Hirnflimmern

Stichwort Gegenwartstrauma: Warum Josef Winkler sich täglich etwas Schlimmes wünscht


Die Nachrichten als Doomscrolling-Exzess – kann die Plattensammlung das Gemüt polstern? Die aktuelle Popismus-Kolumne von Josef Winkler.

Um ein bisschen soft reinzugehen, zunächst ein Witz von meinem Sechsjährigen; selber erfunden, sagt er, also bitte – aufgemerkt! Q: Was ist von Donald Duck und man hält es sich oft an die Nase? A: Ein lustiges Taschentuch! Haha. Ja, der funktioniert nicht 100-prozentig, von der Logik her, aber ich finde löblich resp. ich „feiere“ den Kalauer, der ihm zugrunde liegt. Hier, ich hab’ auch noch einen, etwas handfester: Lieber versoffener Samstag als verkaufsoffener Sonntag. Wobei für „Samstag“ jeder Wochentag der Wahl eingesetzt werden kann, gern auch tagesaktuell angepasst. Und ich bitte den konsumkritischen – wenn schon nicht alkoholkonsumkritischen – Tenor des Gägs zur Kenntnis zu nehmen.

Nach Ukraine-Sieg: Wolodymyr Selenskyj möchte den ESC 2023 in Mariupol ausrichten

Ja, klar, intoxication ist auch keine (langfristige) Lösung, aber da war letztens diese Telekom-Bandenwerbung beim Länderspiel Deutschland-Israel, 26. März, also nach mehr als einem Monat Krieg: „Rundum sorglos: WLAN in allen Ecken“. Da dachte ich mir schon: Tscheck das wording aut. Wem es derzeit gelingt, sich aller Sorgen ledig zu wähnen, weil er „WLAN in allen Ecken“ hat, dem stehen entweder zusätzlich zu dieser technischen Ausstattung noch viele und/oder sehr effektive Drogen zur Verfügung, oder er/sie hat seriös einen an der Klatsche.

Living in the past

Letztens schrieb ich an meinen alten Freund Dr. Murtle, Sachverständiger u.a. für Quantenphysik und Jethro Tull, und berichtete ihm unter dem Betreff „Living in the Past“, dass ich, Stichwort Gegenwartstrauma, fast nur noch Musik aus dem alten Jahrtausend hören kann und mag. Er erzählte darauf von dem altvorderen Lehrer, der sie einst zu Unterstufen-Zeiten über die ständig präsente Gefahr einer sowjetischen Invasion nebst Atomschlag in Kenntnis setzte, was für ihn die 80er-Jahre, sagen wir: doch etwas überschattete. Derartiges blieb mir erspart, ich war als Teenager weltpolitisch hübsch unverbildet und habe den Ausdruck „Kalter Krieg“ lange gar nicht kapiert, und als es dann im Geschichtsunterricht drankam, war eh schon Glasnost. Uff!

Das grinsende Getriebe: Zum Tod von Taylor Hawkins (Nachruf)

Und nun dies. Wieder Angst vorm bösen Russen haben. „Man soll ja niemandem etwas Schlimmes wünschen …“, hebt der Dottore an, aber davon bin ich schon lange abgerückt. Ich mach’ das jeden Tag. Aber es wirkt einfach nicht. Ich habe Bolsonaro gewünscht, er möge an Corona verscheiden. Ich habe Trump alle denkbaren Krankheiten, Unfälle, Anschläge etc. an den Hals gewünscht. Ich wünsche Putin jeden Tag in meinem extra für diesen Zweck nach 35 Jahren wieder eingeführten Abendgebet ein möglichst rasches Ableben. Kein Effekt. Stattdessen stirbt dann Taylor Hawkins, und Bruce Willis kriegt eine Aphasie. Was soll das eigentlich sein? Ich pack’ es kaum mehr, mich noch über Details zu informieren, wenn schon das ganz normale Verfolgen der Tagesnachrichten einem endlosen Doomscrolling-Exzess gleichkommt. Verdammt. So, ich muss los. Ich hab’ einen Termin beim Kifferorthopäden.

Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 06/2022.