ME hat gewählt: Das sind unsere Alben des Jahres 2024
50 Alben, die uns begeistert haben – mit Platten von Pearl Jam, Last Dinner Party und Charli XCX.
9. Ja, Panik – DON’T PLAY WITH THE RICH KIDS
„Ich wünsch mich dahin zurück, wo’s nach vorne geht“, sang Andreas Spechtl im Titelstück der fünften Platte seiner Gruppe Ja, Panik, LIBERTATIA. Zehn Jahre darauf sollte sein Wunsch in Erfüllung gehen: Nach siebenjähriger Pause war zuerst die Band zurückgekehrt und veröffentlichte ein freidrehendes, in den Pandemiewirren etwas untergegangenes Album nahe am Jazz, um nun sogar ihren Ursprungssound wiederaufzugreifen: aufbrausenden Indie-Rock. Und das mit einer grenzenlosen Freude an der Sache, die sich am Höhepunkt ihres Spieltriebs nicht nur an den ultimativen Rockismus des extended Gitarrensolos wagt, sondern diesen auch over the top und somit ad absurdum führt. Das angezogene Tempo korrespondiert mit Spechtls Lebenswandel: Beobachtete er einst unser Leben als Flaneur durch die Straßen Wiens und Berlins, ist er nun in den nur per Auto bezwingbaren Welten Argentiniens angekommen, wo er gerne aufs Gaspedal drückt. Dazu versucht er sich, mit 40 Jahren, erstmals an Sport und rennt und rennt und rennt. Lauf nicht weg, Andreas, nimm‘ uns mit!
Stephan Rehm Rozanes
8. Vampire Weekend – ONLY GOD WAS ABOVE US
Kann bitte irgendjemand den spektakulären kommerziellen Absturz von Vampire Weekend im zurückliegenden Jahr erklären? Nach drei Alben, die in der US-Heimat der Paul-Simon-Wiedergänger auf Platz eins in die Charts eingestiegen sind, erreichte ihre fünfte Platte nur einen erbärmlichen Platz 27 – und war dazu nach einer Woche aus den Topp 100 verschwunden. Zugegeben, frühere Alben hatten eingängigere Hooks, luden häufiger auf den Tanzboden ein. Dieses Werk schlägt eine ernstere und komplexere Richtung ein, kombiniert Prog-Rock und Jazz-Einflüsse mit orchestralen Arrangements, die vor allem in „Ice Cream Piano“ in vollem Glanz erstrahlen. Aber wieso wollte die Welt diesen verheißungsvollen Weg nicht mitgehen, wo doch hinter jeder Gabelung ein Song wie „Capricorn“ wartet, der einen für das bisschen Plackerei belohnt und in höchste Höhen mitreißt?
Stephan Rehm Rozanes
7. International Music – ENDLESS RÜTTENSCHEID
Auf ihrem dritten Album ordnet die Band aus Essen ihren Sound, ohne die Dinge deswegen anders anzugehen. Bedeutet: Nach wie vor schichten die drei allerhand auf- und nebeneinander, räumen Kraut , Psychedelic und Pop in verschiedenste Kästen, die sie anschließend ordentlich durchschütteln. Was neu ist: Mehr als zuletzt erlauben sie sich dabei eine gewisse Stringenz. Das eröffnende „Kraut“ schmust nicht nur mit dem titelgebenden Genre, sondern auch mit Glam, „Kieselwege“ schlurft sich zunächst wie ein 70er-Radiorock-Track ins Ohr, das großartige „Liebesformular“ explodiert in tausend Twee-Farben. Wobei: Sowohl die Texte als auch die Musik führen immer durch so viele Irrgärten, dass die „Stringenz“ in Anführungszeichen zu setzen ist. Macht weiter so, liebe International Music, mit dem Allesimmerandersmachen.
Jochen Overbeck
6. Fontaines D.C. – ROMANCE
Ein wenig bizarr erscheint der Umstand schon, dass die irische Band zunächst in die hinterletzten aller grellfarbigen Gewänder zwischen Nu Metal und The Prodigy schlüpfen musste, bevor sie ihre Musik in nie gekannte Grazie und Opulenz kleidet. Gemeinsam mit dem neuen Produzenten James Ford formten sie das wirkmächtigste und wohlklingendste Album ihres Bestehens. Vielleicht intendieren Fontaines D.C. nicht mehr im Geiste der Pogues, sondern stürzen in eine Schublade mit britischen Stadionrockbands. Einfach macht sich die Gruppe ihr Handwerk deshalb lange nicht: Sie führen die Schriftsteller J.D. Salinger und James Joyce heran und schreiben mit „Motorcycle Boy“ ein Stück nach dem Beschauen des Bruderfilmdramas „Rumble Fish“. Über allem schwebende Wolken aus Romantik brechen immer wieder in Panikgewitter auf. Am Ende aber steht mit „Favourite“ die schönste Freundschaftsode seit Menschenhände an Gitarrensaiten schlagen.
Martin Schüler
5. Nick Cave & The Bad Seeds – WILD GOD
Lassen wir die ganzen Aspekte um Trauer und Glaube, Gott und Teufel mal weg: Mit WILD GOD lässt Nick Cave die Bad Seeds wiederauferstehen. Als eine wirbelnde, jubilierende Band. Als eine Einheit von alten Männern, die durch Krisen getaumelt sind, physische und psychische, und die sich nun noch einmal erheben. Insbesondere gegen die Annahme, Rockmusik habe viel von seiner Kraft verloren, sei keine ernste Sache mehr, sondern nur noch ein Marketinginstrument. Nick Cave & The Bad Seeds halten mit WILD GOD dagegen. Jeder Ton ist wichtig, jedes Wort hat Gewicht. Mutig und genial war die Idee, das alles von Dave Fridman mischen zu lassen, von einem Mann, der weiß, dass die Wucht im Zweifel wichtiger ist als die Eleganz. Dass Cave auf der Tour zum Album mit „Palaces Of Montezuma“ ein Stück seines Bandprojekts Grinderman spielt, ist kein Zufall: So sehr als Mitglied einer Gruppe hatte er sich zuletzt 2010 gefühlt. Vielleicht rettet WILD GOD ein paar Leben; die Reaktionen des Publikums auf Transzendenz-Stücke wie „Conversion“ oder „Final Rescue Attempt“ legen diesen Verdacht nahe. Auf jeden Fall rettete das Album die Bad Seeds.
André Boße
4. Beth Gibbons – LIVES OUTGROWN
Möge uns Beth Gibbons ein Vorbild dafür sein, wie man diese im Eiltempo von einem Extrem ins andere Extrem verfallende Welt ein gutes Stück erträglicher machen kann – ein sehr gutes, wie im Falle des ersten Soloalbums der Portishead-Sängerin. 16 Jahre sind seit deren letztem Werk vergangen, 22 seit Gibbons’ Album mit Rustin Man, OUT OF SEASON. Und mit jedem Jahr der Partizipationsverweigerung des öffentlichen Lebens wuchs ihr Ruf. LIVES OUTGROWN lässt sich übersetzen mit Leben, die uns über den Kopf wachsen, aber auch mit Leben, die wir überwunden haben. Gibbons besingt Themen wie Vergänglichkeit, Verlust und die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper im Laufe der Zeit. Ihre gleichermaßen zerbrechliche wie kraftvolle Stimme verlangt nach unserer Schulter und streckt die tröstenden Arme aus. Die musikalische Vielfalt des Kammerpop-Albums reicht von traditionellen japanischen Taiko-Trommeln bis zu Balkan Brass, der besonders im galoppierenden „Beyond The Sun“ hervortritt. LIVES OUTGROWN ist ein Meisterwerk der Introspektion, voller schmerzhafter Erkenntnisse und befreiender Akzeptanz.
Stephan Rehm Rozanes
3. The Last Dinner Party – PRELUDE TO ECSTASY
Wie Hofdamen unter Königin Victoria staffieren sie sich heraus. Die Arme scheinen unter Tüllnetzen hervor, ihre Kleider zieren Spitzenstoffe, gelegentlich formen Corsagen die Taillen. Auf dem Kopf trägt Abigail Morris mal eine mit Ornamenten versehene Haube – oder gleich die Dornenkrone. Eine katholische Erziehung und die Freud’sche Art des Umgangs damit führen zu jener bibelsymbolischen Bildsprache, sagte die Sängerin einmal. Gebrochen wird die ahnenbeladene Garderobe mit Netzstrumpfhosen und Lederstiefeln. Es sind prächtige Punkposen einer Londoner Gruppe, welche ihr elisabethanisches Dramadebüt auf den Namen PRELUDE TO ECSTASY getauft hat. Die vierzigminütige Inszenierung beginnt mit einer von stolzem Pathos umwehten Orchesterouvertüre. In kompromissloser Theatralik offenbart „Burn Alive“ dann im ersten Akt, was eine ruinöse Liebesverbindung anzurichten vermag: In meinen Adern schmilzt Kerzenwachs, also stehe ich in deinen Flammen, heißt es in übersetzten Worten. Im Gefühlsgewirr beißt sich die Protagonistin in die eigene Zunge – auf dem wundervollen Sehnsuchtslied „On Your Side“ bittet sie hingegen ihr Vampirdarling in gravitätischem Tonfall um den Gefallen. Obsessionen und daraus erwachsene Todeswünsche prägen diesen an Sentiment kaum zu übertrumpfenden Langspieler. „Portrait Of A Dead Girl“ lautet ein besonders schauervolles Exempel: „And I wish you had given me the courtesy of ripping out my throat / And I wish that I let you have the dignity of letting me go“. Kontinuierlich seziert das aus Frauen und nicht-binären Personen bestehende Quintett auch Rollenklischees. Mit operettenhaftem Gesang verballhornt die Sängerin in „Caesar On A TV Screen“ den hypermaskulinen Drang nach Geltung und Ewigkeit. Das Kammermachtspiel „The Feminine Urge“ erzählt von Mutter und Tochter, deren simultan klaffende Wunden eine patriarchale Umwelt hinter ließ. Mit Schiffsmetaphorik artikuliert „Beautiful Boy“ die Annehmlichkeiten einer Existenz als normschöner Mann. Und dann wäre da noch der Gassenhauer „Nothing Matters“ – ein Loblied auf nicht allzu bedeutungsschwere Körperlichkeit, während das Herz an verblühter Liebe laboriert: „And you can hold me like he held her and I will fuck you like nothing matters“. Musikalisch changieren The Last Dinner Party irgendwo zwischen Siouxsie and the Banshees, Abba, Lana Del Rey und Queen. Ohne Furcht vor blauen Flecken streifen sie Artrock und Barockpop, drehen gelegentliche Glamkapriolen. Ihre gesamte Identität bestehe darin, auf der Bühne zu stehen, sagte Abigail Morris einst. Sonst umkomme sie das Gefühl, nicht zu existieren. Zumindest diese Empfindung wird ihr nach diesem Album sehr fremd werden.
Martin Schüler
2. Billie Eilish – HIT ME HARD AND SOFT
Man hatte ihren Stern schon wieder im Sinkflug gewähnt: Nach Billie Eilishs Debütalbum WHEN WE ALL FALL ASLEEP, WHERE DO WE GO?, mit dem die damals erst 17-Jährige die Welt im Sturm erobert hatte, erreichte ihr zurückgenommenes Zweitwerk nur noch einen Bruchteil von dessen Verkäufen. Mit den jazzy Downbeats und den nach innen gewandten Texten von HAPPIER THAN EVER demonstrierte Eilish zwar auf brillante Art ihr Verständnis von Kunst als Kommentar zum Zeitgeschehen, das damals eben stark von der Pandemie geprägt war – aber es fehlten so halt auch die Charts-Banger wie „Bad Guy“. Ihre dritte Platte würde also das klassische Make-or-break-Album sein. Bereits nach den ersten Sekunden des Openers zerstreute Eilish alle Zweifel an ihrer Dominanz: „Skinny“ ist reine Anmut, ein schwelgerischer Song von erhabener Schönheit, der auch der Höhepunkt des Vorgängers gewesen wäre. Danach geht’s zwei Alben zurück, wird uns auf einer dicken Bassline „Lunch“ serviert: Ein fröhlich-sanfter Befreiungsschlag, der Soundtrack zu ihrem Outing als an allen Geschlechtern interessierter Mensch. Das geht eben auch ohne die gewichtige Sorgenverwaltung, mit der Songs dieser Art oft einhergehen: „I could eat that girl for lunch“, singt Eilish frech und hiphoppst durchs Video. Einfach keinen großen Deal aus etwas machen, das kein großer Deal ist, sondern so normal wie das tägliche Mittagessen. Ab hier ist die Formel klar: The best of both worlds – mindestens, und dazu oft genug auch im selben Song: „L’Amour de Ma Vie“ etwa beginnt als Laufey-artiger Jazz-Pop, wandelt sich dann schleichend in einen knallenden Electro-Part mit Club-Beats, 80s-Synthies und von Auto-Tune stark verzerrtem Gesang. Oder „The Greatest“, das einen mit zärtlichen Fingerpicking-Gitarren einlullt, bevor es einen mit einer Stadionrock-Coda aus dem Halbschlaf reißt und gegen die Decke knallt. Zum greatest Hit sollte sich allerdings „Birds Of A Feather“ entwickeln, das ganze 20 Wochen in den Top 20 des UK verbrachte. Ein Anwärter auf den Thron des perfekten Soft-Pop-Songs, auf dem seit 47 Jahren Fleetwood Macs „Dreams“ residiert. HIT ME HARD AND SOFT trifft einen eben mal hart und mal soft. Es ist ganz bestimmt Eilishs bestes Album, ein neuangelegter Garten mit den verschiedensten Pflanzen in voller Blüte. Schwindlig wird einem bei dem Gedanken, welche Saat hier noch gelegt ist von flowers that grow so incredibly high, um abschließend noch die Beatles ins Spiel zu bringen, in deren Liga sich Eilish ab diesem Album mühelos bewegt.
Stephan Rehm Rozanes
1. Charli XCX – BRAT
Jetzt, da diese verheerende US-Wahl hinter uns liegt, sich die deutsche Politik auch eher zu zerbröseln scheint und sich Winterdepressionen über uns legen … jetzt vermisst man es irgendwie richtig. Dieses stechende, giftige, aufdringliche Grün, das plötzlich überall war im Internet, Mode, Clubs und Stadtbild. Das BRAT-Grün. Es konnte einem schon ein bisschen zu viel werden in diesem Sommer. Aber das war ja genau der Punkt. Es war laut und grell und dreist, genau wie das dazugehörige Album. Verantwortlich für den #BRATSUMMER ist Charli XCX, die schon lange ein Star, aber so berühmt wie jetzt noch nie gewesen ist. Oder, wie sie selbst singt: „I’m famous but not quite / But I’m perfect for the background / One foot in a normal life“. Der ungeheure Social-Media-Hype, der ihr sechstes Studioalbum BRAT begleitete und diesen Popmoment dann über den ganzen Sommer hinweg und bis in den Herbst hineintrug, all das wirkte auf den ersten Blick ein bisschen zu influencerhaft. Hatte da wer zufällig genau ins Schwarze des Zeitgeists getroffen? Ganz und gar nicht. BRAT ist vielmehr die Siegesrunde einer brillanten, von Kritikern schon lange gefeierten Musikerin und Songwriterin mit Underdog-Status, die 15 Jahre lang ihren eigenen Stil verfeinert (seit den ersten Songs 2008 auf MySpace), viele Hits für andere geschrieben (Icona Pop, Selena Gomez, Camila Cabello) und jetzt also das Album des Jahres rausgehauen hat. Bam! Die Fans waren nicht überrascht, alle andere in einem Jahr mit Beyoncé- und Billie-Alben schon. BRAT und all seine Hyperpop-Melodien und synthetischen Beats, Catchphrases und Memes, Videos, Live-Momente und TikTok-Tänze, das ist die Essenz der Popkultur 2024. Der Atomkern im Inneren des popkulturellen Moments. Nichts war in diesem Jahr mehr Jetzt als Charli XCX. Zurückzuführen ist das nicht nur auf den Internet-Hype, sondern vor allem auch auf die unausweichliche Wucht der Songs, die einem so konfrontativ wie eingängig in die Glieder fahren. Ihre Stärke liegt in der Art und Weise, wie das echte, subjektive Leben durch den supersynthetischen Sound des Hyperpop raus in die Welt gedrückt wird. Charli XCX dreht den Bass hoch und zwischen all den ballernden Beats wirken ihre vignettenhaften, scheinbar beiläufigen Beobachtungen umso menschlicher. Was durchscheint, ist eine komplexe Frau: Sie ist selbstbewusst („360“,„Von Dutch“), horny as fuck („Guess“) und doch auch verletzlich („I Might Say Something Stupid“), sie redet über Drogen („365“), romantische Beziehungen, ihre Trauer um die verstorbene Produzentin und Wegbegleiterin Sophie („So I“), die Suche nach Bedeutung im Chaos („Everything Is Romantic“) und die Frage mit dem Kinderkriegen („I Think About It All The Time“). Dann plötzlich wieder Absturz im Club und Zunge raus („Mean Girls“), und immer wieder auch – und das ist vielleicht das Interessanteste an BRAT – über die komplizierten Beziehungen von Frauen zwischen Bewunderung und Neid („Sympathy Is A Knife“, „Girl, So Confusing“). Am wichtigsten bei all dem: Sie gibt einen Scheiß drauf, was die Leute denken. That’s so brat! Und irgendwie wollten dann alle ein bisschen so sein. Die alten und die neuen Fans, Millennials und Gen Z, sogar Boomer wie Schauspieler wie Kyle Mac Lachlan oder Kamala Harris während des US-Wahlkampfes, Leute im Erstsemester und Midlifecrisis, und die lange, lange Reihe von Artists, die in Videos und Remixen auftauchten: Lorde, Billie Eilish, Robyn, Ariana Grande, Julien Casablancas, Bon Iver, Chloë Sevigny, Julia Fox, und und und … Alle waren plötzlich brat. Für einen Sommer. Im Rückblick ist es pure Lebendigkeit. Ein letztes Aufbegehren vielleicht vor einer Zukunft, die jetzt ganz schön düster erscheint. Hoffen wir, dass uns das Giftgrün noch ein bisschen trägt.
Annett Scheffel