Benjamin Clementine
I Tell A Fly
Caroline/Universal (VÖ: 29.9.)
Der unberechenbare Pianist und Geschichtenerzähler liefert im Schnittwinkel aus Jazz-Chanson, Barock-Pop und moderner Klassik eine bildstarke Auseinandersetzung mit den Krisen unserer Zeit.
Alles beginnt mit einer Alien-Abschiedszeremonie: In „Farewell Sonata“ verlassen zwei fliegende Reisende ihren Heimatplaneten auf der Suche nach einem besseren Leben (ihre Gestalt changiert im Folgenden zwischen Aliens, Vögeln und Fliegen). Benjamin Clementine hat sein ambitioniertes, zweites Album in den Erzählrahmen eines Theaterstücks eingepasst, in dessen Verlauf die Reisenden an Eisenzäune und Scheidewege, in Lebensgefahr und heilloses Durcheinander geraten werden. „Farewell alien!”, singt er, begleitet von Weltraum-Glucksen und zartem Klavier und zieht die Silben würdevoll in die Länge.
I TELL A FLY ist eine radikale Weiterentwicklung des Debüts AT LEAST FOR NOW, auf dem der Londoner Brit-Chansons über sein Innenleben sang. Auf der neuen Platte spiegeln sich in den von Tieren bevölkerten Geschichten die Krisen unserer Zeit: Flüchtende und Migranten, Syrien und der „Dschungel von Calais“, Paris, Amerika und die Boote im Mittelmeer. Das Songwriting ist fokussierter und von stärkerer literarischer Spannkraft, mit der Clementine seine jahrelange Lektüre der großen Meister kanalisiert: Hemingway, Blake, Wilde, Orwell. Jedes Wort ist zehnfach abgewogen und feingeschliffen. Zwischen den Zeilen tut sich eine surreale, finstere Welt auf.
In „God Save The Jungle“ ist es ein dystopischer Dschungel, angelehnt an das Flüchtlingscamp in Calais, in dem Lastwagen zu Streitwagen werden und Bahnschienen zu Treppen: „Railways: stairways, stairways to heaven, heaven as Britain.“ „Paris Cor Blimey“ verhandelt in Form eines vermeintlich harmlosen Kinderreims („Paris friend had a little pen“) den Umgang mit der rechtspopulistischen Front National. In der Barock-Pop-Nummer „By The Ports Of Europe“ flimmert eine Flut von Nachrichtenszenen über die Bildschirme, auf denen hübsche Reporterinnen vor Flüchtlingsbooten und Zeltlagern stehen: „Everyone is coming!“
Clementines Stimme ist wieder eine Wucht: oszillierend zwischen fragilem Falsett und bebendem Tremolo, die Töne biegend, unverwechselbar in der Dynamik – bis auf eine ferne Verwandtschaft zur dunklen Theatralik von Nina Simone oder Antony Hegarty. Auf dem Debütalbum war diese Stimme – vielmehr noch als das Piano – sein wahres, großes Instrument. Auf I TELL A FLY ist die Musik mitgewachsen. Immer noch ist sie ein kunstvolles Amalgam aus chansonhaften Jazzballaden, Kammer-Soul und sprudelnden Klavieretüden, die an Debussy oder Erik Satie erinnern und unter Clementines Fingern hinwegzufließen scheinen wie warmes Wasser.
Im Schnittwinkel dieser Elemente entwickelt er diesmal aber eine noch viel schönere Exzentrik: mehr in Richtung Pop-Avantgarde als in Richtung Neo-Klassik. Denn um seine Alien-Geschichte angemessen zu erzählen, hat Clementine mit der Instrumentierung experimentiert. Zum Piano sind perlende Cembalomelodien gekommen. Und ein Analogsynthesizer (ein Fender Rhodes Chroma Polaris), den er in den Kompositionen des japanischen Elektronik-Pioniers Isao Tomita für sich entdeckt hat und der den Möglichkeitsrahmen seiner Songs mit seinem extraterrestrischen Surren und Flirren weit aufzieht.
Und so wechseln sich Synthesizer-, Cembalo- und Klavierspiel ab und greifen ineinander. Am wirkungsvollsten geschieht das in „Phantom Of Aleppoville“, dem Kernstück des Albums, in dessen Text Clementine Theorien des britischen Psychoanalytikers Donald Winnicott mit dem Mobbing-Trauma seiner Kindheit und dem syrischen Bürgerkrieg verflicht. In eigenwilliger Dramaturgie verlötet er hier mindestens fünf verschiedene Sound-Akte. Es ist eigentlich zu viel Melodramatik für einen einzelnen Song – funkelnde Synthesizer und Klavierminiaturen und Marsch-Drums und gespenstische Flüsterstimmen und jazziger Sprechgesang und traurige Ballade – und es ist doch ganz große, unberechenbare, irrwitzig emotionale Popmusik. Musik, die so anmutig ist, wie die schönste der vielen schönen Botschaften, die sich Clementine für das letzte Stück aufhebt: „Barbarians are coming! Dreamers stay strong!“