Rödelheim Hartreim Projekt
Jetzt ist S. soweit. Ein Tankwart war ihr erstes Opfer. Doch nun verkaufen zwei Gangsta vom Main auch noch ihre kleine Schwester. ME/Sounds meint: So darf S. nicht weitergehen. BILDen Sie sich ihre Meinung!
Frankfurt, Stadtteil Griesheim. Downtown Mainhattan ist weit weg. Eine fast schon ländliche Gegend. Blaugraue und zitronengelbe Einfamilien-Häuschen, wie man sie kurz nach dem Krieg gebaut hat, charakterisieren das Ortsbild. Hier gibt es sogar noch echte Tante-Emma-Läden. Die meisten Menschen, die hier leben, arbeiten in den benachbarten Hoechst-Farbenwerken. Eine der verwinkelten Gassen beherbergt ein Fotostudio. Kein noch so kleines Firmenschild weist darauf hin, daß sich hier Stars aus Film, Funk und Fernsehen die Klinke in die Hand geben. Hier sollen auch die Aufnahmen für die Titel-Produktion der Mai-Ausgabe von Musikexpress/Sounds stattfinden. Die Session ist für 13.00 Uhr angesetzt. Es ist zehn nach eins. Der Fotograf mißt bereits zum x-ten Mal das Licht. Die Visagistin raucht Kette. Von Moses P., Thomas H. und Schwester S., der Familienbande aus Rödelheim, fehlt jede Spur. Selbst die streßgeprüfte Promoterin der Plattenfirma wird langsam nervös: „Meine Kinder“, wie sie die rüden Rapper liebevoll nennt, „sind eigentlich immer pünktlich“. Kurz vor halb zwei schlendern Thomas Hofmann und Sabrina Setlur, wie Schwester S. mit bürgerlichem Namen heißt, unbekümmert ins Studio. Moses ist nicht dabei. Die abgesprochenen Klamotten zum Wechseln haben sie auch nicht mitgebracht. Die Geduld der Dame von der Plattenfirma wirdauf eine harte Probe gestellt. Thomas H. nimmt’s locker: „Ich hab‘ einfach das Zeug an, in dem ich mich wohlfühle. Was will ich mit fünf verschiedenen T-Shirts, wenn ich das wichtigste – mein Gesicht – eh‘ nicht ändern kann?“ Spricht’s und läßt sich in einen der komfortablen Sessel fallen. Die Visagistin ringt sichtlich mit der Fassung. Kurz nach zwei kommt Moses. Nicht zu übersehen. Knappe 100 Kilo Lebendgewicht stampfen in den abgedunkelten Raum. Und nicht zu überhören. Moses ist aufgekratzt. Sein durchdringendes, meckerndes Lachen und Gegröle läßt selbst ausgewachsene Ziegenböcke als kleinlaute Piepmätze erscheinen. „Alles klar, oder?“, dröhnt es durch die Halle. Die Visagistin kämpft gegen den drohenden Nervenzusammenbruch an. Klamotten zum Wechseln hat er natürlich auch nicht dabei. Dafür trägt er ein T-Shirt der „Böhsen Onkelz“.
Das sind also die Rapper, vor denen uns die „Bild“-Zeitung immer gewarnt hat. Deutschlands dünnstes Druckerzeugnis schreibt am 15. März: „Rödelheim. 1.30 Uhr, Esso-Tankstelle. Deutschlands Top-Rapper Moses P. (23, „Rödelheim Hartreim Projekt“) füllt seinen Jeep. Aber: Die Kreditkarten-Kasse streikt. Wütend schlägt er den Tankwart, nimmt eine Sektflasche, um noch mal zuzuhauen. Der Tankwart wehrt sich mit einem Aschenbecher. Moses im Krankenhaus – Polizei ermittelt.“ Moses ein Original Gangsta? „Es ist wirklich nicht so, daß ich durch die Gegend renne und Leute verhaue. Aber der hat’s wirklich verdient“, poltert er später im Interview los. Daß „Bild“ den Fall aufgegriffen hat, gibt ihm jedoch ernsthaft zu denken. „Ich erschrecke manchmal wirklich über das öffentliche Interesse, das auf meine Person gerichtet ist. Daß die Geschichte in der Zeitung steht, ist mir reichlich peinlich“, erzählt er mit gesenktem Blick. Angesprochen auf sein T-Shirt legt er wieder los:
„Ich kenne die Onkelz persönlich und ich kann mir allein deshalb schon nicht vorstellen, daß sie tendenziell nationalsozialistisch eingestellt sind, weil sie mich akzeptieren, wo ich doch ganz offensichtlich ihrem Feindbild entsprechen müßte.“ Und er fügt hinzu: „Leute, die mir irgendwas von Großdeutschland erzählen wollten, könnte ich sowieso nicht ernst nehmen. Allein schon aus dem Grund, weil ich genau weiß, daß sie keine Macht über mich haben.“ Wobei sich Macht für ihn auch über Geld definiert. „Wenn du reich bist, kannst du einige Probleme sehr schnell lösen.“
Derber Sprücheklopfer oder nachdenklicher Künstler? Moses Pelham versucht beide Charakterzüge zu vereinen. Zum einen provoziert er gezielt mit fragwürdigen Aussagen und Texten, zum anderen gefällt er sich ganz offensichtlich auch in der Rolle des Dichters und Denkers. Eine Facette seiner Persönlichkeit, die hinter der Fassade des bösen schwarzen Manns oft verschwindet. Wobei gern übersehen wird, daß der ruppige Rödelheimer seine rüden Raps ganz gezielt einsetzt. Provokation als Stilmittel. Bereits die Texte des Debütalbums ‚Direkt aus Rödelheim‘ strotzten nur so vor satten Seitenhieben auf die nationale HipHop-Szene, zweifelhaften Aussagen zum Thema Gewalt und strittigen Samples. Im Titel ‚Krieg‘ taucht zum Beispiel Joseph Goebbels‘ unseliges Zitat „Wollt ihr den totalen Krieg?“ auf. Geschicktes Spiel mit dem Feuer oder dumpfe Kraftmeierei? Oder doch nur eine Kopie amerikanischer Maulhelden wie Snoop Doggy Dogg oder Ice T, deren sexistische und gewaltverherrlichende Texte in Deutschland bislang weitgehend unbeachtet blieben? Das Rödelheim Hartreim Projekt und ebenso Schwester S. setzen auf saftige Sprüche, die kaum wirklich ernstzunehmen sind. Außer vielleicht von „ultratoughen““ 15jährigen Großstadt-Kids, stilgerecht gewandet in „Homeboy“-Klamotten aus der „Streetwear“-Abteilung von C&A.
Dokter Renz, Mitglied der Hamburger Blödel-Rapper Fettes Brot, kann den rohen Reimen aus Rödelheim nichts abgewinnen: „Das ist gewollte Provokation, die jedoch weder lustig noch wirklich provozierend ist.“ Kollege Schiffmeister fügt an: „Die Rödelheimer übernehmen viele Attitüden direkt aus Amerika. Das ist genau das, was die Leute hören wollen.“ Die Rapper von Fresh Familee schlagen in die gleiche Kerbe: „Der Stil des Rödelheim Hartreim Projekts und von Schwester S.
ist vor allem durch niveauloses Dissen und das Fehlen jeglicher Moral in den Texten gekennzeichnet.“ Der Neid der Erfolglosen? Vielleicht. ‚Direkt aus Rödelheim‘ fand bislang immerhin mehr als 100.000 Käufer in Deutschland, Fresh Familee und Fettes Brot konnten mit ihren Verkaufszahlen nicht einmal in die Sichtweite der Charts aufrücken. Frankfurts Oberbürgermeister Andreas von Schoeler hingegen ist richtig stolz auf die erfolgreichen Musikanten seiner Stadt und übt schon mal den klassischen Schüttelreim: „Die Rödelheimer nimmt uns keiner, der Römer rapt, mal more mal less, doch stärker noch rapt Schwester S.“, tönt es allen Ernstes aus dem Frankfurter Rathaus. Torch, Intimfeind von Moses P. und Frontman der politisch durch und durch korrekten, aber bislang relativ erfolglosen Advanced Chemistry, gibt sich abgeklärter: „Ich denke, der Stil soll wohl in die Richtung gehen, nicht krampfhaft etwas Neues zu finden, sondern eher mit dem Flavour der USA mitzuhalten. Leider hat das auch viele negative Seiten.“ Die Fantastischen Vier, mit über 700.000 verkauften Tonträgern immer noch Deutschlands unumstritten kommerziell erfolgreichste Rap-Truppe, halten sich mit Kommentaren über die Konkurrenz aus Rödelheim bedeckt. „Wir wollen keine Kollegen-Schelte betreiben“, ist aus dem Stuttgarter Hauptquartier der Fantas zu vernehmen, wo Thomas D., Smudo und Kollegen derzeit an einem neuen Album basteln, das im August auf den Markt kommen soll. Ende 1995 soll dann auch das neue Album der Rödelheimer in den Läden stehen. Vorher wird es noch einen Live-Mitschnitt der durchweg ausverkauften Deutschland-Tour geben. Einem eventuellen Kräftemessen mit den Fantastischen Vier sehen Moses und Thomas entspannt entgegen: „Es gibt von unserer Seite keinerlei Konkurrenzdenken mit den Fantastischen Vier. Die Fantas sind einfach viel größer als wir, rein was den Verkauf betrifft. Es geht uns nicht darum, wer mehr Platten verkauft“, gibt sich Moses gelassen. Man darf jedoch sicher sein, daß er in seinen Texten wieder härtere Töne gegenüber den Stuttgartern anschlagen wird.
„Fakt ist, daß wir damals mit ‚Direkt aus Rödelheim‘ eine Platte gemacht haben, wie wir sie gerne hören wollten. Daß so viele Leute sie gut fanden, hätten wir uns nie vorstellen können. Ich hoffe, daß wir mit unserem zweiten Album dieses Ergebnis wiederholen können, denn es ist einfach ein tolles Gefühl, zu wissen, es gibt außer mir noch andere, die meine Musik gut finden“, erzählt der schwergewichtige Glatzkopf in breitem hessischen Dialekt und grinst über das ganze Gesicht. „Natürlich“, fährt er fort, „wird sich diese Platte enorm vom Vorgänger unterscheiden. Die Leute haben inzwischen die Schemata durchschaut, die wir verwendet haben. Wir werden jetzt ein Album machen, das ziemlich experimentell sein
wird. Der kommerzielle Erfolg steht dabei völlig im Hintergrund.“
Ob die Plattenfirma ob solcher Ausblicke begeistert ist? Moses lehnt sich selbstbewußt zurück. „Ich habe noch nie mit irgendjemandem – außer mit Thomas und unserem Produzenten Martin Haas – über einen Titel diskutiert.“ Und Thomas Hofmann fügt seelenruhig an: „Wir spüren von Seiten der Plattenfirma keinerlei Druck. Es ist ja auch Sache der Firma, unsere Platte zu verkaufen, und nicht unsere.“ Einige neue Titel wie ‚Kommt krass‘ oder ‚Nur ich kann sie sehen‘ stehen kurz vor der Vollendung, einige wie ‚Mein Style‘, ‚Sei mal ehrlich‘, ‚Für immer und ewig‘ und ‚Dieses Lied‘ präsentierte das Duo bereits während der vergangenen Tournee. Die Versionen, die endgültig auf der CD landen, werden sich jedoch deutlich von den Live-Fassungen abheben. Die Band, die mit der Projekt-Posse durch deutsche Hallen zog, wird bei den Aufnahmen nicht dabei sein. Man darf gespannt sein. Thomas- Hofmann ist zuversichtlich, daß „die Fans die Entwicklung mitmachen werden. Sollten die kreischenden Teenies, die uns inzwischen über Schwester S. entdeckt haben, abspringen, kann mir das nur recht sein.“ Der Popstar-Status behagt ihm nicht all zu sehr. „Natürlich möchte ich nicht wieder in die Anonymität zurückfallen, aber seit mich die Leute in der Disko ansprechen, gehe ich abends nur noch sehr selten weg. Sobald die Fans, und auch die Medien, mehr von dir wollen, als du zu geben bereit bist, wird es gefährlich. Deswegen würden wir auch nie ein Interview mit ‚Bravo‘ machen. Wir sind einfach keine Popstars.“ Und Moses fügt an: „Es tut mir wirklich weh, mich mit Leuten unterhalten zu müssen, die mir nicht zuhören und die nichts von meiner Musik verstehen.“ Eine Problematik, mit der Schwester S, schwer zu kämpfen hat. „Was die von der ‚Bravo‘ alles von mir wissen wollten, nicht zu fassen. Die haben allen Ernstes geglaubt, ich erzähle ihnen von meinem ersten Kuß und meinem ersten Mal“, schimpft die 21jährige Tochter indischer Eltern. Nach dem durchschlagenden Erfolg ihres Debütalbums ‚S. ist soweit‘ und der dazugehörigen Single ‚Ja, klar‘ stehen die Medien bei ihr Schlange. Sogar der „Spiegel“ wartete unlängst mit einem Artikel über die schöne Schwester auf. Selbst Plaudertasche Thomas Gottschalk bat Sabrina in seine „Late Night Show“. Auf der Tour im Vorprogramm ihrer beiden Mentoren Moses und Thomas forderte das Publikum mit lautstarken „Schwester, Schwester“-Rufen vehement mehrere Zugaben. Nach den Shows wartete regelmäßig eine Traube Teenies vor dem Bandbus. „Man wird sehr schnell zu einem Idol hochstilisiert. Eine Rolle, die ich weder ausfüllen kann, noch will“, sagt Sabrina. „Es kommt inzwischen sogar vor, daß mich Leute auf der Straße ansprechen und daß Teenies an meiner Tür klingeln.“ Eine Popularität, mit der sie „nie gerechnet“ hätte. „Ich kann es bis heute nicht fassen, daß ich es mit meinem Album bis in die Top 20 geschafft habe“, erzählt sie mit ehrlicher Freude. Während sie spricht, will sich der Eindruck, den man von ihr hat, wenn man ihr Album hört, so gar nicht bestätigen. Das böse Schwesterchen, das auf ihrer Platte schon mal droht: „Wenn Reime töten könnten war‘ ich längst hinter Gittern“ (aus ‚S. ist soweit‘) oder „Für deine Kopf gibt’s ’nen Pfropf: 9mm …“ (aus ‚Mutter‘), gibt sich im Interview ganz brav und zurückhaltend. S. hat zwei Seiten, so steht S. offensichtlich nicht nur für „selbstbewußt“ sondern auch für „schüchtern“. Ein Eindruck, den Sabrina nicht entkräften will: „Meine Eltern haben zu mir gesagt, ich soll früh ins Bett gehen, weil heute Fotos von mir gemacht werden.“ Wenn das die toughen Jungs wüßten.