Album der Woche

Blood Orange

Negro Swan

Domino/GoodToGo (VÖ: 24.8.) 

Die perfekte Balance zwischen „black depression“ und Hoffnung: Ein Meisterwerk des erzählenden Neo-Souls. 

„Tell me what you want from me“ lautet eine der vielen magischen Zeilen auf dieser Platte. Dev Hynes also known as Blood Orange formerly known as Lightspeed Champion wiederholt sie im Stück „Chewing Gum“ immer wieder, dann überlässt er A$AP Rocky ein Feature über Kaugummigeschmacksrichtungen, kurz danach kommt der Rapper aber zum Punkt: Wer hat mit wem rumgemacht? Und zwar quer über die herkömmlichen Gender-Grenzen hinweg. „Chewing Gum“ ist ein wunderbarer Soul- und R’n’B-Popsong, die Melodie ist fantastisch, die Keyboards sphärisch, nur der Beat ist seltsam maschinell. Am faszinierendsten ist aber die sehnsüchtige Stimme von Hynes, der endlich wissen will, was man denn nun eigentlich von ihm wolle. In die Sehnsucht mischt sich Verzweiflung. Weil dieser Mensch zwar weiß, was er will – aber schleichend daran zerbricht, dass die Welt da draußen eine bestimmte Vorstellung davon hat, was er zu wollen hat. 

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Hynes wuchs im Osten von London auf, besuchte eine gute Schule, fand früh Anschluss an die Musikszene, spielte bei den Dance-Punks Test Icicles, die ab 2004 zur kurzen Welle der supergeilen Gitarrenbands zählte, zu denen man auch tanzen konnte. Es wird sehr viel über das Thema Integration gesprochen in diesen Tagen, am lautesten sind dabei die Stimmen derjenigen, die sich eben gar nicht zu integrieren haben, zu hören sind vor allem: weiße Männer. Wo müssen die sich denn integrieren? Warum schwadronieren dann ausgerechnet sie daher, wie das zu funktionieren habe? Warum also stellen weiße Männer die Regeln eines Prozesses auf, den sie gar nicht durchlaufen müssen?

Die Stücke handeln auch vom Queer-Sein in dieser Welt

Auf dem Vorgänger FREETOWN SOUND von 2016 nahm Hynes die Story seiner Eltern in den Fokus, der Titel war ein Verweis auf die Hauptstadt von Sierra Leone, den Geburtsort seines Vaters. NEGRO SWAN funktioniert nun wie der Blick in den Spiegel, die Songs handeln von seinem Leben als junger Schwarzer im Osten Londons, als erwachsener Schwarzer in den USA. Die Stücke handeln auch vom Queer-Sein in dieser Welt, gleich das erste Stück „Orlando“ erinnert an die Attacke auf den Gay-Nachtclub „Pulse“ im Juni 2016. Hynes sagt, diese neuen Songs handelten von „my own and the many types of black depression“, doch niedergeschlagen klingt NEGRO SWAN nicht.  

„Saint“ baut auf einem Beat auf, den man etwas weniger verfälscht Anfang der 90er-Jahre von Soul II Soul gehört hat, beim Kernstück „Hope“ ist dann glatt Puff Daddy also known as Brother Love formerly known as P. Diddy dabei: Eine Polizeisirene wird angedeutet, verstummt aber, eine besinnliche Klaviermelodie und die Stimme der Sängerin TeiShi übernehmen, dann sagt Puff Daddy: „I sit and smile when you come around.“ Zum Barjazz-Klavier philosophiert er über die Liebe, darüber, wie schön es wäre, so geliebt zu werden, wie man selbst Liebe versteht. Aber: „You want something, but you don’t know if you can handle it.“ Ein superintimer Moment. Atemberaubend wird er, wenn Dev Hynes am Ende des Stücks eine verhallte Dream-Pop-Coda entwickelt und sich das Piano ganz kurz vom Bar- in den Freejazz wandelt.  

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Am Ende gewinnt die Macht der Musik

„Family“ nimmt die Intimität auf, führt sie in die Familie, diesen im Idealfall total freien Raum, über den Janet Mock, Fernsehmoderatorin und Transgender-Aktivistin, in diesem kurzen Stück schwärmt. Dann singt Dev Hynes über sich als „Charcoal Baby“, stellt der Kraft einer einzelnen Familie die zermürbenden Energien der Gesellschaft gegenüber: Die seifigen Keyboards vertonen die Schieflage, das Saxofon bringt die Erlösung, denn wie fast immer gewinnt auch hier am Ende die Macht der Musik. Das ist die Hoffnung, die Blood Orange in dieses Album eingepflanzt hat und die wie ein guter Virus funktioniert. Selbst bei „Dagenham Dream“, einem minimalistischen Song über die Realität im Londoner Osten, wo ihm Lehrer von offensichtlichen Nachteilen erzählen und die Polizeisirenen zum Werktags-Sound gehören.  

Was NEGRO SWAN so besonders macht, ist die Balance aus Spannung und Entspannung, „Runnin’“ ist ein perfektes Beispiel, der Track beginnt wie eine Übung im meditativen Chillen, dann öffnen sich die Harmonien, Unruhe kommt auf und die sensationelle Georgia Anne Muldrow betritt den Raum, US-Sängerin auf den Spuren von Nina Simone. Ihre Stimme ist gar nicht laut nach vorne gemischt, sie bleibt leicht verhallt im Hintergrund, zieht den Track aber so sehr an sich, dass bis auf die akustische Gitarre kurz alle Instrumente verstummen: „You’re gonna be okay.“  

Dear white people, shut up and listen! 

Da ist sie wieder, die Hoffnung. Bei der Erinnerung, wann man schon einmal eine Musik gehört hat, die das Bewusstsein für die Probleme und die Hoffnung auf deren Lösung so differenziert ausbalanciert hat, landet man bei den frühen Platten von Arrested Development, bei D’Angelo, Kendrick Lamar, Solange, Janelle Monáe. NEGRO SWAN ist Teil dieser Reihe von Alben, die von Integration erzählen. Und auf denen Menschen diese Erzählung vornehmen, die dafür die nötige Autorität besitzen. Dear white people, shut up and listen!  

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