Patti Smith: Trauer Power


Patti Smith, die aufregendste Rocksängerin der 70er jähre, meldet sich mit Meisterwerken für zwei Verstorbene zurück. Dem einen, Starfotograf Robert Mapptethorpe, widmet sie posthum ein Buch. Dem anderen, Ehemann Fred 'Sonic'Smith, gedenkt sie mit einer Platte. "In der Trauer liegt eine gewisse Schönheit", meint die singende Dichterin — und ist dabei so intensiv wie noch nie.

Im Soho House, einer kleinen aber feinen Adresse im Herzen von London, herrscht eine ähnliche Atmosphäre wie am Lager eines Leidenden. Einer Krankenschwester ähnlich schleicht die amerikanische PR-Lady von Patti Smiths Plattenfirma über die antiken Dielen und mahnt die Anwesenden zur Ruhe. Davon noch am wenigsten beeindruckt zeigt sich eine zum Interview mit Frau Smith eigens aus Italien angereiste Journalistengruppe. Unterbunden wird das temperamentvoll mediterrane Palaver erst durch ein langgezogenes Pscht der Schallplattendame. Silencio, prego. Man weiß ja: In der Ruhe liegt die Kraft. Und Kraft kann Patti Smith, die im Zimmer neben dem Warteraum für die Italiener im Halbstundentakt Journalisten aus halb Europa empfängt, bitter brauchen.

Die Dichterin des Rock’n’Roll, die im Dezember 50 wird, wirkt zerbrechlicher denn je. Filigrane Finger streichen dunkles, von grauen Strähnen durchzogenes Haar aus einem Gesicht, das vom Leben gezeichnet ist. Innerhalb weniger Jahre hat Patti Smith vier der für sie wichtigsten Menschen verloren: ihren Bruder Todd, den an Aids gestorbenen Starfotografen Robert Mapplethorpe (Pattis engster Freund aus frühen New Yorker Untergrund-Tagen), ihren Pianisten Richard Sohl und im November 1994 Ehemann Fred ‚Sonic‘ Smith. Wie auch Pattis Bruder erlag der einstige Gitarrist von MC5, von dem die Rockpoetin zwei Kinder hat, einem Herzanfall. Viel Leid, keine Frage. Aber nicht genug, um Patti Smith, die mit ‚Gone Again‘ (BMG) gerade eine neue Platte veröffentlicht hat, resignieren zu lassen. „Wie ich mich kenne, werde ich kein bißchen zahmer sein, wenn ich mich erst mal wieder etwas stärker fühle“, sagt Patti mit brüchiger Stimme, „denn ich habe meinen rebellischen Geist nicht gänzlich verloren. Trotzdem bin ich heute dem Leben gegenüber dankbarer als in Zeiten, in denen ich noch jünger war. Ich bin dankbar für meine Begabungen, dankbar für meine Kinder, für meine Freunde und dafür, daß ich meinen verstorbenen Mann kennenlernen durfte.“ In diesen Momenten der Demut hat die mit einem braunen T-Shirt und dunkler Jeans bekleidete Amerikanerin nur noch wenig mit jener Patti Smith gemeinsam, die früher vor allem eines im Sinn hatte — die Szene wachzurütteln: „In den frühen Siebzigern war die Dichtung langweilig, eine sterbende Kunstform. Auch der Rock’n’Roll hatte sich in dieser Zeit schlafen gelegt. Also machte ich mich auf, um für ein bißchen Unruhe zu sorgen — was ich dann ja auch geschafft habe.“ Bei diesen Worten legt sich ein zufriedenes Lächeln auf Pattis sonst so ernstes Gesicht, wohl wissend, daß ihre mutige Mischung aus leidenschaftlicher Lyrik und ruppigem Rock bis heute nachwirkt. U2S Bono beispielsweise verehrt die einstige Untergrund-Artistin als „echte Ausnahmeerscheinung“ unter den Musikern seines Fachs. Bei Michael Stipe, als Vordenker und Frontmann von R.E.M. ebenfalls anspruchsvollen Texten zugetan, führt die Bewunderung für Frau Smith noch erheblich weiter: „Ich habe Patti bei einem Konzert in Los Angeles gesehen. Und ich muß sagen, daß dieser Auftritt zu den zehn beeindruckendsten Erfahrungen in meinem bisherigen Leben zählt.“

Man mag Michael Stipe verstehen oder auch nicht — fest steht: Ein Auftritt von Patti Smith ist etwas Besonderes, was auch hier in London erneut deutlich wird. Die Künstlerin (endlich mal jemand, der diese Bezeichnung verdient) spielt in der Serpentine Gallery, einem neoklassizistischen Tempel mitten im berühmten Hyde Park. Geladen sind neben einer Handvoll kunstbeflissener Londoner ausschließlich Medienmenschen. Ein Umstand, der Musiker nicht eben zu Begeisterungsstürmen hinreißt. Denn die Journaille glänzt nicht selten durch Arroganz, ist bekanntermaßen schwer zu begeistern. Anders im Falle Smith. Als Patti und ihre beiden Gitarristen, ihr langjähriger Weggefährte Lenny Kaye und der erst 23jährige Oliver Ray, die Bühne betreten, brandet frenetischer Beifall auf. Beinahe so, als ob alle seit Pattis Abschied von der Rockszene im Herbst 1979 nur auf diesen einen Augenblick gewartet hätten.

Dann das Programm: das atemlose Wortstakkato von ‚Piss Factory‘ aus dem Jahr 1974, danach eine Reihe von Songs aus Pattis aktuellem Album. ‚Gone Again‘ natürlich, der Titelsong, aber auch ‚About A Boy‘ und ‚Farewell Reel‘. Alles Lieder, in denen sich — hinter Metaphern zwar aber trotzdem unüberhörbar — das Leben von Patti Smith mit all seinen schmerzlichen Erfahrungen, aber eben auch mit all seinen Hoffnungen widerspiegelt. „Ich schrieb die Lieder zu einer Zeit, in der ich sehr niedergeschlagen war“, erinnert die Autorin sich, „eine gewisse Trauer weisen die Songs also zwangsläufig auf. Das konnte ich meinem Publikum nicht ersparen.“ Wie Smiths soeben in den USA erschienener Prosaband ‚The Coral Sea‘ dem Leben und Sterben ihres geistigen Bruders Robert Mapplethorpe gewidmet ist, so entstand die neue Platte (Besprechung in ME/Sounds 07/96) im Gedenken an Pattis verstorbenen Ehemann Fred ‚Sonic‘ Smith. Dennoch klingt das hoch gelobte Album nicht durchgehend nach vertonter Trauer, sondern bleibt bei allem Ernst dem Rock durchaus verbunden. Mit ihren melodisch-melancholischen, bisweilen sogar meditativen Liedern muß Patti jedoch mehr denn je dem Lager der Singer/Songwriter zugeordnet werden. Sie selbst kann und will sich nirgends einordnen, möchte aber die Molltöne ihres Meisterwerks nicht im Vordergrund der Diskussion sehen: „‚Gone Again‘, der Titeltrack, war der letzte Song, den Fred vor seinem Tod schrieb, und im Grunde ist es ein Lied über die ständige Selbsterneuerung des Lebens, ein durchaus hoffnungsvoller Song also. Ein Lied über bestimmte Lebensabschnitte und darüber, daß nach einer dunklen Zeit der Not die Sonne wieder scheint, daß ein Baby geboren wird.“

Babies waren es, die der Rocksängerin Patti Smith nach ihrem vorläufigen Abschied von der Bühne völlig neue Pflichten auferlegten. So gestand sie dem amerikanischen Magazin ‚Interview‘: „Zu der Zeit, in der ich ein bürgerliches Leben führte — ein Leben, in dem ich, wie jeder andere auch, Tonnen von Wäsche wusch, die Kloschüssel putzte, Hunderte von Windeln wechselte und Kinder hütete — zu dieser Zeit habe ich eine Menge gelernt. Es ist schwer, am Morgen aufzustehen und die meiste Zeit des Tages damit zu verbringen, anderen zu Diensten zu sein… Ein Künstler schleppt vielleicht die eine oder andere Bürde mit sich herum, von der ein normaler Bürger keine Ahnung hat. Aber der normale Bürger hat Bürden, mit denen viele Künstler nicht mal in Berührung kommen.“ Anders als in manch anderen Künstlerehen zogen Patti Smith und ihr Ehemann Fred ‚Sonic‘ Smith die Kinder )ackson und Jesse ohne fremde Hilfe auf, „inklusive der finanziellen Schwierigkeiten, die auch andere Leute kennen“, wie Patti im ‚Interview‘ betont.

In den Siebzigern war zwar einiges mit und an der Patti Smith Group (mit Lenny Kaye und Ivan Kral an Gitarre und Bass, den Keyboardern Richard Sohl und Bruce Brody sowie Drummer Jay Dee Daugherty) verdient worden. Aber wie im Rockbusiness nun mal üblich, wurde eben auch einiges ausgegeben. Zu Reichtum jedenfalls hat es Patti Smith bis heute weder mit ihrer Lyrik („ich betrachte mich in erster Linie als Schreiberin“) noch mit ihrer Musik gebracht. Neben der Anerkennung als Künstlerin, die Patti in Kollegenkreisen genießt, mag auch dieser Umstand dazu beigetragen haben, daß sich bei den Aufnahmen zu ‚Gone Again‘, wie auch Smiths allererste Platte aufgenommen im New Yorker Electric Lady Studio, ein illustrer Kreis von Mitwirkenden die Klinke in die Hand gab. Darunter Pattis alte Freunde Tom Verlaine und John Cale sowie Sänger Jeff Buckley und die Cellistin Jane Scarpantoni. Erfolg in gewissem Rahmen dürfte ‚Gone Again‘ also sicher sein. Auch wenn Patti Smith ihr Publikum heute kaum noch einschätzen kann: „Bei meinen letzten Konzerten habe ich alle möglichen Leute gesehen — jüngere und ältere, Punks und brave Bürger. Was wohl damit zu tun hat, daß ich mich heute nicht mehr an ein bestimmtes Publikum wende.“ Statt dessen richtet Patti Smith das Wort an all jene, „…die eine helfende Hand brauchen oder glauben, daß es nur wenig Hoffnung gibt. Wenn ich nur ein paar von diesen Leuten dienlich bin oder ihnen sogar helfen kann, dann habe ich meinen Job gut gemacht. Und gut möchte ich sein in dem, was ich mache. Das war schon immer so.“

Wenn man seinen „Job“ mit so viel Ernst betreibt, überkommt einen da nicht zwangsläufig das nackte Grauen, wenn rüde Rapper und pubertäre Punks das Sagen haben? Patti Smith nimmt die Brille ab, reibt sich die Nasenwurzel und blickt ihr Gegenüber versonnen an: „Weißt du, vieles von dem, was seit Beginn der 80er Jahre musikalisch passiert ist, habe ich gar nicht bewußt verfolgt. Dafür war ich einfach viel zu sehr mit meinen Kindern, mit meinen Studien und dem Schreiben beschäftigt.“ Zwei Bands, die ihr aufgefallen sind, nennt Patti aber doch beim Namen: Sonic Youth und Nirvana. Beide mag sie, wobei im Falle von Nirvana sogar echte Bewunderung mitschwingt: „Die beste Band der 80er und 90er Jahre. Kurt war ein aufrechter Kerl. Ich würde ihn zwar nicht mit Jimi Hendrix oder Jim Morrison vergleichen. Dafür war er denn doch zu sehr ein Kind seiner Zeit. Er sprach auch nicht für mich, denn ich stamme aus einer anderen Ära. Ich hatte die Stones, John Lennon und Jim Morrison. Aber trotzdem war Kurt ein wichtiges Sprachrohr — für die Jugend.“ Berühmt war Cobain außerdem, zu berühmt vielleicht. Und so reagiert Patti Smith auch eher gereizt, wenn sie, wie jüngst im ‚Interview‘ geschehen, auf ihren eigenen Erfolg angesprochen wird: „Ich kann dir sagen, was Ruhm bedeutet -— it doesn’t mean a fucking thing.“

Patti Smith zum Lesen

Zwischen 1971 und 1973 veröffentlichte Patti Smith in den USA die Gedichtbände ‚Seventh Heaven‘, ‚Kodak‘ und ‚Witt‘. Hierzulande erschien in der ‚rororo‘-Reihe die zweisprachige Textsammlung ‚Babel‘. Eine Neuerscheinung auf dem amerikanischen Markt ist die bebilderte Prosa von ‚The Coral Sea‘, ein reich illustriertes Buch, das Patti Smith ihrem langjährigen Freund und künstlerischen Weggefährten Robert Mapplethorpe (1946 -1989) gewidmet hat und dessen Verkauf der AIDS-Forschung an der renommierten Harvard Medical School zugute kommt.