlig unerheblich. Am nächsten Tag machten sich Robert und Simon dann mit zwei verschiedenen Maschinen Richtung England aus dem Staub. Und Lol Tolhurst, Schlagzeuger des Trios, war am Morgen des 28. Mai 1982 allein auf weiter Tour.

The Cure waren ihren Weg bis hierhin mit einer bemerkenswerten Konsequenz gegangen. Sie hatten sich in Crawley, einer beschaulichen, wirtschaftlich blühenden 100 000-Einwohner-Stadt rund eine Autostunde südlich von London, als Kinder des Glam und des härter werdenden Rock quer durch die Plattensammlungen ihrer großen Geschwister gehört. Hendrix und Bowie und The Sensational Alex Harvey Band waren ihre Helden. Als die Punkvibes aus London auch Crawley ein wenig in Schwingung versetzten und einigen Langhaarfrisuren den Garaus machten, hatten sie ihre schluffige Coverschulband (die in verschiedenen Besetzungen Namen wie The Obelisk, Malice und Easy Cure trug) auf einen geregelten Probebetrieb umgestellt und damit begonnen, selbst Songs zu schreiben.

Sie waren auch weiter drangeblieben, als der beste Nachwuchs-Gitarrist im Ort, Porl Thompson, dessen Anwesenheit es zu verdanken war, dass ihre Pub-Auftritte wenigstens einigermaßen gut besucht waren, die Band verließ. Das heißt, er musste gehen, weil sein versiertes Gitarrenspiel so ziemlich das Letzte war, was eine auf den Punk gekommene Gruppe, die sich anschickte, New Wave mitzugestalten, brauchen konnte (doch lange verheiratet mit Roberts Schwester Janet und wiederholt verantwortlich für das Artwork der Band, stand ihm die Tür zur Rückkehr immer offen).

Verblüffenderweise hatte die Gruppe auch den Deal mit Hansa überlebt, der von nichts anderem als beiderseitigem Unverständnis gekennzeichnet war. Das deutsche Label hatte Mitte der Siebziger mit Boney M. Riesenerfolg und fischte gerade in Großbritannien nach jungen Musikern, die es zu einer formbaren Chartskapelle aufhübschen konnte. The Cure jedoch ließen sich nicht formen, da mochten sie noch so unerfahren sein. Denn ihr Häuptling hieß Robert Smith. Und der war ein außerordentlich harter Klotz, der das kleine Wörtchen „No“ auf jede erdenkliche Art und Weise kommunizieren konnte, Widerstand einfach niederstarrte und alles aussaß. Die bald zum besonderen Kennzeichen gewordene frozen-explosion-Frisur, die er sich zu der Zeit der Pornography-Tour zulegte (samt dem quer über das halbe Gesicht verschmierten Lippenstift, zu dem damals die ganze Band griff), darf gerne symbolisch gedeutet werden: Der größte Dickschädel weit und breit, das bin ich!

Warum dies hier so betont wird: Der Eigensinn Robert Smiths ist gleichzeitig eine seiner wichtigsten künstlerischen Eigenschaften. Nennen wir sie deshalb: „Beharrlichkeit“.

Dem Ende 1978 abgewickelten Intermezzo mit dem deutschen Label, dem The Cure kurze Zeit später mit „Do The Hansa“ einen hübsch albernen Schmähsong hinterherwarfen, folgten die Aufnahmen zu ihrem Debüt. Three Imaginary Boys wurde ein ziemlich verworrenes Album, in zu großer Eile gewissermaßen drüberwegproduziert über diese Horde Frischlinge. Die Aufnahmen mussten sogar heimlich geschehen, nachts in dem Studio, in dem tagsüber The Jam All Mod Cons einspielten. Es wurde alles mitgeschnitten, was The Cure bislang im Repertoire hatten. Selbst ihr nervtötendes Cover von Hendrix‘ „Foxy Lady“, das es mit auf die Platte schaffte, weil Manager Chris Parry allein entschied, was dem Debüt gut stand und was nicht. Parry bestimmte auch das kryptische, heute legendäre Coverartwork. Es zeigt eine Stehlampe, einen Kühlschrank und einen Staubsauger auf schmutzig-pinkfarbenem Hintergrund. Smith kann es bis heute nicht ausstehen.

Er leistete einen Schwur: Nie wieder sollte ein Cure-Album veröffentlicht werden, über das er nicht volle künstlerische Kontrolle besaß. Wie ernst dieser Schwur zu nehmen war und zu welchen Konsequenzen dies führte, zeigten die Jahre 1980 bis 1982. The Cure schufen in dieser Zeit ein kaltes, graues und trübes Album (17 Seconds), ein dunkelgraues, äußerst deprimierendes (Faith) und schließlich ein schwarzes, niederschmetterndes (Pornography), bei dem neben der eigenen Hoffnungslosigkeit der feste Wille eine große Rolle spielte, der Welt einen großen Suppenwürfel der Marke Schmerz und Pein ins Maul zu schieben. Hölle, was war das nur für eine missmutige und störrische Band?

Interessanterweise fiel diese im Zustand des größten Eigenbrötlertums entstandene Musik aber auf sehr fruchtbaren Boden. Die Wut des Punk war verraucht, der Kalte Krieg auf einem neuen Höhepunkt, der Dritte Weltkrieg stellte eine reale Bedrohung dar. The Cure spielten den Soundtrack dazu, sich mit dem Gefühl der Ausweglosigkeit in sich selbst zurückzuziehen. Die Steigerung von „No future“ war eine Zeile wie „It doesn’t matter if we all die“, der erste Satz auf Pornography. Diese Zumutung von einer Platte landete auf Platz 8 der UK-Charts!

Doch spätestens als Robert Smith im Mai 1982 von seinem Vater im Flur des Hauses gestellt wurde, in dem er immer noch wohnte, und nicht wusste, wie er sich rechtfertigen sollte dafür, dass er Tausende Fans im Stich lassen wollte, muss ihm klar geworden sein, dass sein Plan trotzdem nicht aufgegangen war. Tatsächlich hatten er und sein Schulfreund Lol die Sache mit der Band vor rund fünf Jahren doch nur forciert, um nicht irgendeinem Brotjob nachgehen zu müssen. Nicht fremdbestimmt arbeiten, sondern eigenbestimmt herumhängen, Vaters Selbstgebrautes saufen, Fußball schauen, Musik hören, schwere Kost lesen und dunkle Texte schreiben (aber auch punkig-alberne), proben und spielen – so sollte das Leben sein.

Und tatsächlich wurde Smith ja auch kein Rädchen in der Maschine. Nie würde er früh aufstehen müssen. Niemals sich der Knute eines törichten Vorgesetzten beugen. Aber das Leben war trotzdem unendlich kompliziert. Und was bitte schön sollte daran selbstbestimmt sein, wieder aufs Festland zurückkehren zu müssen, um für weitere zwei Wochen mit dieser Band Konzerte zu geben, die er so satt hatte, wie er sich selbst nicht mehr ausstehen konnte? „Eigentlich sollten wir Symphonien erschaffen im Format eines Mahler“, maulte er in einem Interview, „keine Popmusik!“ Dieser Mix aus Anmaßung, Selbstgeißelung und Koketterie war sein Cocktail dieser Tage, und er goss ihn uns auch später immer wieder gerne ein, wenn es darum ging, sein Künstlerego in ein interessantes Licht zu stellen.

Spätestens an dieser Stelle muss wohl die Frage erlaubt sein: Was für ein „Held“ soll das sein, der der Welt vor allem Verdruss zu bringen scheint? Nun, Robert Smith ist der Meister des Verdrusses! Das deutete tatsächlich schon der erste Song ihres ersten Albums von 1979 an: „10:15 Saturday Night“, ein gut gestrafftes Postpunk-Stück, das sogar etwas lakonisch zu swingen vermag, liefert in dem soundmalerischen Spiel mit dem „Trip-trip-trip“ des Wasserhahns, das Robert Smith hier besingt, das perfekte Bild für die nächtliche Kücheneinsamkeit, aus der er sein Leid klagt. Aus diesem Spülbeckenbad in Selbstmitleid sollten bald schon Pools werden, dann Seen und schließlich Ozeane. The Cure würden beispielgebend sein für all die kommenden Generationen von Bands und Musikern, denen es ein Anliegen ist, Weltschmerz in elegische und epische Popmusik zu packen.

Der Unterschied zu Nick Drake oder Ian Curtis, zwei Künstlern, die Robert Smith offenkundig beeindruckten und prägten, liegt auf der Hand: Er ist, mag der Schatten auf seiner Seele und ein gewisser selbstzerstörerischer Hang gerade im Umgang mit Alkohol und Drogen auch recht groß sein, eine stabilere Persönlichkeit. Er würde überleben. Aber er würde trotzdem künstlerische Wege finden, noch die dunkelsten Gemütszustände in seiner Musik abzubilden, in einer dramatischen Überhöhung, die die Verzweiflung sogar noch größer erscheinen lässt als bei Drake oder Curtis.

Selbst unter den treuesten Cure-Fans dürften sich nicht allzu viele finden, die Robert Smith als begnadeten Texter verteidigen. Seine Verse sind nicht eben erzählstark, haben keine besondere Eleganz oder gar die literarischen Qualitäten eines Morrissey. Sie beschreiben, vor allem in der ersten Schaffensperiode von The Cure, zumeist Zustände der Entfremdung, der Verzweiflung und des größten Widerwillens in gerne drastischen, oft nur skizzenhaft miteinander verbundenen Bildern. Smith befindet sich an düsteren Orten und trifft auf befremdliche Figuren und Schemen. Astreine Albtraumlyrik. (Später singt Smith in den meisten Texten ein namenloses Du an – wiederum auf verzweifelte oder hasserfüllte, vor allem aber auf romantische Weise.)

Doch gesungen von Smith mit dieser Stimme, deren für New Wave typische unterkühlte Distanz sich bald verlieren und die neben seinem Aussehen zu seinem zweiten, noch wichtigeren unverwechselbaren Kennzeichen werden sollte, entfalten diese Klagen und Tiraden eine außerordentliche Wirkung. Die Abgeschlossenheit von atmosphärisch so stringenten Alben wie 17 Seconds oder Pornography mag für sich schon beeindrucken. Im Bereich der (nicht experimentellen) Popmusik sind die klanglichen Visionen, die diese junge Band verfolgte, in dieser Konsequenz bis heute fast einzigartig. Aber erst durch Smiths Quengeln und Maulen, sein markerschütterndes Jaulen und bitteres Klagen klangen The Cure wie keine andere Band auf diesem Planeten, und sie tun das bis heute.

Bis hierhin reicht die Geschichte, die hoffentlich zu erklären vermag, warum The Cure einen so starken Eindruck hinterließen und in nicht einmal fünf Jahren die wichtigste Bezugsgröße wurden für all die düsteren Darreichungsformen von Rock und Pop der kommenden Jahre. Obwohl sich die Band nie der Goth(ic)-Szene zugehörig fühlte (Smith beschrieb Goth-Rock einmal als „wirklich unglaublich langweilig und eintönig“), war sie für diese doch genrestiftend. Selbst dort, wo in der weiteren Entwicklung dieser gerade in Deutschland sehr beliebten Subkultur der musikalische Einfluss der Engländer abnahm, bleibt doch zumindest der Style von Robert Smith allgegenwärtig. Dass The Cure selten zu den offen gehuldigten Helden der „Schwarzen Szene“ gehören, hat übrigens gute Gründe. Man könnte sagen, dass The Cure ihr bald schon zu bunt geworden sind. Das ist Teil zwei der Geschichte – der drollige Part.

Dafür müssen wir allerdings zuerst noch einmal zurückkehren in den außerordentlich schlecht gelaunten Frühsommer des Jahres 1982. Es war Robert Smith zuvor schon eine lieb gewonnene Gewohnheit geworden, immer wieder die drohende Auflösung von The Cure auszurufen. Im Sommer war es nun tatsächlich so weit: The Cure gab es nach dem Ende der Pornography-Tour nicht mehr. Die Prophezeiung hatte sich erfüllt.

Manager Chris Parry wollte das allerdings gar nicht gefallen, und auch dem so genügsamen Lakaien Lol Tolhurst war es noch zu früh, sich am Stammtisch seines Lieblings-Pubs in Crawley sein Namensschildchen festschrauben zu lassen. Sie überredeten Smith, eine Art Gegenentwurf zu der Düsterkapelle The Cure zu erschaffen, und die Leute damit zum Narren zu halten. Die Idee gefiel dem Autokraten. Smith schob Tolhurst vom Schlagzeug, wo er gerade durch seine handwerklichen Einschränkungen zweckdienliche Arbeit geleistet hatte, ans Keyboard. Und The Cure wurden, kein halbes Jahr nach Pornography, zu einem Elektropop-Duo – kauzig, natürlich, aber vor allem: poppig. Sie wurden im Radio gespielt, sie hatten Hits. Allen voran: der jazzige Aristocats-Balztanz „The Lovecats“. Darin sang Robert Smith: „We should have each other to tea, huh? We should have each other with cream.“ Und dann jaulte er – wie ein Kater, dem der Duft einer rolligen Katze in die Nase steigt. Himmel, was war das nur für eine verrückte und lustige Band?! Diese Verwandlung vollzog sich auch visuell. Mit Tim Pope fanden The Cure einen Videoregisseur, der die bleichen Gespenster dazu brachte, sich vor der Kamera zum Affen zu machen. The Cure gaben die Tanzbären, sie ließen sich in alberne Kostüme stecken und kugelten durch Kulissen, die aussahen, als wären sie aus den Studios des BBC-Kinderprogramms zusammengeklaut worden. MTV fraß einen Narren an diesem Unsinn. Und so war es nur eine Frage der Zeit, bis auch die USA anbissen. The Cure sollten groß werden dort drüben, sehr groß.

Es war typisch für die bisweilen manipulative Art von Robert Smith, dass er sich schon zur Veröffentlichung der ersten Pop-Single „Let’s Go To Bed“ verächtlich darüber äußerte. Sollten die neuen Cure floppen, konnte er sich so für den kommerziellen Selbstmord feiern lassen, der gleichzeitig als sarkastische Reaktion auf den hohlen Charts-Zirkus gelesen werden durfte – und die Band nun tatsächlich beerdigen. Sollte der Umsturz jedoch gelingen, würde ihm einfach der Erfolg recht geben. Allerdings war er zu diesem Schritt nur in der Lage, weil ihn als Künstler nicht nur seine Beharrlichkeit auszeichnete, sondern auch sein sehr feines Händchen für Melodien, was sich zuvor auch schon bei einzelnen Songs wie „Boys Don’t Cry“ oder „Fire In Cairo“ gezeigt hatte. Und er war ebenso gut darin, diese Melodien zu arrangieren.

Nachdem das Experiment gelungen war, genoss Robert Smith all die neuen Freiheiten, die sich dadurch auftaten: The Cure konnten plötzlich alles sein. Er arbeitete wie ein Verrückter, nicht nur an dem psychedelischen Cure-Album The Top, das durchaus als ein Soloalbum durchgehen könnte, sondern auch mit Steven Severin, dem Bassisten von Siouxsie & The Banshees, an ihrem gemeinsamen Projekt The Glove sowie obendrein als Gitarrist der Banshees. Er nahm Drogen und er nahm auf.

Mit einer neuen alten Band, in die Simon Gallup und Porl Thompson zurückkehrten und in der dem so versierten wie verspielten neuen Schlagzeuger Boris Williams eine besondere Rolle zukam, schritten The Cure schließlich voran in ihr „goldenes Zeitalter“. Die drei folgenden, allesamt hervorragenden Alben The Head On The Door, Kiss Me Kiss Me Kiss Me und Disintegration stellen gleichsam ein kreatives Ausprobieren wie ein Domestizieren dessen dar, was The Cure bis dahin vereinte. Als sich gegenseitig befruchtendes Team (ausgenommen der alkoholkranke Tolhurst, der bald nur noch die Rolle des gepiesackten Bandmaskottchens innehatte und schließlich hinausgeworfen wurde) findet die Band ihren Sound und lässt ihn auf Disintegration in einem formal wahnwitzigen, dennoch stimmigen Wall-of-Gitarren- und-Synthesizer-Manifest des melancholischen Pop kulminieren.

Alles, was danach folgt, unterstreicht leider nur, dass diese Band nach diesem Klops ihren Zenit überschritten hat – aber auch, dass sie niemals kampflos aufgeben wird. The Cure veröffentlichen als Pioniertat in Rock und Pop eine Remix-Compilation: Mixed Up, 1990. Sie nehmen ihre kommerziell erfolgreichste Platte auf: Wish, 1992. Sie erfinden sich als (ziemlich zähe) Rockband mit jaulenden Gitarren neu und sie veröffentlichen rund ein Dutzend mehr oder weniger fröhlicher Gitarrenpop-Singles, die Robert Smith nur so aus dem Ärmel zu schütteln scheint – und schaffen mit dem wunderbar banalen „Friday I’m In Love“ tatsächlich fast einen perfekten Popsong. Vor allem aber unternehmen sie in weiterhin munter wechselnden Besetzungen und mit immer neuen Produzenten alle möglichen Anstrengungen, Musik zu produzieren, die auch über den Cure-Kosmos hinaus Relevanz besitzt. Am Ende nehmen sie einfach noch ein paar sehr schöne Cure-Songs auf.

Darüber hinaus macht sich Robert Smith unter seinen Fans als Nachwuchsverwalter seines eigenen Schaffens einen guten Namen. Das zeigt sich zum einen in der vorbildlich aufgearbeiteten Wiederveröffentlichung des Backkatalogs. Aber auch darin, dass The Cure den Wünschen ihrer Anhänger nachkommen, bei (selten unter mindestens dreistündigen) Konzerten nicht nur ungewöhnliche Repertoire-Perlen zu spielen, sondern ganze Alben live aufzuführen. Zuletzt widmeten sie sich 2011 auf diese Art in Australien, England und den USA ihren ersten drei Werken Three Imaginary Boys, 17 Seconds und Faith (dazu kehrte sogar Lol Tolhurst auf die Bühne zurück, der 1994 Smith und das Cure-Label Fiction noch u.a. auf Tantiemen-Nachzahlungen verklagt hatte).

The Cure bleiben. Wie eine alte Gewohnheit, und es gibt wahrlich schlechtere. Dies führt freilich dazu, dass der ewig jaulende Robert mit der Vogelnestfrisur und dem verschmierten Make-up längst den Status einer lebenden Ikone, aber auch einer Witz- und Comicfigur eingenommen hat. Robert Smith steckt in Tim Burtons „Edward mit den Scherenhänden“ und dem kleinen Vampir Rüdiger wie er in Marilyn Manson und in My Chemical Romance steckt. Er steckt in den Horrors wie in den frühen Rapture und in den Shout Out Louds. Er steckt in so einigem Geheul und hinter manch einem beherzten Griff zum Kajalstift. Wie ein guter Geist.

Und, mein Gott, er steckt auch in dieser Riesenmotte! In einer frühen Folge der Zeichentrickserie „South Park“ wird Robert Smith zu Hilfe gerufen, um das Monster „Mecha-Streisand“ zu bekämpfen. Er verwandelt sich nach Art japanischer Monsterfilme in ein riesiges Insekt, um die mutierte Barbra Streisand zu besiegen, schrumpft nach getaner Arbeit auf Normalmaß zurück und schlurft in seinen großen Turnschuhen Richtung Horizont. Da ruft Kyle, der Junge mit der grünen Mütze, ihm hinterher: „Disintegration ist die beste Platte aller Zeiten!“ Ist Ihnen das auch schon aufgefallen: Die Kids in South Park, die sagen immer so kluge Sachen.

Inspiriert von

Nick Drake

David Bowie

Wire

Siouxsie & The Banshees

Joy Division

Buzzcocks

The Cure

haben inspiriert

Interpol

Placebo

The Rapture

Shout Out Louds

Trentemøller

The Smashing Pumpkins

4 Songzitate für die Ewigkeit

I try to laugh about it Cover it all up with lies I try and laugh about it Hiding the tears in my eyes Because boys don’t cry

(„Boys Don’t Cry“)

I must fight this sickness Find a cure

(„Pornography“)

„Show me how you do that trick The one that makes me scream“ she said

„The one that makes me laugh“ she said

And threw her arms around my neck

„Show me how you do it and I promise you

I promise that I’ll run away with you

I’ll run away with you“

(„Just Like Heaven“)

It’s a perfect day for making out

To wake up with a smile without a doubt

To burst, grin, giggle, bliss, skip, jump, sing and shout

Let’s get happy!

(„Doing The Unstuck“)

The Cure für Kenner

Mit ihrer ersten Single „Killing An Arab“, geschrieben von Robert Smith im Alter von 16, sollten The Cure noch viel Ärger bekommen. Das von Albert Camus‘ Roman „Der Fremde“ inspirierte, absolut nicht rassistische Stück lockt nicht nur Neonazis zu den ersten Konzerten der Band, es wird später zu den Golfkriegen und nach dem 11. September auch von reaktionären US-Radio-DJs missbraucht. Später spielen The Cure den Song zumeist unter den Titeln „Kissing An Arab“ oder „Killing Another“.

Mit der Single „I’m A Cult Hero“ unternimmt Robert Smith 1979 den klamaukigen Versuch, den Briefträger Frank Bell aus Crawley zum Star zu machen. Bell singt, die Cult Heroes spielen Ska, die Single erscheint sogar in Kanada und Neuseeland. Danach trägt er wieder Briefe aus.

Im Jahr 1979 sowie von 1982 bis 1984 hilft Robert Smith live sowie auf Nocturne und Hyæna als Gitarrist bei Siouxsie And The Banshees aus (von Siouxsie erhält er auch den Spitznamen „Fat Bob“). Mit ihrem Bassisten Steven Severin verbindet ihn für einige Zeit eine enge Freundschaft, gemeinsam produzieren sie als The Glove 1983 das psychedelische Pop-Album Blue Sunshine.

In den letzten Jahren kooperiert Smith wieder öfter mit anderen Künstlern. Leider zeigt er dabei nicht immer Geschmackssicherheit. So nimmt er u.a. mit Blink 182, Blank & Jones, aber auch mit Crystal Castles auf. Im Duett mit Billy Corgan tut er 2005 dem Bee-Gees-Klassiker „To Love Somebody“ ein Leid an. Auf der Bühne besuchen er bzw. The Cure u.a. Korn bei „MTV Unplugged“, Placebo sowie David Bowie beim Konzert zu dessen 50. Geburtstag 1997 im Madison Square Garden.

Der Gitarrist Porl Thompson, über die Jahre der handwerklich versierteste Musiker der Band, gehört zum Original-Line-up von The Cure und spielt auch später einige Zeit mit (1984-1992 und 2005-2010). Außerdem ist er gemeinsam mit Andy Vella unter dem Namen Parched Art (Kennzeichen: eine gezeichnete Teetasse) für einen großen Teil des Cure-Artworks zuständig. In den Neunzigern hat er einen besonders guten Grund, seine Mitgliedschaft ruhen zu lassen: Jimmy Page und Robert Plant laden den Led-Zeppelin-Fan ein, sie 1995 auf ihrer Tour zu begleiten.

Robert Smith ist seit seiner Schulzeit mit Mary Poole liiert. Zur Hochzeit der beiden im Jahr 1988 schreibt er ihr den „Lovesong“, der später auf Disintegration erscheint und in den USA zum größten Single-Erfolg von The Cure wird (Platz 2).

Die 10 besten B-Seiten

The Cure gaben sich immer große Mühe, ihre Fans mit qualitativ guten B-Seiten zu beglücken. Hier sind ihre besten (in Klammern der Titel auf der A-Seite sowie das Erscheinungsjahr der Single).

„Another Journey By Train“ („A Forest“, 1980)

„Lament“ („The Walk“, 1983)

„Throw Your Foot“ („The Caterpillar“, 1984)

„The Exploding Boy“

„A Few Hours After This“ (beide „In Between Days“, 1985)

„Sugar Girl“ („Just Like Heaven“, 1987)

„2 Late“ („Lovesong“, 1989)

„Harold & Joe“ („Never Enough“, 1990)

„This Twillight Garden“ („High“, 1992)

„A Foolish Arrangement“ („A Letter To Elise“, 1992)

Was die Anderen sagen

„Robert Smith ist eines von diesen Beispielen: Du kannst nicht Robert Smith sein, wenn du nicht Robert Smith bist! The Cure sind einer der wichtigsten Einflüsse auf Interpol, weil wir sie einfach alle mögen.“

Paul Banks (Interpol), 2010

„The Cure sind verantwortlich für einen ganzen Haufen schlimmer Bands dort draußen, die allesamt versucht haben, sie zu kopieren. Sollten Wire nun tatsächlich von The Cure kopiert worden sein, dann gnade uns Gott.“

Colin Newman (Wire), 2002

„Ich kann es mir tatsächlich nicht so richtig vorstellen, dass die Mitglieder dieser Band irgendwann zusammen in einem Raum standen und zum ersten Mal diese Songs spielten, weil sie auf mich wirken, als hätte es sie schon immer gegeben.“

Stuart Braithwaite (Mogwai) über Disintegration, 2010

Was Robert über andere sagt

„Wenn seine Fans einmal darüber nachdenken würden, wie Morrissey als Individuum ist bzw. wie er sich als Person nach außen hin darstellt, würden sie … nein, ich beende das hier besser.“

Über Morrissey, 1997

„Ich liebe es, wie sie, Just Like Heaven‘ gecovert haben – es hat sogar die Art und Weise beeinflusst, wie wir den Song heute spielen.“

Über Dinosaur Jr., 1992

„Als ich sie zum ersten Mal gehört habe, war mir klar: Das ist die eine Band, die pinkelt auf uns alle.“

Über My Bloody Valentine, 2003

Die besten Alben

BOYS DON’T CRY (1980)

Auch wenn es sich hierbei nicht um das „echte“ Debüt handelt, ist Boys Don’t Cry, das als erste Longplay-Veröffentlichung für den US-Markt zusammengestellt wurde, Three Imaginary Boys vorzuziehen. Die Compilation verzichtet auf unausgegorene Titel wie „Object“ oder das grenzwertige Hendrix-Cover „Foxy Lady“, enthält dafür aber die ersten drei Singles: das mysteriöse, gleichzeitig angriffslustige „Killing An Arab“, das ungemein anhängliche „Boys Don’t Cry“ und das wunderbar rasante und straffe „Jumping Someone Else’s Train“. The Cure waren nicht so gestreng wie Wire oder gescheit wie XTC – aber als so lakonischer wie Hit-reicher Postpunkgruß aus der Provinz ist diese Platte nicht zu unterschätzen.

17 SECONDS (1980)

Kalt, kälter, 17 Seconds. The Cure sind fest in Robert Smiths Hand, und der hat sich in die Eiskönigin verwandelt. Die Platte klingt entsprechend höhenlastig: in den Zwei-Finger-Keyboard-Melodien, der schneidenden Rhythmusgitarre und dem peitschenden Schlagzeug. Nur der für The Cure so typische markante Bass setzt einen Kontrapunkt. Dieses Sounddesign zieht das ganze Album auf Iglu-Größe zusammen. Darin kauert man und hört Smith wie in einer funkgestörten Übertragung flüstern und flehen. Stücke wie „A Reflection“, „Secrets“ oder „Three“ bleiben atmosphärische Skizzen. Aber auch einige „richtige“ Songs bewegen sich kaum vom Fleck und schieben sich doch unaufhaltsam wie Eisschollen durch das Grau. Der Kontrapunkt hier: die New-Wave-Tanzbodenfeger „A Forest“ und „Play For Today“.

PORNOGRAPHY (1982)

Ein 43-minütiger Albtraum in acht Aufzügen. Mal brachial wütend, mit Tribal-Drums und einem Wust aus Gitarre, Bass und Keyboards, der komplett durch den bis zum Anschlag aufgedrehten Flanger und andere Verfremdungsgeräte geschleift wird. Dann wieder ein quälend schleppender Marsch zum Opferplatz. Smith jault: „Dancing in my pocket / Worms eat my skin“. Es ist eine Apokalypse mit Ansage: „Meine Haltung war: Alles ist Mist, wir sind auch Mist, also lasst uns mit einem großen Knall verschwinden“, erzählt Smith 2003 in einem Interview. Und dass sie damals quasi nicht geschlafen, dafür umso mehr Rauschmittel konsumiert hätten. Produzent Phil Thornally meint hingegen: So schlimm sei das alles gar nicht gewesen. Pornography ist auf jeden Fall schlimm. Die Mutter aller Gothrock-Platten. Wickelt das Genre noch in seiner Entstehung umgehend ab.

THE HEAD ON THE DOOR (1985)

Das nachfolgende Doppelalbum Kiss Me Kiss Me Kiss Me hat sogar noch schönere Songs. Es ist aber eben ein Doppelalbum, an seinen Enden hängen ein paar überflüssige Stücke heraus. Deshalb: The Head On The Door. Der spezifische, verhangene und grunddüstere Cure-Sound trifft auf den Hook-verliebten Pop der Achtziger und der trifft auf den Übermut, stilistisch alles Mögliche auszuprobieren. Flamencogitarren, mystische japanische Melodien, Synthiepop etc. – funktioniert alles! Die beiden Hits „In Between Days“ und „Close To Me“ sowieso.

DISINTEGRATION (1989)

Wie das ein Jahr später veröffentlichte Violator für Depeche Mode – den anderen großen Überlebenden der Achtziger – ist Disintegration die Platte, auf die sich die Mehrheit der Fans einigen kann: als Höhepunkt dessen, was The Cure ausmacht. Der 1000 Tränen tiefe „Plainsong“ gehört zu den feierlichsten Album-Openern der Pop-Geschichte. Er gibt das Programm vor: Die Band legt Schichten über Schichten, Melodien über noch mehr Melodien, Melancholie über noch mehr Melancholie und lässt sich dafür unendlich viel Zeit. Weniger getragene Pophits wie „Lullaby“ und „Lovesong“ bleiben verträumt genug, um sich in den Albumkontext einzuschmeicheln. Angeblich hatte Smith der Gedanke umgetrieben, vor seinem 30. Geburtstag noch ein richtig großes Album erschaffen zu müssen. Zehn Tage nach diesem erschien Disintegration. Mehr The Cure ging beim besten Willen nicht.

BLOODFLOWERS (2000)

Der späte, gar nicht so verzweifelte Versuch, noch einmal den Status von The Cure als die ultimative Schwermutkapelle des Pop zu unterstreichen. Ergibt laut Robert Smith zusammen mit Pornography und Disintegration eine Trilogie. Soweit muss man vielleicht nicht gehen. Aber auf jeden Fall das beste der „späten“ Werke der Band.

Im nächsten Heft: ME-Helden, Teil 8 – Motörhead