Interview

Sibylle Berg: „Es gibt auch Leute, die onanieren zur Musik von DJ Ötzi“


Die Autorin und „Marlene Dietrich des Literaturevents“ Sibylle Berg im Interview über Schulz & Böhmermann, Twittern im Bett, Walsers „Pimmelbücher“ und ihr Tourettesyndrom in Live-Sendungen. Aus der Mai-Ausgabe des Musikexpress.

Sibylle Berg ist brillant. Sie schreibt ­Bücher, Kolumnen, Theaterstücke, Texte für die Talkshow „Schulz & Böhmermann“ und unterhält ihre Follower im Internet mit schrägen Posts. Ihr Hauptanliegen aber, möchte man meinen, ist dabei immer das Gleiche: ­Menschen an der Nase herumführen. Ihr dabei zuzusehen macht fürchterlich viel Spaß. Selbst einmal von ihr gefoppt zu ­werden: fast schon eine Ehre.

Spitzfindig ist sie, ohne zu bedrängen. Das stellte Sibylle Berg jüngst als Erzählerin bei „Schulz & Böhmermann“ unter Beweis. „Jung zu sein und Mann ist eine der anstrengendsten Krankheiten“, sagte sie darin über Kollegah. Sie hat diverse Gäste porträtiert, unter anderem ­Sophie Hunger, deren „Feuchtausstattung“ auf unserer Erde gegen die Idiotie kämpfe, ­während ihr Verstand längst an einem besseren Ort wohne. Nicht verstanden? Kein ­Problem, die Hälfte der Porträtierten haben Bergs gewiefte Lobhudeleien und Seitenhiebe selbst nicht gerafft.

Tragen Sie eine Disposition zum Fiessein in sich?

Der neue Musikexpress mit Anohni - jetzt am Kiosk und im App Store
Ich trage den genetischen Defekt der Selbst­gerechtigkeit in mir. Das, was Moralistinnen eben so auszeichnet. Diese Eigenschaft ­befindet sich in einem Dauerbattle mit dem anderen Teil in mir, der hochgradig albern ist. Es gewinnt immer der, den zuletzt die Kraft verlässt.

Der moralische Mensch ist ein Stück weit immer eine Utopie. Wie moralisch sollte er also, realistisch betrachtet, sein?

Kategorien wie „sollte“, „hätte“ und „wollte“ fallen in den Bereich Religion. Hoffnung. Und Chemtrails. Der Mensch ist, was er ist, und die Evolution hat die Intelligenz nicht ­wesentlich beeinflusst. Man muss mit dem ­umgehen, was ist. Muss gute Gesetze finden und sie anwenden, um die Idiotie in Schach zu halten. Mehr ist nicht drin.

Hat der Mensch eine Veranlagung zur Idio­tie, zum Fiessein?

Fiessein? Menschen? Ich glaube, Sie haben schlecht geträumt. Die Menschen sind durch und durch gut. Liebevoll. Mitfühlend. Reizend.

So wie Sie in Ihren Texten über die Gäste bei „Schulz & Böhmermann“.

Es mag Sie überraschen, aber es fällt mir nicht leicht, über andere zu urteilen, es sei denn, sie fallen gnadenlos in meinen gerade erwähnten Moralschredder. Zuhälter, Trickbetrüger, blöde Rapper mit menschenverachtenden ­Texten: Das ist einfach. Den anderen möchte ich eigentlich nicht zu nahe treten.

Klar, die liefern natürlich ideale Steil­vorlagen, aber was ist mit denen, die nicht ganz so schlimm, aber eben trotzdem auch ein bisschen schlimm sind? Menschen, ­die Fleisch essen oder Mario Barth lustig finden?

ME.Gespräch mit Thees Uhlmann und Benjamin von Stuckrad-Barre: „Es brennt grundsätzlich hinter uns.“
Die fallen in den harten Bereich der Selbst­disziplin. Tolerant zu sein ist eine der härtesten Übungen. Man muss gegen seine Eitelkeit ­ankämpfen. Bevor ich wild drauflosverachte, zwinge ich mich meist, tief durchzuatmen. Verletzt ein Mensch mit dem Ausleben seiner Vorlieben andere? Belästigt, unterdrückt er sie? Mario Barth oder Helene Fischer gut ­finden ist klar eine Geschmacksache. Kann man machen. Es gibt auch Leute, die onanieren zur Musik von DJ Ötzi. Heikler wird es beim Nichthinterfragen von Fleischverzehr: „Haben wir immer schon so gemacht. Brauchen wir. Macht Spaß. Ich ess das gern.“ Das sind Dumpfkopfantworten. Die richtigen Ant­wor­ten eines Fleischessers wären: „Ich denke nicht darüber nach. Es interessiert mich nicht, dass wir heute wissen, dass Tiere sich nur ­unwesentlich von uns unterscheiden. Ich würde auch einen Menschen essen, wenn er gut zubereitet wäre.“ Da ich aber keine Lust auf ­ständige schlechte Laune habe, atme ich in ­diesem Fall durch und denke: Ach ja, bald sind wir alle tot.

Ist der Tod eine Erlösung?

Für Angehörige vielleicht. Aber wenn es ans Sterben geht, habe ich noch nie jemanden ­getroffen, der sich darüber freut. Die meisten Menschen haben doch keine Lust auf diese ­alberne Sterblichkeit. Es ist eine Beleidigung unserer angenommenen Bedeutung. Viele ­verdrängen die Sterblichkeit bewusst. Wenn man wirklich begreift, dass Ende ist, mordet man doch nicht oder rafft Milliarden zu­sammen. Man sitzt freundlich seine Zeit ab und versucht einem Tier den Bauch zu kraulen. Die Verdrängung des Todes ist der Feind der ­Zivilisation. Und der Glaube an ein Leben nach dem Tod ist die Ursache für den größten ­Bull­shit auf der Welt.

„Wer nicht genug in der Birne hat, macht eben ‚Playboy‘. Oder liest Einspieler vor.“

Lassen Sie uns über die ­Zusammenarbeit zwischen Ihnen, Olli Schulz und Jan Böhmermann sprechen.

Das war ein Buddy-Ding.

Hatten Sie Angst davor, regelmäßig im Fernsehen gesehen zu werden?

Nach 20 Jahren Kritikergeballer erreicht mich nichts mehr. Nein, keine Angst. Ich bin relativ angstfrei. Wenn es blöd ­geworden wäre – wen interessiert das in einer Woche noch?

Sie tauchen zu Beginn einer jeden Folge in einem Einspieler ­auf. Hat das viel Über­windung ­gekostet?

Das war die Idee, weil ich nicht live in den ­Sendungen sein wollte. Weil ich sonst Gefahr laufe, Quatsch zu reden. Oder Touretteanfälle bekomme. Oder weil ich beim Aufzeichnungstermin gerade mit dem Nobelpreiskomitee reden muss. Überdies haben wir uns hübsche Motive aus­gedacht. Nur das Wasserballett, das ich gern gehabt hätte, habe ich nicht bekommen. Und den ­Helikopter.

Dafür gab es aber regelmäßig einen Hund zu sehen. War das Ihre Idee?

Nein, die Idee der Redaktion war ein klitze­kleiner Hund. Ich habe Hunde sehr gern, ich wollte aber keinen, den ich aus Versehen ­einatmen kann.

Obwohl Sie nicht live in der Sendung sein wollten, scheinen Sie gern im ­Mittelpunkt zu stehen.

Jetzt müsste so eine bescheidene Antwort ­kommen, um in die Herzen der Leser und so weiter, aber das ist Quatsch. Ja, ich stehe gern im ­Mittelpunkt. Ich werde gern bejubelt, in einem Bentley mit Fahrer oder Fahrerin herum­kutschiert. Ich bin allerdings auch sehr gern allein im Pyjama zu Hause und arbeite. Ist eben so. Tut ja keinem weh.