„Putin hätte gekotzt“: Der ESC 2024 queerer, nonbinärer & brisanter denn je
Der ESC präsentiert sich als bis zum Platzen aufgeladener Wettbewerb. Demos, Buh-Rufe, ein Ausschluss – und Musik gibt es auch noch! Linus Volkmann begleitet das Event im schwedischen Malmö für uns.
Einlass
Und wenn der holländische Kandidat Joost Klein noch so oft versucht mich niederzuschlagen … An dieser ESC-2024-Betrachtung kommt niemand vorbei. Warum sollte man auch? Selten waren Vorfeld und Show so ereignisreich – und das will etwas heißen bei einer Veranstaltung, die regelmäßig von ihren (lauten) Zwischentönen übertönt wird.
Der Abend des Finales in der Arena in Malmö, Schweden, sei hier als kleiner Live-Ticker rekapituliert. Ein unmittelbares Format „to feel the heat“, wie wir ESC-Journos sagen. Viel Spaß.
too long; didn’t read
Wer allerdings nur für die schnellen Infos hier ist: Dass Nemo mit dem Song „The Code“ für die Schweiz gewonnen hat, dürfte bekannt sein. Interessanter allerdings, was sich musikalisch von dieser ESC-Aufführung 2024 ableiten lässt. Die Veranstaltung zeigt, dass sie nach all den Jahrzehnten den Zeitgeist tatsächlich eingeholt hat.
Und das war ein echt weiter Weg! Der Grand Prix vor der Jahrtausendwende stellte zumeist ein bestenfalls buntes Auffangbecken für abgehängten Gebrauchsschlager dar: Alles immer ein bisschen camp, durchaus queer, aber vor allem ziemliches Rentnertainment. Seit den 2000ern hat sich das sukzessiv gewandelt. Die Musik wurde zwar nicht unbedingt besser, aber doch jünger, internationaler, aktueller. Einzig beim greisen NDR, der in Deutschland verantwortlich ist für das Projekt ESC, schnarchte man dieser Zeitenwende hinterher und sandte erratisch immer wieder ein egales Neo-Schlager-Update mit diesem gewissen Ralph-Siegel-Swag. Germany Zero Points! Dieses Jahr lief es aber besser als zuletzt. Isaak neben und auf der Bühne stabil mit „Always On The Run“.
2024 spiegelt der ESC sogar den Zeitgeist von TikTok und Instagram. Diverse Acts wie Bambie Thug aus Irland oder Baby Lasagna aus Kroatien verbinden selbstverständlich scheinbar nicht kongruente Stile: Operette, Noise, Death Metal Gewitter, Pop … das Thema Sortenreinheit hat sich überholt. Wie eben auf TikTok „stitcht“ (näht) man die Genres zusammen. Bearbeitet vorhandenes Material, in dem man es auf besonders Wesensfremdes nagelt. Gutes Songwriting steht bei dieser Hegemonie von Reizüberflutung und Knalleffekt natürlich ziemlich unter Druck, aber ein Hit findet seinen Weg am Ende trotzdem. Fest steht, die Zeiten, in denen der ESC auf Strecke an einem eher betulichen bis leicht öden Soundteppich gestrickt hat, sind definitiv vorbei.
Okay, eine Vorbemerkung (I)
2022 – Safe Space ESC.
Ich weiß noch, wie ich mich nach dem Schock über den Angriff Russlands auf die Ukraine nach dem ESC gesehnt hatte. Corona war noch nicht ausgestanden, da herrschte 2022 wieder Krieg in Europa. Dunkle Zeiten, finstere Perspektiven. Trost erhoffte ich mir – und damit war ich nicht allein – von einer Eurovision-Gala, die all das hochleben sollte, was Putins Regierung verdammt und kriminalisiert: Eine queere, Ländergrenzen überschreitende Popkultur. Und zwar eine, die sich mit der Ukraine solidarisieren würde.
Die Sehnsucht nach einem solchen Statement war bei mir so groß, dass ich die Redaktion des Musikexpress davon überzeugte, wir müssten ein großes ESC-Spezial im Heft machen.
Doch viel wichtiger war, der ESC 2022 wurde – trotz seiner selbstauferlegten Politikfreiheit – der erhoffte Schulterschluss gegen den Hass. In Turin flogen dem ukrainischen Beitrag beim Publikums-Voting mehr Punkte zu, als je ein Song dort einstreichen konnte. Das Kalush Orchestra gewann mit dem Song „Stefania“.
Die Welt war dadurch nicht wieder in Ordnung, doch von diesem Abend ging Trost aus.
Vorbemerkung (II)
2024 – Alptraumort ESC.
Nur zwei Jahre später graut mir vor dem Event, das doch gerade noch bunte Unity verhieß. Denn der Nahost-Konflikt spaltet aktuell auch die ESC-Welt. Solidarität mit palästinensischen Sache geriert sich hier in einem Furor gegen Israel. Statt nach gemeinsamen Wege in der Kulturszene zu suchen, sieht sich die Sängerin des israelischen Beitrags mit Morddrohungen konfrontiert, Israel riet seinen Bürger:innen von einem Besuch in Malmö ab, da ob der Demonstrationen und Stimmungen vor Ort die Sicherheit von Jüd:innen als nicht gewährleistet gesehen wurde.
Wie die Bedrohung von Gästen und der Interpretin die Lage in Gaza verbessern soll? Unklar. Sicher war aber schon im Vorfeld: Von dieser Show wird kaum Trost ausgehen. Man muss schon dankbar sein, dass keine Gewalt von dem Abend ausgeht. (Das bis dato noch ungeklärte Ereignis vom Donnerstag, das für Joost Klein den Ausschluss bedeutete, natürlich ausgenommen.)
Live-Ticker ESC 2024
[20:31] Kann losgehen! Sammeln mit der Clique vor dem TV-Gerät. Wie früher mit der Familie, nur irgendwie nicht ganz so bedrückend. Vorfreude und Vorangst!
[20:37] Aber wo ist denn jetzt dieser legendäre Mett-Igel?
[20:39] Ach so, keine:r isst Fleisch und vor allem dachte jede:r vom anderen, er:sie brächte etwas zu essen mit. Also das wäre unter dem Regiment von Mutti und Ralph Siegel aber nicht passiert.
[20:55] Eine „lockere“ Pastorin münzt das „Wort zum Sonntag“ auf den ESC. Irgendwas von der Kraft der Musik und wer singt, würde niemanden umbringen. Ein Gutes hat diese hölzerne Kumpel-Predigt: Wer schon lange nicht mehr eine Kirche von innen gesehen hat, bekommt das diffuse Gefühl, etwas richtig gemacht zu haben.
[21:02] Der ewige Peter Urban klingt heute aber anders. Mehr so wie der Overvoice-Sprecher eines abwaschbaren Imagefilms von Audi oder der Deutschen Bahn. Ach so, das ist tatsächlich jemand Neues? Werde sofort leicht unruhig. Kann denn nicht alles bleiben, wie es mal war? Ist das wirklich zu viel verlangt? Schnell macht Thorsten Schorn, „der Neue“, klar, dass der ESC jetzt offiziell „witziger“ gedacht werden soll – und vor allem auch so moderiert wird. Die Folge: Wie viele Twitter-Gags schafft es die sämige Boomer-Stimme, in jeden ihrer zwangsoriginellen Takes unterzubringen?
[21:18] SCHWEDEN
Marcus & Martinus „Unforgettable“
Zwillinge, die man aus dem Jugendmagazin BRAVO kennen kann und die mit Song und Choreo das Andenken der Backstreet Boys ehren. Piff, paff, puff und durchgerauscht. Pop-Primus, Vorjahres- und Rekordsieger Schweden möchte als Gastgeber augenscheinlich diesmal auch den anderen eine Chance im Wettbewerb geben. Wie höflich!
[Platzierung am Ende: 09]
[21:23] UKRAINE
Alyona Alyona & Jerry Heil „Teresa & Maria“
Die Rapperin Alyona Alyona versucht nicht einfach ihren regulären Fame, den sie zweifelsohne mittlerweile besitzt, für den ESC einfach mit etwas mehr Lametta durchzupausen. Das Duett mit Jerry Heil zeigt viel mehr, wie wandlungsfähig und vielschichtig sie ist. Dramatisch statt trashig, episch statt verkürzt. Meiner bescheidenen Meinung nach eins der besten Stück in der diesjährigen Konkurrenz. Hoffe, das steht den beiden nicht im Weg. Denn Qualität gilt beim ESC nicht zu Unrecht als sicheres Punktegrab.
[Platzierung am Ende: 03]
[21:27] DEUTSCHLAND
Isaak „Always On The Run”
Jetzt schon schlechte Laune ob der verheerenden Prognosen, die „unseren Bub“ Isaak umkreisten. Was muss die Powernation Deutschland denn noch aufbieten, um nicht mehr so hart gaslightend zu werden am Punktebuffet der fetzigen Gesangsveranstaltung? Auch so ein talentierter Act wie ISAAK, der ungefähr klingt wie Joe Cocker und der Dings von The Killers, reicht nicht? Was erwartet Europa denn noch! Mehr Groove hat Deutschland nun wirklich nicht. Eher weniger. Meine Vision: Team Scheiße mit „Rein ins Loch“ nächstes Jahr antreten lassen. Das wird dem wurmstichigen Kontinent eine Lehre sein!
[Platzierung am Ende: 12]
[21:38] ISRAEL
Eden Golan „Hurricane“
Die Spannung im Saal vibriert. Alle Energie, alle Aufmerksamkeit komplett on point. Für die junge Künstlerin muss es eine unglaubliche Anstrengung sein, hier „einfach mal“ zu performen, wo es offensichtlich doch um so viel mehr geht. Ihr Stück hieß im Original übrigens „October Rain“ und nahm damit Bezug auf den entmenschten Überfall der Hamas am 7. Oktober. In den ruhigen Passagen hört man vereinzelt Buh-Rufe und die Unruhe im Saal. Wer hier zu stören sucht, muss sich fragen, ob er den Schuss nicht gehört hat. Oder die Schüsse, auf die der Song rekurriert, nicht hören will. Aufatmen, als Eden Golan ihre Performance letztlich aber ohne Einflussnahme von außen durchgebracht hat. Was eine Last dieser Tage. Ich grüße alle, die in diesen dreieinhalb Minuten auch einige Nerven verloren haben.
[Platzierung am Ende: 05]
[21:48] SPANIEN
Nebulossa „Zorra“
Angenehm, endlich mal Leute, die so alt sind wie die eigenen (Groß-)Eltern. Das Duo Nebulossa (eigentlich von der Profession Frisöre) sieht dabei aus ein ganz normales Swinger-Pärchen aus Herne. Dazu tanzen Männer in Fetisch-Wear, Lack, Korsage und singen das spanische Wort für Füchsin beziehungsweise Schlampe. Der ehrwürdige Wettbewerb kommt bei sich selbst an.
[Platzierung am Ende: 22]
[21:56] IRLAND
Bambie Thug „Doomsday Blue“
Kontrastreiches von der beliebten Butterinsel mit Landschaftsgarantie. Irland hat einfach mal Extreme zusammengelötet, im Namen des Acts schwingt’s ja bereits mit: Thug ist ein Slang-Terminus für den Gangster und Bambie natürlich das goldige Reh mit Mutter-Issues. Das Bühnenbild flirrt dementsprechend zwischen einem Bravo-Girl-Romantic-Post (Delphine küssen sich im violetten Abendlicht am Strand), dem verfilmten Fiebertraum von „Pan’s Labyrinth“ und einer Dämonenbeschwörung. Die Musik verbindet die Eleganz eines Bonds-Songs mit weißem Rauschen und einem erfrischenden Stahlbad.
[Platzierung am Ende: 06]
[22:10] GROSSBRITANNIEN
Olly Alexander „Dizzy“
Die Choreo mit dem rotierenden Würfel ist faszinierend und akrobatisch. Allerdings so anspruchsvoll, dass man in der ersten Hälfte des Stücks dem Eindruck unterliegt, der verdiente Pop-Crooner Olly Alexander könne gar nicht so gut singen und hätte in Wahrheit nur ein arg schmales Stimmchen. Erst als der größte Choreo-Irrsinn geschafft ist, nimmt Olly Fokus auf den Song. Bisschen spät. Dennoch ein griffiger kleiner Hit mit Erasure-Feeling.
[Platzierung am Ende: 18]
[22:21] ITALIEN
Angelina Mango „Noia“
Als eins die Ents (also die Bäume) bei „Herr der Ringe – Die zwei Türme“ gegen den bösen Zauberer aufliefen, dachte man sich doch schon: Geile Holz-Typen, die würde ich gern mal in einer anderen Rolle sehen. Italien macht dies nun möglich! Bühnendeko und -kostüme, die verästelter sind als manches Black-Metal-Logo. Gut, den stumpfen Marschmusik-Pop meets Reggaeton hätte ich jetzt nicht dazu gebraucht, aber mit Wind in den Wipfeln oder einem einzelnen Specht gewinnt man auch keine Songturniere. Da muss schon das Mentos in die Cola geworfen werden – insofern stimmt hier fast alles.
[Platzierung am Ende: 07]
[22:28] Kommentator Thorsten Schorn: „Und gleich kommt Obelix und trägt das Bühnenbild wieder raus!“ Wegen der Qualität einzelner Songbeiträge herrscht hier in kleiner Gruppe Uneinigkeit. Überzeugt sind mittlerweile allerdings alle davon, wie grauenhaft man Moderator Thorsten Schorn mit diesen pseudo-schnippischen Aufsager-Gags findet.
[22:32] FINNLAND
Windows95man „No Rules!“
Die Choreo: Er trägt keine Hose aber der Kamera steht immer irgendwas im Weg, sodass sie nie sein Glied ins Bild setzt. Was wie ein schlüpfriger Sketch aus der Ulknudel-Kiste klingt, verfehlt seine Wirkung nicht. Man (ich zumindest) geht sehr nah ran an das Endgerät. In der frommen Hoffnung, vielleicht doch „was“ zu sehen. Das Ganze besitzt – auch wegen des cartoonigen Nerd-Looks des Windows95mans – von einem verfilmten Meme.
[Platzierung am Ende: 19]
[22:46] SCHWEIZ
Nemo „The Code“
Die Neunziger sind wieder da! Plateauschuhe (1990er) und Papageno (1790er). Die Schweiz mit einem interessant gefiederten Act, der auf einer Flip-Flop-Scheibe balanciert und zu allem Überfluss sich nach dem ersten Refrain noch in einen Rap-Part à la New Kids On The Block ergießt auf Drum’n’Bass-Rhythmus. Spektakuläre Musik für Leute, die gern alles gleichzeitig machen.
[Platzierung am Ende: 01]
[22:59] KROATIEN
Baby Lasagna „Rim Tim Tagi Dim”
Eine schöne Mischung aus DJ Bobos Piratenmusical und Rammstein. Und mit schön meine ich natürlich: Kann ich bitte kurz meinen Kopf in Batteriesäure tunken?
Für die Menschen scheint dieses Gulasch der Zeichen (Boygroup-Choreo, „Fluch der Karibik“, Nähmaschinen-Rock, Rüschenhemdchen, Sturmhauben) in seiner Überwältigungs-Ästhetik eine angenehme Abwechslung von der eigenen Zurechnungsfähigkeit sein. Der Call- und Response-Teil kommt riesig an, das Publikum brüllt. Hier könnte was gehen! Aber nichts Gutes.
[Platzierung am Ende: 02]
[23:28] Es ist Pause, Stimmen zählen. Und ABBA werden in ihrer Avatar-Inszenierung auf die Bühne projiziert? Wow! Die Begeisterung darüber schlägt allerdings schnell in Erleichterung um: Ein Glück habe ich dafür nicht 700 Euro bei einer eigenen Veranstaltung ausgegeben.
Einfach nur spooky, dystopisch – und irgendwie auch peinlich.
[00:49] Mit Nemo gewinnt für die Schweiz eine non-binäre Person mit einem wirklich abenteuerlichen Stück Popmusik. Israel wie auch die Ukraine holen vielen Punkte bei den Publikums-Votings. Kurz sind die beiden todunglücklichen Länder im Klassement damit ganz vorne. Am Schluss belegen sie immerhin die Ränge drei und fünf.
Fazit hinsichtlich des Abends: Also Putin und die Hamas hätten gekotzt. Der ESC so queer, nonbinär und exaltiert wie selten zuvor. Das möge die Zukunft sein. Nichts anderes. Ja, okay, aber man wird doch noch mal träumen dürfen. Wofür ist der ESC denn sonst bitte gut?
Also … Vielen Dank fürs Mitfiebern. Bonne Nuit, good night, gute Nacht!