Meine Nacht mit Kurt Cobain
Er lag auf ihrem Bett und sprach über den Tod – Amy Raphael über ein seltsames Interview.
Es ist fast zwei Uhr morgens an diesem 24. Juli 1993, und Kurt Cobain liegt auf meinem Bett. Wir befinden uns in einem der geschmacklosen Angeber-Hotels, wie es sie wohl nur in Manhattan gibt: Die Dimensionen des Kingsize-Monsters sind so gewaltig, dass der schmächtige Cobain gerade mal eine Ecke der Matratze einnimmt. Nach einem „Geheim-Gig“ im New Yorker Roseland hat er seinen zerschlissenen schwarz-roten Pulli inzwischen abgelegt und – frisch geduscht – ein weißes T-Shirt und eine zerrissene Jeans übergestreift, dazu Converse-Sneakers, die mit Graffiti übersät sind. Sein roter Nagellack ist brüchig, seine dunkelblonden Haare kleben feucht an einem klassisch-schönen Gesicht. Mit einem Auge verfolgt er auf dem stummen Fernseher alte Folgen von „Beavis & Butthead“ und bemerkt, dass ihn der bekiffte Anarcho-Humor lebhaft an Freunde erinnere, mit denen er in Aberdeen, Washington, aufwuchs.
Seit drei Tagen hänge ich in New York rum, um für „The Face“ Kurt Cobain zu interviewen. Man ist sich bereits ein paar Mal über den Weg gelaufen: An einem Nachmittag stehe ich in der Lobby, rede mit Courtney Love und spiele mit Frances Bean, ihrer Tochter, als er aus dem Nichts auftaucht. Er kommt auf uns zu, als bewege er sich in Zeitlupe – wie immer in zerrissenen Jeans, einem weiß-rosa Strickpullover und der Sonnenbrille mit dem weißen Plastikgestell. Ohne jemanden konkret anzuschauen, sagt er: „Werde ich schon erwartet?“ Keine Frage: Während Courtney mit ihrem Flatterkleidchen und den gewollt kontroversen Statements die Diva nur spielt, ist er der geborene Star.
An einem anderen Tag ist eine Fotosession für „The Face“ angesetzt. Es ist eine surreale Situation: Cobain, gekleidet in einem Tigerfell-Kostüm, saust mit Frances Bean im Kinderwagen kreuz und quer durchs Studio, beide außer sich vor Lachen. Angesichts dieser Szene fällt es schwer, sich die Gerüchte ins Gedächtnis zu rufen, die Cobain seit Monaten umgeben: Er sei voll auf Heroin. Dazu abhängig von Hustensaft. Er sei bereits tot. Courtney residiert barfuß auf einem Sofa und verlangt regelmäßig nach einem Küsschen. Es ist eine demonstrative Inszenierung ihrer Zuneigung.
Jedes Mal, wenn ein Termin für das Interview angesetzt wird, wird er auch wieder abgesagt. Nein, im Hotel habe er keine Zeit. Auch bei der Fotosession nicht. Vor dem Konzert schon gar nicht. Als Cobain im Roseland von der Bühne kommt, sieht er übel aus: Sein Gesicht ist mit Flecken übersät, der letzte Funken Energie scheint aus seinem Körper verschwunden. Man fragt ihn, ob er nun vielleicht Zeit für ein Interview habe. „Yeah, sure“, murmelt er kaum hörbar. Ich fahre zum Hotel zurück und warte. Räume das Zimmer etwas auf – als ob ihm das auffallen würde! – und versuche, den Jetlag in den Griff zu bekommen.
Als Cobain an meiner Tür klopft, weiß ich nicht, wen ich erwarten soll: den aufgedrehten Papa oder den ausgemergelten Rockstar? Tatsächlich ist er keiner von beiden. Ich treffe einen schüchternen, angenehmen, witzigen und – man kommt einfach nicht drum herum – erschreckend deprimierten 26-jährigen Jungen. Er ist zwei Monate älter als ich, doch während ich der Zukunft entgegenfiebere – was immer sie auch bringen mag -, scheint er mit seinem Leben bereits abgeschlossen zu haben. Er liegt auf meinem Bett, den Kopf auf zwei großen Kissen gebettet, und bewegt sich nur, um nach einer neuen Zigarette zu greifen oder auf die Toilette zu schlurfen. Er ist dort manchmal so lange verschwunden, dass ich Angst habe, er könne bereits tot auf dem Marmor liegen.
Jedes Mal, wenn er aus dem Badezimmer zurückkommt, fühle ich mich versucht, den Hobby-Therapeuten zu spielen. Er erzählt mir in seinem verschlafenen Westcoast-Akzent von seiner Kindheit, dass er 90 Prozent der Zeit in seinem Zimmer verbracht habe – das sensible, künstlerisch begabte Kind, das in einer Welt voller Alpha-Männchen aufwachsen musste. „Als ich neun war, habe ich mich eigentlich schon von dem Gedanken verabschiedet, älter als 21 zu werden, weil ich mich überall wie ein Fremdkörper fühlte.“ Ich frage, ob Frances Bean sein Leben positiv verändert habe. „Sie hat meine Perspektiven völlig umgekrempelt. Ich weiß nicht …“ Er verliert sich in seinen Gedanken. Seine Augen werden feucht. „Ich versuche, meine Negativität in den Griff zu bekommen, seit ich verheiratet bin …“
Ich schaffe es einfach nicht, ihn zu fragen, ob er sich in meinem Badezimmer einen Schuss gesetzt hat, aber ich spreche ihn auf Heroin allgemein an. „Ich bin nicht mehr süchtig, aber ich werde wohl mein ganzes Leben ein Junkie bleiben.“ Wir sprechen über seine Überzeugung, dass sich im Augenblick des Todes das absolute Glück einstelle. Er habe, sagt er, vor dem Tod keine Angst, allerdings davor, just in diesem Moment den Abgang zu machen und eine Witwe und ein Baby zurückzulassen. Er spricht so lange über den frühen Tod, dass ich mich nicht mehr frage, ob dieser Fall je eintreten wird, sondern nur noch wann.
Draußen wird es langsam hell, und Cobain baut rapide ab. Wir gehen zur Lobby hinunter. Auf dem Weg erwähnt er, dass er ja nun der große Rockstar sei. Ich ziehe ihn damit so lange auf, bis er schließlich kurz grinst. „Zumindest rede ich mir das ein.“
Amy Raphael war damals Features Editor des Londoner Monatsmagazins „The Face“. Sie schrieb Bücher wie: „Never Mind The Bollocks – Women Rewrite Rock“ (Virago) und „Danny Boyle: In His Own Words“ (Faber and Faber). Heute schreibt sie für „Guardian“, „Observer“, „Times“ und „The Telegraph“.