Kamasi Washington
Heaven And Earth
Young Turks/XL/Beggars/Indigo
100 Fäuste für ein Jazz-Halleluja – der Tenorsaxofonist übertrifft sein Debüt in einem kollektiven Rauscherlebnis.
Was kann eigentlich nach einem Großwerk, einem wahren Husarenstreich noch kommen? Die Frage stellte sich in den Jahren nach der Veröffentlichung von THE EPIC (2015), das Album war ein waghalsiges Unterfangen gewesen, ein monumentales dazu, der Tenorsaxofonist Kamasi Washington hatte mit einer halben Hundertschaft von Musikern (Jazzband, Orchester, Chor) ein knapp dreistündiges Jazz-Manifest produziert, das mit jeder Muskelfaser Aufmerksamkeit für ein Genre einforderte, dessen Marktanteil in Amerika nicht einmal zwei Prozent betrug. Es ging um Haltung, Geschichtsbewusstsein und Spiritualität, im Klangkörper durfte so einiges ineinander fließen: Gospel, Swing, wütende Erzählungen aus den Obertonschichten des Saxofons, Latin- und Funk-Spuren. Es war auch ein pralles Chorwerk, in dem heftig und enzyklopädisch soliert wurde. Ein irres Breitensport-Angebot: Das dürft ihr alles vom Jazz mitnehmen, Kinder.
100 Fäuste für ein Halleluja des Jazz
Und Washington konnte ein größeres Publikum erreichen, das sonst Pop, HipHop oder Elektronik hörte, nicht zuletzt, weil er vorher als Arrangeur und Saxofonist in den Sphären von Kendrick Lamar und Flying Lotus gewirkt hatte. Sein eigenes Album und die folgenden Live-Shows auf Pop-Festivals kamen einer General-Ansage für den Jazz gleich: „Wir sind wieder wer. Wir nehmen die Sache in die Hand.“ HEAVEN AND EARTH (145 Minuten Spielzeit) bündelt dieses „Wir“ jetzt in einem kollektiven Rauscherlebnis, das sich in größeren Dosen von Drums und Bass (auf zwei Stücken ist Thundercat zu hören) Gehör verschafft – der Backbeat einer Bewegung. Die aktuellen Stücke wollen nicht nur in ihrer Pracht überwältigen, sie tragen die Ideen des Jazz in Zusammenhänge, die von einer fundamentalen Kraft erzählen, vom Bekenntnis zur Selbstermächtigung einer afroamerikanischen Community, als deren kultureller Vertreter der Jazz so lange nicht mehr hör- und sichtbar gewesen war.„Our time as victims is over, we will no longer ask for justice. Instead we will take our retribution“ – drei Zeilen, die am Ende des ersten Stücks auf dem ersten Album dieses Doppelpacks stehen. Sie sind so etwas wie eine Fortschreibung, die Washington seiner Coverversion eines Bruce-Lee-Soundtrack-Songs aus den frühen 70er-Jahren hat angedeihen lassen. „Todesgrüße aus Shanghai“ hieß der Film in Deutschland, und sein Titelsong klang ein bisschen so, als hätte sich Ennio Morricone in einem Labor für Martial-Arts-Spezialeffekte verirrt. Bei Kamasi Washington wird eine fordernde neunminütige Swing-Extension mit viel Raum für Piano und Saxofon daraus – und zwei Leadvokalisten, die verkünden, Gerechtigkeit auch mit Fäusten walten zu lassen. Selbstjustiz als historische Notwendigkeit? Nimmt man alle Beteiligte, sind es 100 Fäuste für ein Halleluja des Jazz.
Ein dialektischer Kassensturz zwischen Himmel und Erde
Auf der anderen Seite des Spektrums steht eine relativ werktreue Adaption des Freddie-Hubbard-Stücks „Hub-Tones“ (1963), das schon im Original auf den Einfluss von Coltrane und die Modalitäten des Modal Jazz verwies. Ein Heimspiel für Washington also. 13 der 16 Kompositionen stammen von Washington selbst, und man gewinnt den Eindruck, seine neuen Stücke sind im Rahmen einer fortschreitenden Hochstimmung entstanden, die hymnischen Chöre durchdringen mehr und mehr die Jazz-Strukturen, stülpen sich über Beats und Bass, schreiben ihre eigenen jubilierenden Geschichten. „Will You Sing“ zum Finale malt eine Gershwin’sche Hybrid-Musik in den Himmel, deren Botschaft schon Porgy und Bess auf den Lippen hätten haben können: „With our songs one day we’ll change the world“.
So schaukelt diese Platte ganz wunderbar zwischen Schwelgereien und politischen Positionierungen, zwischen Fusion und Festspiel, Streicherwinden und Saxofonraspeln und verlässt dabei das, was wir bislang für das Terrain des Jazz hielten, etwas häufiger, als das Vertretern der reinen Lehre lieb sein dürfte. Auf „Vi Lua Vi Sol“ führt der Auto-Tune-Gesang in den Weltstrom des R’n’B, und selbst das passt. „The Space Travelers Lullaby“ dagegen scheint sich in Klangspiralen von dieser Welt zu verabschieden.
Kamasi Washington hat im Zusammenhang mit dem Album-Konzept davon gesprochen, dass wir alle unsere eigenen Universen kreieren, im selben Moment aber auch Kreationen dieser Universen sind. Wo wir gerade stehen, vermag vielleicht die Musik zu sagen, sie ist verstörend, aufbegehrend, wild, aber bei Washington immer ein Ort der Inklusion. Ein dialektischer Kassensturz zwischen Himmel und Erde.
Die fünf besten Songs: 1. Fists Of Fury 2. Will You Sing 3. The Space Travelers Lullaby 4. Street Fighter Mas 5. Show Us The Way
Klingt wie: Freddie Hubbard: RED CLAY (1970) / The Hastings Street Jazz Experience: THE DETROIT JAZZ COMPOSERS LTD. (1976) / Horace Tapscott Conducting The Pan-Afrikan Peoples Arkestra: THE CALL (1978)