Gedanken zum Gegenwärtig*innen

Nowstalgia: Warum gerade alles in ist, was gerade eben so vergangen ist


In Folge 27, ihrer Kolumne erklärt Julia Friese, was sich hinter dem Begriff Nowstalgia verbirgt.

Drei Beobachtungen:

1. everything everywhere all at once

Alles geht schnell. Schneller. In den Fast Fashion Stores hängt Kleidung, die dort zuletzt vor zehn Jahren hing. Die 2010er-Jahre sind wieder im Trend, neben den Nuller- und Neunzigerjahren, wobei die Neunziger-Mode die Sechziger und Siebziger verstoffwechselte. Man kann also sagen: Gerade ist alles in, was gerade eben so vergangen ist. Death To Stock, eine amerikanische von Künstler:innen geführte Trend-Stockfoto-Agentur, nennt diesen Zustand „Nowstalgia“.

Keine Herrenjahre: Wie Nina Chuba eigenhändig das Genre „Sommerhit“ rettet

Der zuvor 20 Jahre währende Trendzyklus ist im Begriff, sich selbst zu überholen. Trends hatten lange – und haben immer noch – ein nostalgisches Element. Sie verkaufen, wie der PR-Theoretiker Edward Bernays einst so schön schrieb, die Vergangenheit an die Zukunft. Nina Chubas Hitsingle „Mangos mit Chili“ ist Katy Perrys „Chained To The Rhythm“ (2017) auf Deutsch und mit anderem Text. Andere Songs ihres Albums erinnern an Seeed und Kraftklub.

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Ihr 2010er-Reminiszenz-Sound, vorgetragen in Neunziger- und Y2K-Optik, geht auf, da Chuba ihn ausreichend „anders“ ausfällt: Ihr Kraftklub-Seeed ist jung und weiblich, ihre Katy Perry deutsch. Der 2000er-Pastiche-Sound der amerikanischen Pop-Sängerin Ava Max hingegen, deren größte Hits allesamt Interpolationen sind – „My Head & My Heart“ (2020) speist sich zum Beispiel aus ATCs „All Around Te World“ (2000). Allerdings wirkt das in einer allzu kongruenten Darbietung als Lady-Gaga- oder Sia-Dublette leer und ausgehöhlt.

2. inflation (engl.): zu deutsch aufblähung, aufblasen

Im Video zu „Ich glaub, ich will heut nicht mehr gehen“ trägt Nina Chuba eine Weste, die aussieht wie eine dekonstruierte Puffer-Jacke. Ein gummiartig glänzender Daunenschlauch, der den Anschein erweckt, ein Kind – oder Jeff Koons – hätte eine Weste im Paint-Programm gezeichnet – und dann einem 3D-Drucker den Rest überlassen. Diese runde, irgendwie digital anmutende Comic-Ästhetik von Textilien sieht man seit einiger Zeit bei sogenannten Soft Bags, die wie große Kissen um den Körper gelegt werden, oder bei den immer voluminöser werdenden Pufferjacken und Parachute-Hosen, sowie zuletzt auch bei Stiefeln, die dann drei Tage viral gingen.

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Dieser rote Boot des Kunstkollektivs MSCHF aus Brooklyn scheint aus dem Schrank von Papa Schlumpf, erinnert aber auch an die 2000er UGG-Fellboots, sowie die über-klobigen Balenciaga-Gummistiefel, in denen Ye West Ende 2022 durch seinen Ruin watete. Schuhe, die Abbilder sind von Schuhen. Nicht für Füße gemacht, sondern für Augen. Objekte, die aussehen, als könne man sie seinem Avatar im Metaverse anziehen. Kleidung die, die Träger:innen der Wirklichkeit entrückt und gleichzeitig als Airbag dient. Eine doppelte Schutzfunktion. Louis Vuitton zeigt für den kommenden Herbst/Winter Hutmützen mit Ohrenklappen, die aufblasbar wirken. Damit sie nicht wegfliegen, sind sie unter dem Kinn zusammenzuknoten.

3. sapphire & steel

All diese Nowstalgia-Elemente vermengte Rihanna bei ihrem diesjährigen Super-Bowl-Auftritt. Sie war gekleidet in einen Puff-Mantel und trug die roten MSCHF-Boots. Zusätzlich war der Bauch der Künstlerin der jüngsten Vergangenheit aufgebläht von Zukunft. Schwanger tanzte sie umgeben von weiß gekleideten Tänzer:innen unter bauschigen Kapuzen, die ihre Köpfe beairbagten.

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Ihre 2000er und 2010er Songs performte sie im Gewand der Digital-Inflation, die sie im Finale des Auftritts zu „Diamonds“ (2012) in den leeren Abendhimmel fliegen ließ. Ein Konzert, das natürlich kein Selbstzweck, sondern Werbung war, für Rihannas Make-up-Linie, mit der sie sich während des Auftritts zu schminken vorgab. Der Geist des Schriftstellers Mark Fisher pfiff leise durchs Stadion.

Unsere Gegenwart scheint später nun tatsächlich Geschichte zu werden. Zeit also, sich in dieser Kolumne die popkulturelle Gegenwart genau anzugucken. Was passiert? Und wie und warum hängt das alles zusammen? Diese Folge erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 05/2023.