Ohne Rücksicht auf Verluste


Aufgeschlagene Lippen, geschlachtete (vegetarische) Truthähne und rituelle Selbst-Erniedrigung: Die Schauspielerin Juliette Lewis geht als Sängerin ihrer Punk-Band Juliette & The Licks regelmäßig über Grenzen. Bisweilen auch über ihre eigenen.

Drei Stunden, bevor Juliette Lewis wie vom Affen gebissen vom linken zum rechten Bühnenrand rennen wird, bevor sie sich zwischen Gitarrenverstärkern am Boden winden und sich schließlich mit Anlauf über den Graben ins Publikum stürzen wird, steht sie etwas abwesend mit einer Tasse Tee in der fast leeren Halle. Das Barfly in Liverpool ist an diesem Mittwoch im Februar ausverkauft – die Neugier war größer als die Skepsis, mit der man in der traditionsbewußten Hafenstadt einem Hollywoodstar als Bandleader gegenübersteht -, kurz nach dem Soundcheck aber tummeln sich nur ein paar wenige Leute im Saal.

Juliette gibt sich einen Ruck. „Seid ihr The Moonies?“, fragt sie eine Gruppe junger Männer in schwarzen Rollkragenpullis und schüttelt ihre Hände. Sie stellt der Band, die als Support-Act gebucht ist, ein paar Fragen, setzt ein interessiertes Gesicht auf und zieht wenig später weiter. „Hi, wie geht’s, ich bin Juliette“, sagt sie zu ein paar überraschten Technikern, die über die PA-Anlage gebeugt sind. Sichtlich bemüht, nicht unnahbar und arrogant zu wirken, begrüßt sie vorsichtshalber jeden: einen scheu drein blickenden Fan, der auf Umwegen in Besitz eines „Access All Areas“-Passes gekommen ist, die örtlichen Konzertveranstalter und auch die gleichgültigen Roadies. Daß man der zur Schau gestellten Ungezwungenheit mißtraut, liegt weniger an ihr als an dem dreiköpfigen Filmteam, das der 31-jährigen auf Schritt und Tritt folgt, um jeden beiläufigen Plausch mit einer geschulterten Kamera und einem über den Köpfen baumelnden Angelmikrophon für eine Tour-Dokumentation aufzuzeichnen.

„Wir sollten bald was essen“, sagt Juliette schließlich ein wenig gequält und steigt die schmalen, steilen Stufen zu einem kleinen Garderobenraum hinauf. Auf einer schäbigen Couch wartet sie gelangweilt, bis das eifrige Team die Kamera nachgeladen und den Ton ausgepegelt hat, um dann mit einem leicht übertrieben ernsthaften Gesichtsausdruck zu signalisieren, daß sie nun bereit wäre, sich über ihr neues Leben als Punkrock-Musikerin zu unterhalten. Als nach der ersten Frage ihr aufgekratzter Gitarrist Todd Morse hereinplatzt, nutzt sie die Unterbrechung, um noch einmal die Verpflegungssituation zum Thema zumachen. „Und er sah, daß es hier Truthahn-Sandwichs gab – vegetarische Truthahn-Burger“, verkündet Todd nach einem Blick in den Kühlschrank in alttestamentarischem Englisch, was alle Anwesenden in hysterisches Gelächter versetzt. „Ich habe vegetarische Truthähne geschlachtet“, trompetet er weiter, bis sich Juliette an das Interview erinnert und ihm schweren Herzens den Mund verbietet.

Wie schön es ist, so eine lustige Band zu haben, wird Juliette Lewis in den folgenden 20 Minuten bei jeder Gelgenheit betonen. Sie wird immer wieder erzählen, wie gerne sie mit ihren Mitmusikern für das neue Album komponiert und sich dabei indirekt für die etwas steril geratenen Songs entschuldigen, die sie für ihre Debüt-EP … LIKE A BOLT OF LIGHTNING mit Linda Perry geschrieben hat.

„Linda hat mich auf den Weg gebracht. Aber ich will Musik eigentlich aus einem Kollektiv heraus entwickeln“, stellt sie klar. „Ich mag Tom Petty & The Heartbreakers, Joan Jett… Leute, die ihren Sound mit ihrer Band gefunden haben.“ Bei Fragen, die sie häufig beantworten muß, wird sie bisweilen auch auf Autopilot umschalten und Standardantworten in dem gelangweilten, emotionslosen Sing-Sang herunterspulen, den sie vor der Kamera einsetzt, wenn sie einer Figur eine leicht psychopathische Unberechenbarkeit verleihen will. Wird es aber persönlich, wird sie sich trotz aller Unruhe in der überfüllten Künstlergarderobe Zeit zum Nachdenken nehmen, um auch intimere Fragen offen und ehrlich zu beantworten.

Du sprichst in Interviews oft über Selbst-Erniedrigung. Fasziniert dich das?

Ja. Schon. Weil es ein Teil des Erwachsenwerdens ist. Als Jugendlicher schämt man sich ja oft. In den absurdesten Momenten. Ich will einen anderen Weg aufzeigen: Schäme dich nicht, auch wenn das von dir erwartet wird. Aber ich war auch manchmal zu albern und hab mir später gedacht, daß ein Move nicht besonders cool war. Mein Freund Jay, der die Plattenfirma leitet, sagt mir dann ab und zu, daß es ziemlich dämlich aussah, wie ich mich schreiend auf der Bühne gewälzt habe! (lacht) Aber wenn man sich einer Sache hingibt, wird man nicht immer cool aussehen.

Gelingt es dir bei deiner exzessiven Bühnenshow, auf dich aufzupassen?

Naja, ich bin nicht verrückt. Ich mag keine Schmerzen. Ich schlag mir jede Nacht die Lippe auf, aber ich mach es nicht mit Absicht.

Du hast dich bei einem Konzert in den USA in einem Bikini von der Bühne herab in die Menge gestürzt…

Ich hatte das Gefühl, daß mir das Publikum nichts antun würde. In den Gesichtern [auf den Videoaufnahmen] findest du Überraschung und Begeisterung. Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist, aber ich habe mir eine Unschuld bewahrt. Ich finde, daß in Menschen viel Freude und viel Gutes steckt.

Nimmst du in Kauf, daß Menschenmengen in solchen Situationen auch übergriffig werden können?

Wenn ich mich ins Publikum werfe, fühle ich mich wie ein Typ. Überhaupt fühle ich mich auf der Bühne asexuell. Natürlich bin ich eine Frau, aber da geht es eher um das Freisetzen einer Ur-Kraft. Und warum muß die Figur einer Frau im Bikini mit Sex gleichgesetzt werden? Warum kann sie nicht für Athletik stehen?

Mitte der 90er Jahre warst du wegen selbstzerstörerischen Verhaltens in Therapie.

Die Phase, in der ich selbstzerstörerisch oder jung und dumm war, ist aber seit zehn Jahren vorbei. In einer Rockband zu sein, ist etwas sehr Positives. Ich versuche, Menschen etwas für ihr Leben mitzugeben. Natürlich ist es Entertainment, aber ich sehe das Gute darin.

Welche Reaktionen bekommst du auf deine extrovertierte Show? Fürchten sich Leute auch ein bißchen vor dir, nachdem sie dich live gesehen haben?

Keine Ahnung. Ich finde ja, daß ich sanft wie ein Lamm bin. Und ich mag nun mal Entertainment, wie es David Lee Roth geboten hat. Oder Blondie.

Auch an diesem Abend gibt es während des Auftritts einige Momente, in denen sich zu dem Staunen über die übergeschnappte Rockshow ein wenig Besorgnis mischt: Als sich Juliette zum zweiten Mal in die Leute wirft, verschwindet sie für einen Augenblick vollkommen, so daß ihre Aufpasser ebenfalls in die Menge klettern müssen, um den Star aus einem Pulk von grabschenden Händen zu befreien. Wenig später zeigt sie dem Publikum wie ein übermütiger Achtjähriger ihren drahtigen, angespannten Bizeps, leckt ihn ordinär und beißt sich schließlich tollwütig darin fest. Trotzdem – mit ihrer Punkband erreicht sie bei diesem Konzert, was viele nicht für möglich gehalten hatten: Als der Saal eine Zugabe fordert, tut er das nicht, weil er den Oskar-nominierten Star aus „Natural Born Killers“ und „From Dusk Till Dawn“ weiter anstarren will. Liverpool will Juliette Lewis als Bandleaderin zurück, weil sie großartiges Entertainment bietet.

www.julietteandthelicks.com —

E ine Band, deren Debütalbum sich aus dem Stand heraus mehr als eine halbe Million Mal verkauft hat, könnte es schwer haben, wenn sie nach fast zwei Jahren das zweite Album veröffentlicht. „Ausverkauf!“ werden die Indie-Puristen rufen und „früher war’n se besser“. Im Interview mit dem musikexpress geben sich Judith Holofernes, MarkTavassol, Jean-Michel Tourette und Pola Rov gelassen. Von Druck wollen sie nichts wissen.

Bei eurem ersten Album war die Ausgangssituation relativ leicht für euch. Ihr habt das einfach so gemacht…

mark: Das sagst du so. Das zweite war Druck, willst du fragen?

Ja.

mark: Jein. Das erste Album haben wiT erstmal nicht einfach so gemacht.

alle: (lachen) MARK: Wir waren beim ersten Album in vielen Momenten konfuser und immer wieder unausgeglichener, obwohl es unterm Strich eine sehr schöne Produktionszeit war. Wir wußten überhaupt nicht, was daraus wird. Wir hatten keine Ahnung, daß das Album so gut funktionieren würde, daß wir damit auch heute noch glücklich sind. Aus dieser Unsicherheit heraus wirst du manchmal orientierungslos. Ich finde schon, daß es nicht leicht ist, nach so einem ersten Album ein zweites zu machen. Das schütteln wir natürlich nicht aus dem Ärmel. Es kostet sehr viel Kraft. Mir ist es aber lieber, in unserer jetzigen Situation ein zweites Album zu machen, als in einer, in der das erste verrissen wurde oder keinen interessiert hat und wir damit unglücklich wären. Dann schleicht sich vielleicht das Gefühl ein, das ist jetzt die letzte Chance.

Euer zweites Album wird die Leute interessieren, das ist ja nicht die Frage.

MARK: Ich hoffe es. ->

titel

-> JEAN: Wir sind ja unter uns, ich bin ehrlich. Ich muß gestehen, es gab mal eine Zeit, wo … es fing eigentlich schon auf der letzten Tour im Herbst 2003 an, auf dieser sehr langen Tour, daß jeder von uns kreativ war und seine Ideen hatte. Als aber Anfang des Jahres noch kein Song wirklich konkret ausformuliert war, als nur ein paar musikalische Ideen da waren, war ich eigentlich viel beunruhigter darüber, ob wir es schaffen werden, oder: ob Judith es schafft, mit den Texten in der kurzen Zeit nachzukommen. Weil Judith früher – wo wir natürlich alle Zeit der Welt hatten – so drei bis vier Texte pro Jahr… JUDITH: (lacht) jean: … geschrieben hat. Was auch okay war. Es hat sich ganz langsam entwickelt. Als wir dann so die ersten fünf Songs hatten in den ersten drei Monaten, ist mir ein großer Stein vom Herzen gefallen. Da habe ich gemerkt, wir können auch in einer für uns sehr kurzen Zeit – wenn man die Geschichte des Songwritings betrachtet, war das nämlich total komprimiert – Lieder für ein Album zustande bringen. Ab dann hat’s einfach Spaß gemacht. Ab dann hat jeder Musik hereingebracht, und dann wurden Ideen betextet, und Ideen wurden zu richtigen Songs – auch das ist ja eine Sache, die nicht unbedingt funktionieren muß. Das war dann irgendwie so der „magic moment“. Es heißt doch immer, das dritte Album sei das schwierige ?

JUDITH: Ach Gott, sind wir jetzt nicht langsam irgendwann mal durch?

MARK: Jedes Jahr das Gleiche mit dir!

alle: (lachen) JUDITH: Ganz ehrlich. Diesen Satz habe ich jetzt schon von drei Leuten gehört. Aber seit letztem Herbst höre ich immer wieder, daß das zweite Album ganz, ganz schwierig wird. Ich bin echt gespannt, wenn wir das dritte Album hinter uns haben, welches dann das schwierige sein soll.

pola: Ein Jahr ist für eine Band ein wahnsinnig langer Zeitraum. In einem Jahr kann sich eine Band total verkrachen oder auch total entfremden. Deswegen glaube ich, daß jedes neue Album schwierig ist. Und es kann sein, daß sich die Band darüber auflöst oder sich irgendwie ganz anders entwickelt.

judith: Man könnte auch sagen, daß das Album, bei dem die Künstler keine Ideen haben, immer irgendwie das schwierige ist. pola: Das Album, das total floppt, ist immer irgendwie ein bißchen schwierig.

mark: Das Album nach dem Album, das total floppt, ist immer das allerschwierigste.

JEAN: Letztendlich sollte jedes Album schwer sein. Man braucht ja auch einen gewissen Druck, um überhaupt aus den Puschen zu kommen. Wenn alles wie von selbst käme, dann könnte man ja auch gleich ins Büro gehen. Wenn ich für mich alleine war, hatte ich immer so Druckflashs, aber sobald wir wieder zu viert zusammen waren, hat sich so eine Art Kokon um mich geschlossen. Dann lassen wir nichts mehr an uns ran, machen unsere Witze und hängen rum. Ich genieße es, daß die Gruppe so stark ist.

Jean schreibt im Studiotagebuch auf eurer Homepage, daß manche Leute schon aus Prinzip euer zweites Album scheiße finden werden.

[udith: Das sind höchstwahrscheinlich die Leute, die das erste Album auch schon scheiße fanden. Das liegt wahrscheinlich daran, daß die Leute, die eigentlich das erste auch schon immer scheiße rinden wollten oder noch keine richtige Meinung hatten, denen alles irgendwie suspekt war, dieser blöde Hype und alles, daß diese Leute sich dann mit dem zweiten Album endlich entscheiden können, uns wirklich scheiße zu finden. Insofern verschärft sich sowas dann. Die Leute, die es geil ->

-> finden, bleiben dabei, und die Leute, die unentschlossen waren, können sich dann endlich entscheiden.

mark: Das ist aber auch gut so. Ich kann durchaus verstehen, daß jemand das Album nicht hören mag. JUDITH: Das letzte Album fanden auch schon Leute scheiße.

Ich kenne kaum jemanden, der euch richtig scheiße findet.

mark: Doch!

pola: Franz Josef Strauß hat einmal gesagt, wer everybody’s darling sein will, ist bald everybody’s depp.

Vielleicht wollt ihr nicht everybody’s darling sein, seid es aber trotzdem ?

pola: Vielleicht wollen wir ja euerybody ’s darling sein, sind aber everybody’s depp. JUDITH: (lächert) Es gibt ja schon einen Widerspruch zwischen der Glaubwürdigkeit und „Rock am Ring“mit 50.000 Leuten.

Judith: Ich verstehe die Frage, aber ich sehe diesen Widerspruch nicht. Die Frage wird wahrscheinlich jetzt noch öfter kommen, aber ich fühle da überhaupt keinen Widerspruch. Für mich sind wir einfach eine Band, deren wesentliches Merkmal es ist, daß sie sich in allem wahnsinnig viel Mühe gibt- das machen viele andere Bands auch. Ich habe das Gefühl, wir geben uns wahnsinnig viel Mühe, in allen Details quatschen wir uns die Hucke voll. Da ist wahnsinnig viel Liebe und Liebe zum Detail drin. Das hat vielleicht unseren Charme am Anfang ausgemacht, es paßt aber genausogut dazu, vor 50.000 Leuten aufzutreten. Weil wir uns einfach Mühe geben mit dem, was wir gerade machen, und alles so machen, daß wir es schön finden und daß wir das Gefühl haben, daß es den Leuten, die das schön finden wollen, auch Spaß macht. Und daß wir keinen Scheiß in die Welt rausblasen, sondern Sachen, die wir für einigermaßen nützlich halten. Es gibt keine unpassende oder passende Größe dafür, wieviele Leute das dann hören.

Wir sind Helden haben indirekt Juli und Silbermond erfunden. Erfüllt euch das mit Freude?

JUDITH: Mit Mutterstolz gar.

mark: Wir sehen ja die Verbindung zwischen Bands, die da sind, und Bands, die kommen, vielleicht nicht so unmittelbar, wie andere Leute es sehen bzw. sehen wollen. Wir können nur davon berichten, als wir ganz klein und neu waren und im Playground des Backstage-Bereichs – ich kann noch ein paar mehr Anglizismen benutzen – irgendwelcher Festivals aufgetaucht sind, haben wir gemerkt, wie nett es ist, wenn Bands einen als neuen Mitschüler betrachten – unabhängig von den schulischen Leistungen, dem Lieblingsfach oder was auch immer-, und das tut einer neuen Band grundsätzlich gut. Wir wollen auf jeden Fall eher so sein wie die Bands, die das so machen. Und da ist es eigentlich völlig egal, welche Musik die anderen Bands machen. Wir, die selber gerade aus dem Newcomer-Gewand geschlüpft sind, wollen nicht damit anfangen, uns als etablierte Band Urteile über andere Bands zu erlauben. Ich finde, das muß erstmal auf menschlicher Ebene ablaufen. Die logische Konsequenz wäre, daß wir im nächsten Jahr für den „Echo“ fürs Lebenswerk nominiert werden, und das ginge dann irgendwie zu schnell.

Dann stelle ich die Frage anders: Ist es nicht eklig, daß die Plattenfirmen nach dem Erfolg von Wir sind Helden jede Band unter Vertrag genommen haben, bei der drei Buben und ein Mädchen mitspielen ?

POLA: Ja gut, aber dafür können die Bands ja nichts. Es gibt ja ganz viele Bands, die schon jahrelang zusammen spielen, ganz hart arbeiten und für die sich bisher keiner interessiert hat. Manche Bands haben das Glück, daß der Zeitgeist ein Merkmal featured, über das diese Band zufälligerweise verfügt, und dann kriegt sie eine Chance. Die meisten floppen, manche haben Erfolg. Das ist einfach so. Man kann jetzt darüber streiten, ob man diesen Mechanismus eklig findet, daß die Plattenfirmen denken: „Hatfunktioniert! Drei Jungs, eine Frau. Wo sind die Bands? Alle mit einer Sängerin und drei Jungs vortreten. Wer von euch hat die besten Songs? Undeuch machen wir mit der Marketingkeulefett.“ Das Traurige ist, daß dieser Mechanismus ganz häufig funktioniert, und deshalb arbeiten die Plattenfirmen auch so weiter. Das hat aber nichts mit den Bands zu tun. Ich fände es unfair, ihnen den Mechanismus anzukreiden, j u dith : Es wäre aber auch schon sehr verblüffend gewesen, wenn nach dem Auftauchen dieser popeligen Band Wir sind Helden alles anders gekommen wäre. Natürlich erhält so ein System seine Ordnung. Natürlich muß man da mal pfeifend einatmen, wenn man merkt, daß diese ganzen Mechanismen auch auf eine Band angewendet werden, die eigentlich glaubte, daran vorbeizuschleichen, so wie wir. (lacht) Aber ich finde das total normal. Plattenfirmen haben immer so funktioniert und werden wahrscheinlich weiter so funktionieren. Die Frage ist nur, wie gut – sie funktionieren ja schon sehr viel schlechter als vor… jean: … ’nerWoche… Judith: (lacht) Das Problem ist doch: Wenn noch mehr Julis und Silbermonds kommen, haben die Leute bald die Schnauze voll von Bands mit drei Buben und einem Mädchen, und dann werden auch die guten nicht mehr gehört.

POLA: Ich glaube aber nicht, daß das so funktioniert.

So war das doch schon bei der Neuen Deutschen Welle.

mark: Es ist schon richtig, daß Trio über Markus gestolpert sind. Da hast du recht. Aber wir wollen den Teufel nicht an die Wand malen, wir wollen auf Holz klopfen und davon ausgehen, daß Judith eh irgendwann nur noch Gitarre spielt und sich einen souligen Typen als Sänger und Texter holt. Dann singen wir Englisch und alle gucken ganz doof. JEAN: Ob wir uns Gedanken darüber machen oder nicht: Ändern können wir das sowieso nicht.

POLA: Im Endeffekt kann eine Band einfach nur ihr Ding machen, kann versuchen, es gut zu machen. Wellen und Trends sind nicht steuerbar. Was der Trend im nächsten Jahr sein wird, weiß niemand. Das weiß die Industrie nicht, das wissen die Bands nicht.

Die Plattenindustrie denkt aber, daß sie die Trends steuern kann.

MARK: Kann sie sicherlich auch.

j udith: Mit genug Geld und Beziehungen kann man kurzfristig schon vieles steuern.

mark: Wenn man sich vor Augen führt, daß ein geschickter Sendeplatz oder ein Küken, das eine Melodie trällert, ausreicht, um bestimmte Leute stinkreich zu machen, kann man davon ausgehen, daß eine gewisse Möglichkeit, mehr als 50 Leute gleichzeitg zu steuern, existiert. pola: Wenn die Industrie wahnsinnig viel Marketing-Budget in einen mittelmäßigen Künstler steckt, funktioniert das ja auch ganz häufig nicht. Auf eine Schrottsängerin, die Erfolg hat, kommen zehn Schrottsängerinnen, die beim gleichen Marketingaufwand gefloppt sind.

Was sind eure Lieblingssongs auf dem Album ?

jean: Ichhab‘ keinen. Aber ich könnte mich eher auf die melancholischen Songs einigen, die die Mehrzahl bilden. Ich konnte das auf DIE Reklamation genau benennen: „Du erkennst mich nicht wieder“. Der Song war für mich einfach außergewöhnlich. Bei dieser Platte bin ich mit jedem Song gleich zufrieden.

mark: Jetzt im Moment ist es „Bist du nicht müde“, aber in einer Woche ist es wieder ein anderer.

JUDITH: In diesem Moment: „Darf ich dasbehalten“ und „Echolot“. pola: Für mich „Elefant“. Es ist der Song, der mich am tiefsten berührt, wobei das ja dann nicht unbedingt mein Lieblingslied ist. Aber wenn du mich zwingst, würde ich „Elefant“ nennen.

Weil Jean die melancholischen Songs angesprochen hat: Können gute Songs nur aus Traurigkeit entstehen ?

JEAN: Nein. Nur weil man ein melancholisches Album macht, muß man nicht tief traurig sein. Man kann auch traurige Songs aus einem Momentgroßen Glücks heraus schreiben.

Judith, hast du.,Du erkennst mich nicht wieder aus einem Moment großen Glücks heraus geschrieben ?

JUDITH: Nein, aber auf jeden Fall aus einem ambivalenten Moment heraus. Als eine Sache zu Ende ging und eine neue angefangen hat. Das sind für mich immer die beschreibenswertesten Augenblicke, die Melancholie in sich haben, aber auch ganz viel Hoffnung und Neues und Atemstocken und Aufregung. Das ist bei „Von hier an blind“ und bei „Elefant“ auch so.

Das“.lustige „Shiny Happy Peopte “ ist zum Beispiel der schlechteste R.E.M.-Song.

MARK: Finde ich auch. Ich fand den aber mal sehr gut, aber da war mein Gehirn noch nicht so ausgereift. Wenn man ganz jung ist, hat man keine Furchen im Gehirn.

JEAN: R.E.M. haben immer auch Songs gehabt, bei denen sie keine Leichtigkeit verbreitet haben. Zum Beispiel „It’sThe End Of The World (As We Know It)“, den finde ich durchaus positiv. Positiv im Sinne von mitreißend.

Mit „Nur ein Wort ist nur ein alter Song auf dem Album. Was passiert mit den anderen guten alten Songs?

[UDITH: Ich kann mir gut vorstellen, daß die noch ihr Zuhause finden. Am Anfang dachten wir noch, daß noch mehr auf das Album kommen würden. Dann hat aber jedes neue Lied irgendwann ein altes verdrängt, weil uns die neuen mehr am Herzen liegen, weil es frischer ist, worüber man da schreibt. Ich glaube, den einen oder anderen Song werden wir immer mal wieder irgendwo unauffällig fallen lassen – und sei es auf dem nächsten Album.

JEAN: Die alten Songs hatten auch deshalb Pech, weil es mit dem Songschreiben besser funktioniert hat, als wir uns das vorgestellt haben. Wir hatten ungefähr sechs alte Songs, die durchaus aufs neue Album hätten kommen können, wenn uns nur fünf neue eingefallen wären. mark: Dafür braucht man die alten Songs auch: Damit man entspannt in die Songwritingphase für das neue Album gehen kann. Wenn wir die jetzt verbrauchen, haben wir dieses Innenfutter nicht mehr. pola: Das ist wie Astronautermahnmg, die wir immer mit uns führen. mark: Unsere Großeltern haben immer sehr viel Nahrung im Keller gehabt, wir haben halt ein paar Songs in petto. Das beruhigt ganz ungemein.

Fürs dritte Album, das schwierige?

JUDITH: Jetzt hör doch mal auf!

JEAN: Welches ist denn nun das schwierige?

Dos vierte.

JEAN: Ach so.

Im Beatles-Film “ Help gibt es diese schöne Szene, in der die vier nach der „Arbeit“ nach Hause kommen und in vier typische englische Häuser gehen, die nebeneinander gebaut sind. Als sie drinnen sind, sieht man: Das ist ein einziges, riesiges Haus. Die vier wohnen zusammen wie Freunde. Als Kind dachte ich, so funktionieren Bands.

JEAN: SÜß.

Muß man befreundet sein, wenn man in einer Band spielt?

Judith: Das macht aufjeden Fall mehr Spaß.

POLA: Ich glaube, es ist einfacher, wenn man befreundet ist. Es gibt ja ganz viele, große Bands, bei denen sich die Mitglieder richtig hassen oder lange Zeit gehaßt haben – Pink Floyd zum Beispiel. Es muß für die Bandmitglieder wahnsinnig hart sein, die ganze Zeit mit Leuten zusammenzusein, die sie nicht mögen.

JEAN: Ich kann mir vorstellen, daß das bei manchen Bands für die Kreativität sogar sehr gut sein kann, weil Konkurrenzsituationen oder fast schon Zerwürfnisse zu Emotionen führen, aus denen heraus fantastische Musik entstehen kann. Das gilt aber definitiv nicht für uns, weil wir mehr die harmonischen Leute sind. Wir sind einfach besser, wenn wir uns gut verstehen. Wenn bei uns ein Teil der Band nicht funktioniert, hat das auch Auswirkungen auf die anderen. Wir spielen schlechter, wir sind unkonzentrierter. Es macht einfach viel Spaß, mit Freunden unterwegs zu sein. Wir kennen uns einfach gut und lernen uns aber im Lauf der Zeit immer noch besser kennen. Obwohl ich das Gefühl habe, ich weiß alles, werde ich immer wieder überrascht von den anderen. Es ist toll, daß wir als Freunde dieses ganze bunte Treiben mit einer gewissen Ironie und einem gewissen Abstand – soweit man Abstand zu Sachen wie Erfolg haben kann – betrachten können.

liVe/l du gerade Pink Floyd gesagt hast. Die gibt ’s ja – glaube ich – noch. Nur weil) das niemand so genau, weil sie seit elf Jahren keine Platte mehr veröffentlicht haben. Wenn es David Gilmour einfällt, daß es Pink Floyd wieder geben sollte, ruft er seinen Anwalt an, der die Anwälte der anderen verständigt, und dann werden in einer Kanzlei die Verträge ausgehandelt. Das ist nicht meine Vorstellung von einer Band.

JUDITH: Man kann ja auch Solokünstler sein, aber ich wollte immer in einer Band sein, weil ich mir vorgestellt habe, daß es toller ist, zu mehreren Musik zu machen, weil ich die Kreativität von anderen Leuten schätze, weil ich glaube, daß ich dann tollere Sachen machen kann, aber auch, weil es mehr Spaß macht.

JEAN: Wo wir gerade von Pink Floyd reden. David Gilmour, der vielleicht 80 Prozent der kreativen Arbeit macht, braucht die beiden anderen, um die Marke Pink Floyd am Leben zu erhalten, weil er damit 20 Mal soviel Geld verdient wie mit einer Soloplatte. Irgendwann kann ein Bandname, der zu einem Produktnamen geworden ist, eine kreative G eißel sein. Und wenn man sich dann nicht versteht und wenn dann alles über die Anwälte geht, dann ist es echt fürchterlich. www.wirsindhelden.com *-#