Reflektor

„Persons Unknown“: Warum die Aufrichtigkeit der Poison Girls großen Respekt verdient


Jan Müller von Tocotronic trifft für seinen „Reflektor“-Podcast interessante Musiker*innen. Im Musikexpress und auf Musikexpress.de berichtet er von diesen Begegnungen. Hier die 25. Folge seiner Kolumne, in der er erklärt, warum die Poison Girls ihrer Zeit weit voraus waren.

Manchmal geschehen merkwürdige Dinge. So weiß ich bis heute nicht, wie eine gewisse Single in meine Plattensammlung geriet. Irgendwann war sie einfach da. Ohne Etikett und Hülle. Nur die Platte. Ein Split-7’’ aus dem Jahr 1980. Auf der einen Seite Crass mit „Bloody Revolutions“, auf der anderen Seite eine mir bis dahin nicht bekannte Band mit dem Namen Poison Girls mit „Persons Unknown“. Der Crass-Song ist ein sechsminütiger Abgesang auf politische Revolutionen und ein Crass-typisches Statement gegen Gewalt. Im Grunde paraphrasiert die Band hier ein George-Orwell-Zitat: „Man errichtet keine Diktatur, um eine Revolution zu sichern; man macht die Revolution, um die Diktatur zu errichten.“

Tief, rau, androgyn und eindringlich

Der Song ist toll, der Sound ist toll, es ist schön, wie sich die Gesänge von Steve Ignorant und Eve Libertine abwechseln. Ein großer Moment dieser unvergleichbaren Anarcho-Band, die ich bewundere. Für ihre Konsequenz und ihre Experimentierfreudigkeit. Dennoch, wenn man die Platte umdreht und „Persons Unknown“ der Poison Girls auflegt, ist der Crass-Song sofort vergessen. Wir hören ein schleppendes, mächtiges Riff, über dem in den ersten 45 Sekunden ein quälender, hochfrequenter Ton liegt. Dieses Störgeräusch erstreckt sich auch noch über die ersten Verse des Gesangs: „This is a message to Persons unknown / Persons in hiding, Persons unknown“. Diese Stimme! Sie ist tief, rau, androgyn und eindringlich.

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Sofort zog mich der Gesang in seinen Bann. Es wäre möglich, Vergleiche zu ziehen. Zu Lydia Lunch (wie sie im tollen Song „The Gospel Singer“ klingt) oder zu Jennifer Herrema von den Royal Trux oder zur späten Lotte Lenya. Aber Vergleiche sind doch im musikalischen Kontext immer ein wenig ein Eingeständnis von Hilflosigkeit. Es ist die Stimme von Vi Subversa (1935-2016), die wir hören. Subversa war bereits über 40 Jahre alt und Mutter zweier Kinder, als sie 1976 die Anarcho-Punk-Band Poison Girls gründete. „40 Jahre lang glaubte ich, ich dürfte keine Sängerin sein. Ich sei kein Mick Jagger und kein Johnny Rotten oder keine Marilyn Monroe. Ich glaubte, ich dürfe nicht in der Öffentlichkeit sein, sondern müsse in meinem Wandschrank hocken und mich um die Kinder und meinen eigenen Kram kümmern.“

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Wie gut, dass sie sich dann eines Besseren besonnen hat. Es ist spürbar, mit welcher Kraft sich dieser lang angestaute Drang dann in ihrer Kunst entfesselt. In ihrem Ausdruck und ihren Texten: „Survival in silence, isn’t good enough no more / Keeping your mouth shut, head in the sand“, heißt es in „Persons Unkown“. Persons Unknown war eine englische Anarcho-Gruppe, deren Aktivisten vorbeugend im Gefängnis saßen, ohne eine Straftat begangen zu haben. Crass und die Poison Girls setzten sich für diese Gruppe ein, sammelten Geld für die Inhaftierten. Und es ist bestimmt kein Zufall, dass die Poison Girls den Namen der Gruppe als Titel des Songs verwendeten. „This is a message to Persons unknown / Strangers and passers-by, Persons unknown / Turning a blind eye, hope to go unrecognized / Keeping your secrets, Persons unknown“.

Eine Traumreise durch die Realität der frühen 80er-Jahre

Trotz dieser Verweise blieb der lange Text von „Persons Unkown“ für mich immer rätselhaft. Ein Rundumschlag. Ein Lied, das sich im Grunde an jede*n richtet. Und dennoch ist ein Unbehagen in ihm spürbar. Das Große an dem Song ist, dass er ohne Parolen auskommt. Er zeichnet ein Bild mit düsteren Anteilen. Es ist eine Traumreise durch die Realität der frühen 80er-Jahre. In seiner Technik ähnlich wie einer jener langen Bob-Dylan-Songs vom Schlage „Desolation Row“. Allerdings erzeugen die Poison Girls eine gespenstische Anspannung, die sie über sieben Minuten halten. Was für eine Energie! „Liggers and layabouts, lovers on roundabouts / Wake up in the morning with Persons unknown / Accountants in nylon shirts, feminists in floral skirts / Nurses for when it hurts, Persons unknown / Flesh and blood is who we are / Our cover is blown …“

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Es gibt viele weitere hörenswerte Songs der Poison Girls und es ist bestimmt überfällig, das Werk Vi Subversas grundlegend zu würdigen. Gerade in Tagen wie diesen, in denen sich die Popmusik wieder politisiert, ist es wertvoll, sich mit dem in jederlei Hinsicht entschlossenen Ansatz von Bands wie den Poison Girls und Crass zu beschäftigen. Ihre anarchistische Einstellung mag heute in mancherlei Hinsicht naiv wirken. Trotzdem verdient die Aufrichtigkeit dieser Bands großen Respekt. Und in Bezug auf Fragen des Feminismus ist es wirklich beeindruckend, wie weit sie ihrer Zeit voraus waren. Was jedoch zu sagen bleibt: „Persons Unknown“ der Poison Girls ist für mich das Meisterwerk, welches über allem steht. Und vielleicht werde ich irgendwann auch das Rätsel lösen können, wie dieses Werk in meine Plattensammlung gelangte.

Zu Jan Müllers „Reflektor“-Podcast: www.viertausendhertz.de/reflektor

Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 03/2023.