Reeperbahn Festival 2021: Über die Zukunft von Independent-Labels
Wie steht es um unabhängige Plattenfirmen im Jahr 2021? Eine Bestandsaufnahme vom Reeperbahn Festival.
Wenn es beim Reeperbahn Festival 2021 heißt „Michel Lambot Meets Oke Göttlich“ – so der Titel einer der Talkrunden –, verspricht es spannend zu werden. Vor allem, wenn es um das Thema der unabhängigen Musikunternehmen geht, die weder Teil eines multinationalen Konzerns noch des Treibens an der Börse sind.
Mit Play It Again, Sam, kurz PIAS, gründete Lambot in Brüssel vor fast 40 Jahren eines der bedeutendsten Indie-Labels weltweit. Gemeinsam mit weiteren Labels wie Factory, Mute, Rough Trade und 4AD prägte er damit das Geschehen der europäischen Musikszene der 80er und darüber hinaus nachhaltig.
Göttlich war 2003 Teil eines Teams, das einen Musik-Download-Store namens finetunes ins Leben rief, noch bevor Apples iTunes an den Start ging. Ohne große Marketingbudgets scheiterte das Projekt, doch sämtliche Labels erkannten die Relevanz der damals neuen digitalen Absatzwege. finetunes wurde in der Folge zu einem der größten unabhängigen Digital-Musikvertriebe. 2017 kaufte Sony Music das Unternehmen, seit 2020 ist Göttlich nun Geschäftsführer eines weiteren Digital-Vertriebes für Indie-Labels, Zebralution, und bereits seit 2014 Präsident des FC St. Pauli.
Wie soll man das alles bezahlen?
Beide haben also schon viel erlebt in ihrer Karriere, von den goldenen Jahren der CD, in denen sich die Musikindustrie wund verdiente, über den Zusammenbruch des angestammten Geschäftsmodells durch Napster und die Digitalisierung bis hin zur Renaissance mithilfe des Streamings. In der Ära der CD, so Lambot auf der Bühne beim Reeperbahn Festival, sei ein üblicher Zyklus für das Wiedersehen mit gezahlten Vorschüssen für Labels ungefähr ein Jahr gewesen. Das Label zahlte den Künstler*innen ein bestimmten Betrag, damit diese von irgendetwas leben und die Produktion eines Albums bezahlen konnten. Wenn dieses Album veröffentlicht wurde, bekam das Label das geliehene Geld nach Maßgabe der vereinbarten Splits mit den Künstler*innen wieder zurück – vorausgesetzt, es wurden genügend Exemplare verkauft.
Heute sei aus einem solchen Jahr mindestens zwei Jahre geworden, in denen ein Label immer noch seine Miete und die Angestellten bezahlen muss, erzählt Lambot weiter. Im System Streaming, in dem das Auszahlungsmodell der Lizenzgebühren hochgradig unfair ist und lediglich einen winzigen Teil der Marktteilnehmer*innen begünstigt (dafür aber überproportional), ist es für kleine Plattenfirmen aus Nischengenres ungemein schwerer geworden, die gezahlten Vorschüsse wieder einzuspielen. Vor diesem Hintergrund habe man als unabhängiges Label oft nur die Wahl zwischen dem Bankrott und dem Verkauf an einen Branchen-Riesen. Oder man hält sich wie PIAS durch Kredibilität, guten Geschmack und kaufmännisches Geschick seit Jahrzehnten über Wasser – strategische Kooperationen mit dem Major Universal Music inklusive.
Teamwork statt Abschottung
Künstler*innen aufzubauen und den Ertrag aus den getätigten Investitionen durch wachsende Fanbases wieder einnehmen zu können, benötigt also Zeit. Zeit, die die Musikwelt 2021 nicht mehr zu haben scheint. Schon gar nicht an der Börse, an denen Anteile von Unternehmen wie Warner Music und nun auch Universal Music gehandelt werden. Die Shareholder wollen ihre Dividenden sehen, und zwar zackig.
Oke Göttlich und Michel Lambot sprechen sich daher gegen erbitterte Konkurrenz und für mehr Kooperation zwischen kleinen und mittleren Musikunternehmen aus, um sich gegenseitig zu stärken. Ein Gedanke, dem in Deutschland vor allem durch die Existenz des VUT (Verband unabhängiger Musikunternehmer*innen) Rechnung getragen wird. Nicht ganz zufällig gehört Göttlich dem Vorstand dieses Vereins an.
Sich über die wirtschaftliche Realität von Labels wie PIAS zu informieren, könnte als Pflichtprogramm des aufgeklärten Musikfans gelten. Ein Besuch der Konferenz auf dem Reeperbahn Festival 2022 lohnt sich daher allemal, nicht nur für das Fachpublikum.