Hommage

Orson Welles – Das Genie des Unvollendeten


Er brillierte schon als Jugendlicher auf der Bühne und im Radio und schuf mit „Citizen Kane“ den ersten wahrhaft modernen Film - doch in Hollywood fiel er in Ungnade und musste mit Schauspielrollen das Geld für seine eigenen Filme verdienen, die oft Fragmente blieben. Zum 100.Geburtstag des wunderbaren Orson Welles.

Schon zwei Jahre zuvor hat das Filmstudio Warner versucht, Welles als Schauspieler zu gewinnen. Im August 1939 zieht der Umworbene tatsächlich nach Hollywood und unterschreibt bei RKO einen Vertrag, der ihm bei der Produktion von zwei Filmen freie Hand lässt. RKO ist das kleinste der großen Studios und in prekärer Lage, „eigentlich ein Wrack“ – der Firmenpräsident, George Schaefer, akzeptiert Welles’ Bedingungen.

„Alles, was ich wusste, lernte ich von John Ford“, sagte Welles später. „Bevor ich mit den Dreharbeiten begann, habe ich vierzigmal ,Ringo‘ gesehen.“ Als „Citizen Kane“ fertiggestellt ist, gelangt eine Kopie zu dem Zeitungsmo- gul William Randolph Hearst, der sich in Charles Foster Kane erkennt und alle Anstrengungen unternimmt, um die Aufführung des Films zu verhindern: Er setzt den RKO-Aktionär John D. Rockefeller unter Druck, MGM- Boss Louis B. Mayer will den Film aufkaufen. George Schaefer hält stand, doch „Kane“ wird in den von Hearst kontrollierten Kinos nicht gezeigt, wird schwärmerisch rezensiert und macht trotzdem Verlust. Orson Welles ist das Enfant terrible. Als er den nächsten Film beginnt, scherzt ein Beobachter: „Orson Welles hat einen Vertrag für zwei neue Filme unterzeichnet: für einen, der 1941 nicht gezeigt, und für einen, der 1942 nicht gezeigt wird.“

Rastlos dreht Welles das Familien-Epos „Der Glanz des Hauses Amberson“, reist aber im Sommer 1941 nach Rio de Janeiro, um an dem Episodenfilm „It’s All True“ zu arbeiten. Dazwischen produziert er für CBS die „Orson Welles Show“ im Radio. Im März 1942 wird eine Schnittfassung von „Amberson“ einem Testpublikum gezeigt, das mit Missfallen reagiert; einige Zuschauer ver- lassen den Saal. Der neue RKO-Präsident, Charles W. Koerner, lässt den Film umschneiden und verkürzen, ergänzt einen versöhnlichen Schluss und vernichtet die herausgeschnittenen Szenen. Es fehle „das ganze Herz des Films“, klagte Welles später. „Sie zerstörten ‚Amberson – und das zerstörte mich.“

„Die Lady von Shanghai“
„Die Lady von Shanghai“ (1947) Requiem für eine Liebe: Welles verwandelte Rita Hayworth in eine sinistre, umso berückendere Blondine

Das Brasilien-Projekt scheitert, obwohl Welles bereits einen guten Teil der Aufnahmen gemacht hat. Seit 1940 ist er von Virginia geschieden (sie beklagt später sein „crushing ego“) und mit der älteren Schauspielerin Dolores del Río liiert, die er schon als Elfjähriger im Kino bewundert hat. Doch dann sieht er auf einem Zeitschriftentitel eine andere Schönheit und lässt ein Boulevardblatt mitteilen: „Orson Welles möchte Rita Hayworth kennenlernen.“

Und er lernt sie kennen. In einem Zirkuszelt in Hollywood zersägt er die Hayworth bei der „Mercury Wonder Show“ vor Soldaten – wenn auch nur bei der Probe; bei der Aufführung muss Marlene Dietrich einspringen, weil Columbia-Chef Harry Cohn über die Hayworth wacht. Am 7. September 1943 heiraten Welles und Hayworth, die Presse jubelt: „The Beauty and the Brain“! Mit Joseph Cotten schreibt Welles den Spionage-Thriller „Von Agenten gejagt“, chargiert in einer Nebenrolle und gibt die Regie an Norman Foster ab; 1945 inszeniert er die plumpe Nazijäger-Plotte „Der Fremde“ und spielt augenrollend einen Wolf im Schafspelz: eine Auftragsarbeit. Er ist nach vielen Affären bereits seit einem Jahr von Rita Hayworth – der neben Betty Grable beliebtesten Schauspielerin jener Jahre, Pin-up-Girl der Soldaten im Zweiten Weltkrieg – getrennt, als er den finsteren Thriller „Die Lady von Shanghai“ (1947) mit ihr dreht: Zum Entsetzen des Studios lässt er ihre langen, roten Haare abschneiden und den Schopf blond färben.

Dass es sich um einen Racheakt handelt, bestritt er stets. Im Gespräch mit Henry Jaglom beschreibt Welles, dass Rita ihn noch 1949, als er an „Othello“ arbeitete, anflehte, zu einem Hotel in Antibes zu kommen. „Sie öffnete die Tür und stand da in einem Negligé, das Haar offen, wunderschön. Die Suite war voll Blumen. Der Duft, dieser Duft. Es war überwältigend. Sie sah mich mit Tränen in den Augen an und sagte: ,Du hattest recht – wir gehören zusammen.‘“ Orson aber war verrückt nach dem „ugly little Italian girl who gave me so much shit“, und Rita bat: „Halt mich einfach, während ich schlafe.“ Und das tat er – nicht ohne auf die Uhr zu sehen, denn am nächsten Tag musste er früh abreisen. Fünf Tage später heiratete Rita Hayworth Prinz Aly, den Sohn des Aga Khan. „Sie wollte unbedingt aufhören, eine Schauspielerin zu sein.“ Tatsächlich sagte sie, auf ihren Geburtsnamen anspielend: „Die Männer gehen mit Rita Hayworth zu Bett und wachen mit Margarita Carmen Cansino auf.“

„Othello“
„Othello“ (1952) Das Meisterwerk über den eifersüchtigen schwarzen Mann: Ein Spiel von Licht und Schatten und Perspektiven

Nach einem missglückten „Macbeth“ (1948) dreht Welles mit Unterbrechungen in Marokko und Spanien seinen meisterlichen „Othello“, einen expressionistischen Schwarz-Weiß-Thriller, der in Cannes 1952 mit der Gol- denenPalmeausgezeichnetwird.„ImZeichendesBösen“ (1958) ist sein letzter Film im Hollywood-System, den er auch nur drehen darf, weil Charlton Heston ihn als Regis- seur verlangt. Der überladene und wenig glaubwürdige FilmnoirzeigtimmerhineinigeBravourstückeausWelles’ Trickkiste. Als umherreisender Schauspieler verdient er das Geld, mit dem er seine Filmprojekte finanziert; windige Geldgeber lassen ihn früher oder später im Stich. Als er in Dubrovnik an der Adaption von Kafkas „Prozess“ (1962) arbeitet,kannerdieHotelrechnungnichtbezahlen, reist nach den Dreharbeiten ab – und fürchtet, dass ein Abgesandter des Hotels ihm nach Belgrad folgen werde, wo er die nächste Arbeit angenommen hat. Noch einmal gelingt ihm ein großer Film: „Falstaff – Glocken um Mitternacht“ (1965), eine Szenenfolge um Falstaff, seinen liebsten Shakespeare-Helden. In Cannes wird ihm ein Sonderpreis der Jury zugesprochen, doch Welles hätte lieber den Hauptpreis gewonnen. Mit „Stunde der Wahrheit“ adaptiert er 1967 eine Erzählung von Isak Dinesen alias Tania Blixen, der Autorin von „Jenseits von Afrika“, deren Werk er bewundert – Welles’ einziger Farbfilm.

Von den französischen Cineasten um André Bazin, Jean-Luc Godard, Claude Chabrol und François Truffaut wird Welles ebenso verehrt wie von den Regisseuren des New Hollywood. Über 25 Jahre versucht er mit langen Unterbrechungen, „Don Quixote“ zu verfilmen – die Hauptdarsteller sind in der Zwischenzeit gestorben. Noch 1983 überlegt er, das Werk als Film-Essay unter dem Titel „When Are You Going To Finish Don Quixote?“ zu vollenden – allerdings, so Welles, sei ja „F wie Fälschung“ (1974), ein filmischer Essay, auf den er stolz ist, in den USA gar nicht in den Kinos gezeigt worden. Mit Peter Bogdanovich, John Huston, Paul Mazursky und seiner neuen Gefährtin – für den Rest seines Lebens – Oja Kodar arbeitet er in den 70er-Jahren an „Die andere Seite des Windes“, das so wenig vollendet wird wie Welles’ Projekte „Heart Of Darkness“, „Moby-Dick“, „Der Kaufmann von Venedig“, „The Deep“ und „The Dreamers“, Letzteres abermals nach Erzählungen von Isak Dinesen/Tania Blixen. Einmal will er die dänische Dichterin im Anschluss an einen Aufenthalt in Kopenhagen besuchen, reist dann aber doch nicht in den Norden. Später verfasst er angeblich einen Liebesbrief an sie: „Ich schrieb noch daran, als sie starb“ – im Herbst 1962.

„Falstaff“
„Falstaff“ (1965) Seine liebste Rolle: Den „fetten Ritter“ aus Shakespeares Stücken spielte Welles in seinem Film natürlich selbst

Der Filmemacher, der kaum noch Filme macht, verlagert sein Schaffen in die Erzählung: In den Gesprächen mit Peter Bogdanovich und Henry Jaglom entwirft er wie in den frühen Radio-Tagen ein Universum aus Anekdoten, Aphorismen, Erinnerungen, Sottisen und Aperçus – als (wenn auch unzuverlässiger) Erzähler ist er in seinem Element. In dem Restaurant Ma Maison in West Hollywood speist der von Übergewicht und Arthritis Gepeinigte mit dem Regisseur Jaglom, weist Richard Burton zurück, der fragt, ob er mit Elizabeth Taylor an den Tisch kommen dürfe, erklärt seine Abneigung gegen Spencer Tracy und lässt sich über Charlie Chaplin aus. „Meine Idee von Kunst ist“, schwadroniert er, „dass sie affirmativ sein muss.“ – „Warte, Orson“, wirft Jaglom ein. „,Im Zeichen des Bösen‘ ist doch nicht affirmativ.“ – „Hör zu: Keine meiner Auffassungen hat mit dem zu tun, was ich selbst mache. Ich bin die Ausnahme!“ Jaglom: „Oh mein Gott.“ – „Ich bin schwarz wie die Hölle. Meine Filme sind so schwarz wie schwarze Löcher. ,Amberson‘. Oh Junge, war das schwarz. Ich breche all meine Regeln.“ Welles lebt in Anekdoten. Er erzählt von dem Tenor Leo Slezak, der bei einer Inszenierung von Wagners „Lohengrin“ auf einem mechanischen Schwan auf die Bühne fährt. Er steigt her- ab, singt – und derweil macht der Schwan sich selbststän- dig und schwimmt von der Bühne, bevor Slezak wieder aufsteigen kann. Slezak dreht sich zum Publikum und sagt ohne Zögern: „Wann fährt der nächste Schwan?“

Wahrscheinlich ist „My Lunches With Orson“ das amüsanteste Filmbuch aller Zeiten, ohne ein Filmbuch zu sein. Jaglom notiert: „War nach ,Citizen Kane‘ nichts mehr zu tun für den Rest seines Lebens, ist das sein Geheimnis – und weiß er es? Ist ,Kane‘ sein ,Rosebud‘?“

In der Nacht zum 10. Oktober 1985 stirbt Orson Welles in seiner Wohnung an einem Herzinfarkt, er hat die Schreibmaschine auf dem Schoß. Seinen letzten Auftritt hatte er in Henry Jagloms Film „Someone To Love“, der erst 1987 in die Kinos kam. Bei den Dreharbeiten lachte Welles einmal schallend, was er für unvorteilhaft hielt, und rief: „Cut!“, woraufhin der Kameramann sofort abbrach. „Was machst Du denn?“, fragte Jaglom. Der Kameramann entgegnete „Orson Welles hat ‘Cut!‘ gesagt.“

Dieser Text ist ursprünglich in der me.MOVIES-Ausgabe 1/2015 erschienen