London hat das Swingen nicht verlernt


Nun, es kam sehr plötzlich für mich, diese Einladung nach London. Jedoch die Knall-auf-Fall- Fahrten entbehren nicht einer gewissen Brisanz. CHARISMA und B & C RECORDS waren dafür verantwortlich, dass ich in aller Eile meinen Loader mit dem Notwendigsten, sprich: Zahnbürste, Kamera und Filme voll stopfte, um mich dann einem düsenbestückten Vogel anzuvertrauen, der mich unter fortwährendem Druck auf meinen Lauschern nach London ein schwebte.

CHARISMA und B & C RECORDS sind keine Grossunternehmen im englischen Plattenbusiness, doch ihre Umsätze entlockten den Eingeweihten bisher immer den bekannten ‚Oho‘-Effekt. Ob es sich nun um LINDISFARNE oder GENESIS handelt, wovon noch ausführlich berichtet werden soll, oder um die leider geplatzten VAN DER GRAAF GENERATOR und NICE, Geschmack (musikalischen) hat die Firma bisher bewiesen. Doch ich komme leider etwas vom Thema ab, denn ich erzähle besser der Reihe nach. Ach ja, ich schwebte also in London ein, und den ersten Kontakt hatte ich mit dem Emigration-Officer. Langhaarig, gelockt, doch mit Anzug und der obligatorischen Krawatte angetan, fragte er mich, nach dem Warum, dem Weshalb und dem Wohin. Ich beantwortete seine Fragen, und als er CHARISMA hörte, unterhielten wir uns noch eine Weile über die verschiedenen Gruppen, auch auf die Gefahr hin, dass sich hinter mir die Leute knubbelten.

…TRIFFT ER ALTE BEKANNTE

Eigentlich sollte ich abgeholt werden, doch nirgends erblickte ich jemand, den man mit einer progressiven Plattenfirma hätte in Verbindung bringen können. Ich hatte eben die Rolltreppe zum Busbahnhof betreten, als mich jemand am Ärmel zurückhielt. Es war Colin Richardson, seines Zeichens Label-Manager und ein guter Bekannter von mir. Denn wir kannten uns noch aus der Zeit als er COLOSSEUM managte (Gott hab‘ sie selig). An die 50 Leute sollten aus den verschiedensten europäischen Städten ein trudeln, um sich informationsmässig auf den neuesten Stand zu bringen. Was macht man, wenn man noch Zeit hat, in einer grossen Halle steht und sprachliches Babylon um sich herum, na was? Ich für meinen Teil wechselte erst einmal Geld, damit ich auch finanziell integriert war. In der Zwischenzeit waren noch drei andere aus München, Hamburg und Köln eingetroffen und vorläufig stand einer Abfahrt zum Hotel nichts mehr im Wege. Wenn man selbst Auto fährt, ist es schon irre, wie in England dieses Linksproblem gehandhabt wird. Obwohl ich schon mehrmals in England war, fasziniert mich diese Sache immer wieder aufs Neue. In meinem Hotelzimmer machte ich es mir erst mal gemütlich.

EIN KONZERT IN EINEM ÜBERFÜLLTEN PLUSCH-THEATER

Nach zwei Stunden wurde wie üblich zu einem kleinen Umtrunk gebeten, der bei mir auch klein blieb, weil ich etwas gegen Alkohol habe. Gegen 19.00 h wurde eine lustige Gesellschaft von ungefähr 50 Leuten ins Colisseum-Theatre in der St. Martins Lane gefahren, damit sie sich die Endstation einer 20 Tage Tournee der Grupppen LINDISFARNE und GENESIS ansehen konnten. Ich war sehr gespannt, haben mich doch die bisherigen LPs von LINDISFARNE mit ihrem fröhlichen, unkomplizierten Sound und die von GENESIS, welche auf einer ganz anderen Ebene musizieren, sehr interessiert. Das Coliseum Theater, ein liebenswerter Plüschbau, der Anfang des 19. Jahrhunderts erbaut wurde, war gerammelt voll. Es fehlte nur die Queen in der eigenen Loge und alles wäre perfekt gewesen. Na, es tat der guten Stimmung keinen Abbruch, dass sie samt ihrer Familie nicht erschienen war. Hatte man ihr keine Karten geschickt? GENESIS begann pünktlich Ihren Set und ich konnte feststellen, dass die Gruppe mehr zu überbrücken hatte, als nur den Orchestergraben von 7 m Breite. Obwohl Peter Gabriel, der schillernde Sänger der 5 Mann Gruppe, zu jedem Stück einleitende Worte fand, gelang es der Band nur vereinzelt, eine relaxte Stimmung zu schaffen. Nun, sie sind nicht die Unterhalter im klassischen Sinne, obwohl sie auch nicht oder gerade darum auf eine Show verzichten können. Ich glaube, dass GENESIS demjenigen, der sich eine ihrer Scheiben anhört, mehr gibt, als wenn er sich die Gruppe live ansieht.

Auf der Platte kann man trotz konkreter Texte seiner Fantasie freien Lauf lassen. Ein Umstand, der es mir immer angetan hat, ob es sich nun um Trespass‘, ‚Nursery Cryme’s‘ oder die letzte ‚Foxtrott‘ gehandelt hat. Auf der Bühne zieht die Gruppe eine scharfe Trennungslinie zwischen sich und dem Zuschauer. Eine Kommunikation, die gerade bei GENESIS so wichtig wäre, kommt nicht zustande. Es war schon eine etwas merkwürdige Atmosphäre, die die Gruppe im gefüllten Coliseum-Theater verbreitete. Ich würde sie eher kalt als warm bezeichnen, eher reserviert als aufgeschlossen. Nachher wurden Stimmen laut, die sich darauf beriefen, dass GENESIS und LINDISFARNE eine denkbar schlechte Zusammenstellung sei. Doch ich meine, dass gerade musikalisch so unterschiedliche Gruppen die Aufnahmebereitschaft des Publikums auf eine kreative Basis stellen.

EIN PLUSCHTHEATER GERÄT AUS DEN FUGEN

ROB NOAKES, ein Alleinunterhalter besonderer Prägung, überbrückte mit viel schottischer Volksmusik die Umbaupause und war so der ideale Wegbereiter für LINDISFARNE. Die Gruppe hat ihn entdeckt, stammen sie doch aus der gleichen Gegend, genau genommen aus Newcastle, Nordengland. In der Zwischenzeit erschien seine erste Lp und sie trägt den Titel ‚Do You See The Light‘. RAY JACKSON, genannt Jacka, schaffte es mit einem einzigen Satz, die Zuhörer in den Bann zu ziehen. Er grüsste die nicht vorhandene königliche Familie und stellte somit von Anfang an die richtige Atmosphäre her. Nach über zwei Jahren hat es LINDISFARNE geschafft durchzubrechen und das mit einer Musik, die in Deutschland noch nicht bekannt oder nur teilweise verstanden wird. In London fiel jedoch das musikalische Obst auf fruchtbaren Boden. Von wegen die Engländer, insbesondere die Londoner seien musikalisch überfüttert. Keine Spur davon im überfüllten Coliseum. Es gab ’standing ovations‘ und fast jeder Song wurde von der vielköpfigen Menge lautstark mitgesungen. Es war wie ein Fieber, was da um sich griff. Neben mir sass jemand, der anfangs nur mit dem dicken Zeh wippte, aber so nach und nach aufstand und sich einfach fahren liess. Selten habe ich eine Gruppe so gelöst ihren Bühnenauftritt hinter sich bringen sehen. Und Spass hat es ihnen gemacht! Als dann Jacka ein nicht enden wollendes Mundharmonika-Solo vom Stapel liess, es war ein Medley vieler englischer Volksweisen, geriet der Bau vollends aus den Fugen. War GENESIS noch auf der Platte stärker, so konnte LINDISFARNE für sich in Anspruch nehmen, den besseren Live-Auftritt vorgewiesen zu haben.

ABGESCHLAFFTE JOURNALISTEN IM MARQUEE-CLUB

Am nächsten Abend fanden im Marquee-Club in der Wardour-Street die nächsten Konzerte statt, eigens für die Journalisten aus 7 Ländern arrangiert. SPREADEAGLE machte gegen 20.00 h den Anfang, obwohl die ersten Titel eine schlechte Mischung aus Country- und Rockelementen waren, die sich zum Teil nie endend wollend wiederholten, gelang es doch der Band, sich immer mehr zu steigern. Doch den Anwesenden war das nicht genug, hatten sich doch viele von diesem Auftritt mehr versprochen. Auch hier ist die erste LP schon auf dem Markt, sie heisst ‚The Piece Of Paper‘. Überraschend war STRING DRIVEN THING, eine 4-Mann-Gruppe, die alleine schon durch ihre Besetzung Aufmerksamkeit für sich beanspruchte. In der Gruppe sind vertreten: Gitarre, Violine, Bongos und ein satter Bass. Zu Anfang fiel immer wieder der Verstärker aus, so dass der 40-jährige Violinist in lange weisse Gewänder gehüllt, fast um den Verstand kam. Ihr 45 minütiger Auftritt war pure Elektrizität für sie und das anwesende Publikum. Ihre Musik kann man schwerlich beschreiben, doch ein Hauch von Dylan, Roy Harper und von Jaime Brocke kann man heraushören. Auch von ihnen ist in England eine Platte gleichen Titels erschienen. CAPABILITY BROWN bildete den Abschluss, und es war ein guter und gekonnter dazu. Auch wenn sich die Gruppe an einigen bekannten Songs, so zum Beispiel ‚Beautiful Scarlet‘ von RARE BIRD vergriffen hat, tat das doch ihrer musikalischen Aussage keinen Abbruch. Ihre Chorstimmen sind exakt aufeinander getrimmt, ob es sich nun um reine Akustiknummern oder um treibenden, stampfenden Rock handelt, immer vollbringt die Band Höchstleistungen. Sie finden sich in allen Sparten zurecht und tote Punkte in ihrer Musik muss man mit der Lupe suchen. Es war klar, dass so viel Feeling mit reichlich Applaus belohnt wurde. Ich glaube, dass CAPABILITY BROWN, wenn sie erst einmal in Deutschland gewesen sind, sich um Anhänger nicht bangen brauchen. Wenn ich ein Fazit dieser zwei Tage ziehen soll, so muss ich sagen, dass man in England, speziell in London, Popmusik nicht als Revolution betrachtet, sondern als einen Faktor, des Spass bringen soll. Eine vernünftige Einstellung, so scheint mit denn tierisch ernst kann man immer sein. Als ich auf dem Heimflug darüber nachdachte, musste ich schmunzeln.