ME Liste

ME hat gewählt: Das sind unsere Alben des Jahres 2024


50 Alben, die uns begeistert haben – mit Platten von Pearl Jam, Last Dinner Party und Charli XCX.

19. Die Nerven – WIR WAREN HIER

Zwischen den Zirbenwänden eines ehemaligen Sternerestaurants erschufen Die Nerven in Stuttgart ein Album der Zerrissenheit. Noise begegnet Pop. Krach billigt Passagen der Anmut. Bei der knallhart-anrührenden Retrospektionsballade „Achtzehn“ erinnern sie: „Mein Leben eine Wunde, offen und rot“. Schon immer führten Rieger, Kuhn und Knoth Schwerter der Introspektion, fochten dabei mit verschieden geschliffenen Klingen ihres Zorns. Seit der letzten Platte richten sie ihre Wutblicke direkter ins politische Außen. Hier besingen sie Castor, SUVs und jene Geschöpfe, die wir eines nicht allzu fernen Tages gewesen sein werden.

Martin Schüler

18. Idles – TANGK

Wie viel Kontrastprogramm lässt sich auf einem Longplayer vereinen? Die elf Songs des fünften Studiowerks des Quintetts um Sprechgesangsakrobat Joe Talbot aus Bristol kommen einem Feuerwerk an Ideen gleich. Artrock wechselt sich mit der eisernen Wucht von Punk und Hardcore ab, von Tanzaffinität markant gezeichnete Harmonien geben sich mit meditativ Kontemplativem die Klinke in die Hand. Für die auf den Punkt gekommenen Genre-Überblendungen zeichnete das Produktionsduo aus Gitarrist Mark Bowen und Kenny Beats im Gespann mit dem Neuzugang, Radiohead-Produzent Nigel Godrich verantwortlich.

Michael Köhler

17. Clairo – Charm

Bereits seit ihrem Durchbruch mit dem YouTube-Bedroom-Pop-Hit „Pretty Girl“ im Jahr 2017 handelt das Œuvre von Clairo alias Claire Cottrill von den Irrungen und Wirrungen des Verliebtseins. Während sie zunächst mit sanften Pop- und R’n’B-Produktionen experimentierte, verschrieb sie sich spätestens auf dem 2021 erschienenen SLING dem Soft Rock und Folk. Auch CHARM verhandelt die Phase zwischen Verknallt- und Verliebtsein in sanften Melodien zwischen Folk, Pop und Jazz. Besonders geschmeidig kommt das auf dem Titel „Juna“ daher. Songs wie „Sexy To Someone“ und „Slow Dance“ sind ebenso clever wie sinnlich.  

Louisa Zimmer

16. St. Vincent – ALL BORN SCREAMING

Annie Clark aka. St. Vincent macht wieder das, was sie am besten kann, und zwar: Worauf auch immer sie Bock hat! ALL BORN SCREAMING klingt wie nichts anderes, das im Jahr 2024 veröffentlicht wurde. Ihr Antrieb? Allem Anschein nach brennende Wut. Anders lässt sich die rohe Gewalt, die abwechselnde Hitze und Kälte, die dieses Album ausstrahlt, nicht erklären. Auch wenn die funkigen Rhythmen uns bisweilen in Sicherheit wiegen: Diese unterschwellige Wut ist ständig zu spüren. Wut auf den manipulativen „Broken Man“ und seine sensationsgierigen Betrachter:innen, auf den blutsaugenden „Flea“ und den ganzen Rest der Welt.

Fe Ferraris

15. The Smile – CUTOUTS

Diese CUTOUTS, die zur gleichen Zeit wie das Anfang 2024 veröffentlichte Album WALL OF EYES entstanden, demonstrieren die Lust an Tiefe, Dub- und Ambient-Strukturen. Thom Yorke, Jonny Greenwood und Superjazzdrummer Tom Skinner transportieren in ihren „Resteexemplaren“ viele kleine Schwenks und Sound-Aufwartungen, es geht in Richtung Atmospherica und Orchestralia. Zwischendurch lassen sie den im Sechseck titschenden Höllenhund „Zero Sum“ auf uns los. Für Yorke und Greenwood womöglich eine weitere Etappe des Loslassens von der Ursprungsband – Radiohead stellen inzwischen den eigentlichen Cut-out dar.  

Frank Sawatzki

14. The Lemon Twigs – A DREAM IS ALL WE KNOW

Vor neun Jahren präsentierten sich die Brüder D’Addario mit einem ersten Tape namens WHAT WE KNOW: eine streberhafte Leistungsschau zweier Hochbegabter. Neun Jahre und vier Alben später nun also A DREAM IS ALL WE KNOW: erneut eine streberhafte Leistungsschau zweier Hochbegabter. Aber wenn Indie-Musik eines vertragen kann, dann doch Strebsamkeit, Leistung und Begabung, oder? Die Lemon Twigs sind mittlerweile unschlagbar darin, Pop und Rock aus der Zeitschleife zu befreien. In jedem der zwölf Stücke steckt der Geist der Vergangenheit. Die D’Addarios bewahren ihn – und bieten Greatest Hits der 60er aus einer Parallelwelt.

André Boße

13. K.I.Z. – GÖRLITZER PARK

K.I.Z können auch ohne Vulgärsprache und ach so doppelbödigen Sexismus: GÖRLITZER PARK war und ist das Deutschrap-Album des Jahres 2024. Benannt nach Kreuzbergs Schmuddelkind-Stellvertreter für scheiternde Asyl-, Migrations- und Drogenpolitik, erinnern sich Tarek, Nico und Maxim darauf zu Drunken-Masters-Beats an jenen Hometurf ihrer Jugend. An Perspektivlosigkeit, Gewalt, Rassismus, Kapitalismus und Klassismus. Das Persönliche ist hier politisch. Es geht um toxische Männlichkeiten, eine neue Ernsthaftigkeit und Gesellschaftskommentar: „Wir träumen von Frieden, doch erst müssen wir gewinnen“, singen K.I.Z inklusive Kinderchor. Ihr Sarkasmus ist geblieben.  

Fabian Soethof

12. Noga Erez – THE VANDALIST

Eine der ganz wenigen Platten, die den Panorama-Aspekt von Charli XCX‘ BRAT matchen können. THE VANDALIST liefert zumindest einen ähnlichen Rundumblick hinsichtlich kontemporärem Pop: von Electro, Reggaeton, Trap, Glitch bis hin zu augenzwinkernd inszeniertem Kitsch. Aber auch wenn die israelische Sängerin die unterschiedlichsten Register zieht, wirkt dieses Album wie in einem Fluss. Die Gegenwart zudem lädt Songs wie „Come Back Home“ weiter auf. Auch wenn es sich hier um ein Beziehungsstück handelt, schwingt das Schicksal der von der Hamas verschleppten Zivilisten mit. Unfreiwillig schauerlich – wie die Welt halt.

Linus Volkmann

11. Nilüfer Yanya – MY METHOD ACTOR

Ein Glücksfall, dass die Gitarristin und Songwriterin Nilüfer Yanya sich für Kunst statt für Kommerz entschieden hat. Ein Angebot, Mitglied einer Girlgroup zu werden, schlug sie zugunsten ihrer eigenen Musik einst aus. Nach Indietronica-, Lo-Fi-Soul- und Shoegaze-Anläufen ist ihr reduzierteres drittes Album MY METHOD ACTOR Bedroom Pop im buchstäblichen Sinne. Zwischen Sade und José González und über dezenten, an TripHop geschulten Beats sowie ihrem eigenen Instrument klingt die 29-jährige Londonerin verschlafen, introvertiert, entrückt und doch ganz wach, ihr Indie-Rock bricht nur selten durch. Wohlig-warm, das.

Fabian Soethof

10. Mannequin Pussy – I GOT HEAVEN

Die schöne Nackte mit Wildschwein, die das aktuelle Album von Mannequin Pussy ziert, macht eine optische Ansage zu Sound und Anliegen des Quartetts aus Philadelphia. Sein stressiger Metal-Ansatz, seine noisige Aggro-Attitüde stellt nämlich über locker eingestreute, eher ruhige Stücke eine Verbindung zu all dem her, was die Band an Zartheit und Freundlichkeit auszuschütten vermag. Auch mal nackt und verletzlich sein und nicht nur Wildsau. Das Stück „Sometimes“ fasst all das textlich und musikalisch zusammen. Irre, wie die drei Frauen und ihr bäriger Bassist zwischen Punk und Gitarren-Pop mäandern.

Rebecca Spilker