ME-Jahresrückblick 2020: Die 50 besten Alben des Jahres
Der Jahreswechsel naht und damit wird es mal wieder Zeit, die besten Alben zu küren. Welche 50 Platten uns 2020 besonders begeistert haben, seht Ihr hier.
01. SAULT – UNTITLED (BLACK IS)
Forever Living Originals (VÖ: 19.6.)
Wie war das noch mit Pop und Gegenkultur? Man darf an Woodstock denken, jenen mythischen Ort, der zur Spitzmarke für ein antibürgerliches Narrativ wurde, oder an die Discos der 70er, die Spielfelder für Aufführungen sexueller Selbstbestimmung gegen herrschende Rollenmodelle werden konnten. Bei Punk und Grunge wird die Bestimmung dieses „Gegen“ schon schwieriger. Pop als Gegenöffentlichkeit funktionierte später kaum mehr im Rahmen einer Bewegung, Protest und Solidarität zerstäubten zu oft in den Sphären musikalischer Individualanstrengungen. 2015 etwa hatte Janelle Monáe einen aus Beats und Gesängen gebauten Track durch die sozialen Kanäle geschickt, in dem die Namen von Afroamerikaner*innen verlesen wurden, die durch Polizeigewalt und rassistisch motivierte Verbrechen zu Tode gekommen waren. „Hell You Talmbout“, so der Titel des Stückes, wurde Teil von David Byrnes Broadway-Show „American Utopia“ und brachte die Opfer noch einmal in Erinnerung, bis der Vorhang in New York im Februar 2020 Wochen vor dem Shutdown fiel.
Ein paar Monate später musste nicht einmal mehr der Name George Floyd im Song „Wildfires“ von der Band Sault auftauchen, wer in diesen Lyrics gemeint war, sollte unmissverständlich sein: „We all know it was murder. Murder, murder, murder“. Die Musiker*innen nehmen ihr Publikum sofort mit, sie rufen direkt in den ersten Zeilen ihres Albums UNTITLED (BLACK IS) einen kollektiven Akt der Veränderung aus: „The revolution has come (Out the lies), still won’t put down the gun“. Das aus dem Soul bekannte Moment der Befreiung, das in vielen anderen Songs von Monáe in einen entfernten, afrofuturistischen Raum katapultiert wird, trägt die Band Sault gewissermaßen auf die Straße zurück. Eben dorthin, wo der strukturelle Rassismus seine genickbrechende Wirkung zeigt. UNTITLED (BLACK IS) ist im Gegensatz zum Protestlied von Monáe ein Stück Berichterstattung aus dem Zentrum des Widerstandes, der Soundtrack der „Black Lives Matter“-Bewegung. Wut, die sich auch der Vergegenwärtigung von Traditionen bedient – in den Kanälen von Soul, Disco, Funk und Afrobeat. Dazu zählen die Dokumente der Historie der Gewalt: von einkopierten Polizeisirenen und Spoken-Word-Passagen bis zu Verweisen auf Malcolm X und die Black Panthers. Am anderen Ende steht eine sanfte Ode an die afroamerikanische Kultur: „Black is beautiful, you know, now you do“. Zitat, Skizze, Hymne – die 20 Songs vereinen Spielformen aus dem Zentrum und den Randgebieten des Pop zu einem Ganzen, das über seine Einzelteile hinaus strahlen kann.
Ein paar Tage vor Veröffentlichung im Juni war Gilles Peterson der Erste, der das Album öffentlich auflegte, und zwar gleich komplett in seiner BBC-Radiosendung. Seitdem tritt es über die diversen Medien hinweg einen Siegeszug an: als Kunstwerk, das sich der politischen Einmischung in einem notwendigen, emanzipatorischen Sinne verschreibt. Zu diesem Zeitpunkt galt als so gut wie geklärt, was lange nur spekuliert wurde: dass sich hinter dem Namen Sault der Londoner Produzent Inflo und die Sängerinnen Cleo Sol und Kid Sister verbergen. Die Songsammlung ist eins von vier erstaunlichen Alben, die Sault in den letzten anderthalb Jahren veröffentlichten, allesamt über das Boutique-Label Forever Living Originals, ohne Videos und Interviews, ohne entscheidende Social-Media-Präsenz und Live-Auftritte. Die Information blieb spärlich. UNTITLED (BLACK IS) erinnert daran, dass die Idee einer solidarischen Gegenkultur in der Musik stark werden kann. Auch dafür verdient sich das Album mit der gereckten Black-Power-Faust den Titel „Platte des Jahres“. Frank Sawatzki