Mein Leben mit… „Der ganz normale Wahnsinn“


In unserer Reihe „Mein Leben mit...“ sprechen die ME.MOVIES-Autoren über Serien, die Ihr Leben geprägt haben.

Ich würde jetzt gerne von den frühen Achtzigern erzählen. Von Abenden, an denen ich bereits im Bett lag, um dann doch wieder aufzustehen, im Frotteeschlafanzug und auf leisen Sohlen die Treppe ins Erdgeschoss herunterzuschleichen, die Wohnzimmertür behutsam zu öffnen und den Eltern dabei zuzuschauen, wie sie wiederum Towje Kleiner als Maximilian Glanz und Mo Schwarz als Gloria Schimpf beim Streiten zuschauten. Ich würde gerne davon berichten, wie dieser ebenso wunderliche wie wunderbare Mann mit dem wilden Haar, der Woody-Allen-Brille und seiner völlig verzettelten Hektik, dieser Stadtneurotiker aus der Weltstadt mit Herz, damals aus dem Fernseher und in mein Kindergehirn eintrat.

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Allein, es wäre gelogen. Als ich ein Kind war, stand unser Fernseher im muffigen Keller. Er hatte eine Fernbedienung, die ich später nie mehr sah: Ein Kabel verband sie mit dem Gerät, das war selbst für die 80er- Jahre altmodisch. Ich durfte zwei Sendungen pro Woche anschauen, die ich gemeinsam mit meiner Mutter aussuchte. Während Helmut Dietl also an seiner Legendenwerdung arbeitete, Serien wie „Der ganz normale Wahnsinn“, später „Monaco Franze“ und „Kir Royal“ abdrehte, saß ich im schlecht geheizten Keller und schaute den „Kinderwurlitzer“ auf ORF. Das wuchs sich aus. Irgendwann ließ ich mir nichts mehr sagen. Irgendwann besaß ich sogar ein eigenes Fernsehgerät. Meine Jugend verlief also, was Medienkonsum anging, im Großen und Ganzen gewöhnlich. Nur: „Der ganz normale Wahnsinn“, der lief seinerzeit nicht mehr. Zwischen 1989 und 2010 wurde die Serie kein einziges Mal wiederholt. Sie ist unter den Dietl-Serien die unbekannte, die unterschätzte. Die, die irgendwann beim Bayrischen Rundfunk in einer Schublade einsortiert wurde, für die alsbald der Schlüssel verloren ging.

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Das ist schade. Und das ist ungerecht. Denn die Sache ist folgende: „Der ganz normale Wahnsinn“ ist die Dietl-Serie, die am meisten mit dem Leben zu tun hat. Zumindest hat sie am meisten mit meinem Leben zu tun. Die „Münchner Geschichten“ spielen in einem Land vor meiner Zeit. Der „Monaco Franze“ ist so eigen, dass er kein Identifikationspotential bietet. Nicht missverstehen – tolle Serie. Aber hat sich jemals wer in einer „Monaco Franze“-Episode wiedergefunden? Der Protagonist von „Kir Royal“, Baby Schimmerlos, ist zwar Journalist. Aber er ist einer, der mit Prinzessinnen und dem Ministerpräsidenten verkehrt. Schauen wir uns dagegen Maximilian Glanz an, von dem „Der ganz normale Wahnsinn“ handelt. Mit den Frauen? Läuft es – aber keineswegs reibungslos. Seine journalistische Arbeit? Ist ein Kampf. Glanz verdingt sich als Kummerkasten-Ghostwriter für eine Boulevardzeitung und schreibt an einem wenig erfolgversprechenden Buch mit dem Titel „Woran es liegt, dass der Einzelne sich nicht wohl fühlt, obwohl es uns allen doch so gut geht“, das zwar gegen Ende der Staffel einen Verlag findet, aber der geht pleite. Ab und an bucht ihn der Rundfunk als Experten zu Themen, von denen er keine Ahnung hat.

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Und die Sache mit der Wohnung? Ebenfalls kompliziert. Glanz lebt anfangs in einer alten Schreinerwerkstatt und ist danach mit Gloria, der Frau, die er am Tag ihrer beider Scheidung durch einen Auffahrunfall im Halteverbot vor dem Gericht kennenlernt, eigentlich ununterbrochen auf Wohnungssuche. Ferner kann er nicht mit Geld umgehen, hat kein besonders gutes Gedächtnis und handelt häufig völlig unüberlegt. Zum Glück hat er mit Lino (Helmut Fischer, Dietl spielte bei der Anlage der Rolle mit den Wesenszügen, die Fischer im „Monaco Franze“ zum ewigen Stenz werden ließen) einen Freund, der recht belastbar ist. All das kennt man doch. „Der ganz normale Wahnsinn“ lässt sich auch nach 30 Jahren als Schablone auf das Leben derer legen, die heute zwischen 35 und 45 sind. Die Schablone wird passen.

Vor allem für all diejenigen, die München kennen. Jede Stadt hat ihre eigene DNA, und es ist die Kunst eines Fernsehmachers, diese DNA auch in die Geschichten zu übertragen, die dort spielen. München, das mag pathetisch klingen, ist aber wahr – München ist nicht nur Stadt, sondern Wirkprinzip. München ist reich, selbst wenn es arm ist. München leuchtet, auch an Regentagen. Es ist mit dieser Schönheit, die einem an jeder Straßenecke anspringt, eine einzige Kulisse. In München gehen die Menschen mit größtem Eifer ihrer Arbeit nach, auch die, die gar keine Arbeit haben. Auf Film wurde diese Besonderheit erstmals in May Spils’ „Zur Sache, Schätzchen“ (1968) festgehalten, sie trägt auch Barbara Noacks „Der Bastian“. In „Der ganz normale Wahnsinn“ wird sie von Dietl, der diese Stadt liebte wie nur wenige andere, perfektioniert. Kleine Gauner werden hier ebenso zärtlich geschildert wie Großkapitalisten und Verleger, und Gloria, qua Scheidung herauskatapultiert aus der reichen Welt des Münchner Speckgürtels, lebt auch an der Seite des armen Poeten Maximilian mit unveränderter Grandezza.

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Ich sehe „Der ganz normalen Wahnsinn“ mindestens einmal im Jahr. Wie bei jeder guten Serie wechseln meine Lieblingsfolgen. Momentan mag ich die am liebsten, in der Gloria und Maximilian nach Cannes zu den Filmfestspielen reisen. Während sie sich von einem amerikanischen Betrüger ausnehmen lassen, werden sie von Lino gesucht, der marschiert im Anzug und mit Reisekoffer durch den Sommer, vorbei an Strand, an Sonne, an freiliegenden Brüsten. Er staunt und ist, obwohl er vergessen wurde, niemandem gram. Vor allem entdecke ich immer wieder neue Details. Zum Beispiel eines, das man vielleicht erst versteht, wenn man sich ein bisschen mit Helmut Dietl auseinandergesetzt hat: Die Serie ist weiß. Der Boden in Glanz’ erster Wohnung? Weiß. Möbel? Weiß. Seine Anzüge? Weiß. Sein Alfa Romeo Cabriolet, das er in erwähnter Frankreich-Folge nach einem Motorschaden für 500 Francs einem Automechaniker in der Provence hinterlässt? Selbstverständlich weiß. Auch ich habe mir nach dieser Feststellung sofort eine weiße Hose besorgt, kurz habe ich sogar mit dem Gedanken eines Autokaufs gespielt.

Ein allgemeiner Tip: Man sollte die Serien, die man mag, unbedingt leben. Dann wird am Ende alles gut. Ansonsten sollte man es mit dem Spruch halten, der in fast jeder Folge von „Der ganz normale Wahnsinn“ zu hören ist: „Just look at the sun and be happy!“