London Falling
Die Zeiten, als The Clashs LONDON CAL-LING von der Pop-Welt noch als sofortige Aufforderung zum Gang ins Plattengeschäft verstanden wurde, sind vorbei. England hypt nach wie vor seine Pop-Stars hoch, nur will sie außerhalb der Insel keiner mehr haben. Die Talent-Kanone der einstigen Trend-Metropole hat Ladehemmung.
Die Bibel für den trendgerechten Musikkenner hatte jahrelang zwei Namen: „Melody Maker“ und ,.New Musical Express“ — was vom Cover dieser beiden britischen Magazine grinste, wurde auch im restlichen Europa zum Hit. Ungehört, automatisch. Aber das ist lange her. Spiritualized, The Rockingbirds, Manie Street Preachers, Denim, The Beautiful South, Moonshake, The Family Cat, Cud, Curve und Boo Radleys — wer kennt hierzulande diese Bands? Immerhin wurden deren LPs vom „NME“ zu den wichtigsten Alben des vergangenen Jahres ausgerufen.
Als die Auflagen der britischen Rock- und Poptrendpostillen Mitte der 80er Jahre einen furchterregenden und konkursreichen Zusammenbruch (Höhepunkt: das Sterben von „Sounds“) erlebten, erklärte man sich zunächst das mit dem Fehlen eines nennenswerten „Kultes“. „Youth eults“ entstehen dann, wenn eine auffällige Anzahl von Künstlern „plötzlich“ mit einem ähnlichen Set von frischen Ideen und Meinungen ans Werk gehen, die übers bloße Musizieren und die eigentliche Show hinausgehen. Und wo kein Kult ist, sind auch keine Leser. Vor allem in England, der Heimat aller trendfixierten Plattenkäufer, die zwanghaft immer über das neuste Phänomen Bescheid wissen müssen. Denn hier war Pop- und Rock-Musik von Anfang an mehr als bloß unterhaltsame Weltenflucht.
Das galt schon zu Zeiten der Beatles, kurz vor der ersten „British Invasion“ also. Anfang der 60er war man endlich die Rationsmarken und sonstigen Kriegs-Nachwehen losgeworden und wollte zeigen, was mit ein bißchen Moneten und Selbstbewußtsein alles möglich war. Die Amerikaner erfanden gerade den Rock ’n‘ Roll, doch London wurde zur wahren Trend-Hauptstadt der Welt: Beat-Boom, Progressive- und Jazz-Rock, T. Rex und Glam Rock, Punk und auch noch der Synthie- und Video-Pop vom Anfang der 80er füllten problemlos die Seiten und Kassen der Poppresse. In England wurden die Trends gemacht, und der Rest der Pop-Welt hing an den Lippen der britischen Kult-Medien. Über so abgehobene Unterfangen wie das erste King Crimson-Album. Emerson Lake & Palmers Debüt, Yes, Genesis‘ Frühwerke, Colosseum, Taste, Family und eine Vielzahl längst vergessener Halbgrößen wurde in Deutschland mit verklärten Augen schon dann rege diskutiert, wenn man das Werk erst einmal im Südwestfunk 3 gehört hatte.
Die Sex Pistols waren Jahre später nochmal solch eine potente Bombe: Bevor ihr erster Tonträger über einen deutschen Ladentisch ging, hatte das ganze Land schon soviel darüber gelesen, daß der Punk zwischen Kiel und Garmisch sofort explodieren konnte. „Excitement“ lag in der Luft, sprudelte aus der Londoner Trinkwasserversorgung und ¿
klebte ganz dicke zwischen den Zeilen von NME, „Sounds“ und „Melody Maker“. Die Sprache war auch den neidzerfressenen Lesern in München, Zürich, New York und Paris verständlich. Bis eben diese Leser Mitte der 80er die britische Trend-Sprache verlernten — oder einfach schnöde ignorierten.
Zwar sind seither in Britannien nicht weniger „Kulte“ als früher entstanden. Doch sie ließen sich nicht mehr übersetzen, wurden im Rest der Welt nicht mehr verstanden. „Madchester“ zum Beispiel, mit den Happy Mondays, Stone Roses und unzähligen Nachahmern: In England hier echte Mega-Seller, lockte dieser „Kult“ im Ausland nur noch den devotesten Anglo-Fan in den Plartenladen. Denn nur in England hatte vor dem Rave-Trend eine so konsequente Stiltrennung geherrscht, daß es bis dahin keinem Fan von avantgardistischen Schrummelgitarren eingefallen wäre, ein Tanzbein zu schwingen. Als die Happy Roses diese „artfremden“ Dinge zusammenbrachten, löste dieser Schritt logischerweise auch nur auf der Regeninsel die große Revolution aus. Aber die insularen Plattenfirmen stellten sich stur, glaubten nach wie vor an die gleißende Strahlkraft der UK-Kulte. Die Folge: Sie sitzen jetzt auf Lagerhäusern voller Manchester-LPs, die nicht mal mehr der Second Hand-Shop will. Erst zwei Jahre später reagierten die Companies mit voller Härte, strichen fast alle Manchester-Bands aus dem Repertoire und sind inzwischen beim Einkaufen von jungen Gitarrenbands erheblich vorsichtiger geworden.
Noch ein Beispiel: The Smiths. Sie machten schlaue Songtexte wieder chic, kombinierten scheinbar linkische Lieder mit mächtiger Energie und einem subtilen Anti-Macho-Image. Doch den von ihnen beeinflußten Folgegenerationen — von Wedding Present bis Ned’s Atomic Dustbin — fehlte eben dieses kleine Quentchen Charme, das die Smiths international verständlich gemacht hatte. Die Epigonen waren dagegen textlich wie musikalisch derart stockbritisch, daß sich ein Publikum, das nicht von Kindesbeinen an von Nebel und Pfefferminzsoße genährt worden war, gelangweilt abwendete.
Noch größere Langweiler-Bands waren die „Shoegazers“: Diskrete Bands wie Lush, Chapterhouse, Slowdive, Ride u.a. koppelten Gitarren-Feedback mit verträumter, dünner Pop-Mystik just in dem Moment, wo im Rest der Welt handfester Rock wieder salonfähig wurde. Die Quittung dafür: Die blutleere Mondschau der „Shoegazers“ ergötzt nach wie vor blutleere britische Trend-Kids, ihre Altersgenossen auf dem Kontinent übersetzen dagegen „Lush“ mit „Lasch“. Suede, ein sexprotzender T-Rex-Clone ohne Unterleib, mag aufs Cover des „Melody Maker“ kommen und als „Beste neue Band in Großbritannien“ tituliert werden, bevor sie noch die erste Single herausgebracht haben; sie mögen ein Jahr später drei Top-20-Hits und das erfolgreichste Debut-Album seit Frankie Goes To Hollywood vorweisen können — aber fiebert außerhalb Englands irgend jemand ihrer nächsten Single entgegen, wie man’s europaweit ehedem bei den geistesverwandten aber epochefremden Roxy Music tat?
Kurzum: Die Beweislage dafür, daß die einstge Trendmetropole London derzeit Gefahr läuft, ins Abseits zu rutschen, ist wasserdicht, denn sie läßt sich auch mit Zahlen belegen. Zwischen 1989 und 1992 sank der Anteil britischer Künstler in den kontinentaleuropäischen Charts um zehn Prozent Exakte Verkaufszahlen sind schwer aufzutreiben — aber es sackte zum Beispiel in Skandinavien der britische Umsatz-Anteil von 38 Prozent im Jahre 1980 auf knappe 19 Prozent elf Jahre später ab. In den USA tauchten in den Jahres-Top-100 über die ganzen 80er Jahre hinweg immer zwischen 20 und 30 britische LPs auf (und die sind fürs finanzielle Wohl der Industrie wichtiger als jede Hit-Single). Jetzt pendelt die Zahl um die lOer-Marke (1991 waren es gerade mal acht englische LPs). Mit wenigen Ausnahmen (EMF, Jesus Jones, Right Said Fred und KWS) handelt es sich bei den weltweit erfolgreichen UK-Stars um Leute wie George Michael, Elton John, U2, Def Leppard oder The Cure — Künstler also, deren Namen in längst vergangenen Zeiten über die Titel-Seiten von NME und MM in die Pop-Welt hinaus getragen worden waren.
„Für britische Musik herrscht derzeit Ebbe“, konstatiert seit 1991 denn auch die Geschäftsleitung der Sony-UK. Die Firma hatte lang von Stars wie Sade, George Michael und The Clash gelebt und geriet in ein übles Loch, als sich neue Künstler nicht mehr außerhalb Britanniens etablieren ließen. Für eine deutsche Firma wäre dies kein Grund zur Panik. Umsatz-Granaten wie Grönemeyer, Westernhagen oder Die Toten Hosen fahren im eigenen Lande so glänzend Gewinne ein, daß eine Auslands-Karriere — zumindest wirtschaftlich gesehen — nicht nötig ist. Anders in England: Ein britischer ¿
Act rechnet sich rar eine britische Firma erst dann, wenn man im Ausland fünf Mal so viele Platten verkauft wie auf dem heimischen Markt. Diese Kalkulations-Basis, zu Zeiten der britischen Pop-Weltherrschaft vernünftig, zieht immer mehr britische Firmen in die roten Zahlen.
Sony versucht nun, dieser Entwicklung einen alten Industrie-Trick entgegen zu setzen: Die Japaner kauften sich in die führenden Independent-Labels Creation (Primal Scream, Teenage Fan Club), Nude (Suede) und One Little Indian (Sugarcubes, The Shamen) ein, um Anschluß an den Neuklang zu finden. Damit steht Sony ziemlich allein, denn der Rest der britischen Platten-Multis schließt nach wie vor die Augen vor der englischen Talent-Lücke und schiebt die Absatz-Krise auf die weltweite Rezession. Schließlich haben sie wie eh und je doch internationale Hits. Dabei wird schnöde ignoriert, daß diese Hits von längst etablierten Stars wie Genesis oder George Michael stammen, Moment-Hits für den notorisch kurzlebigen Teenie-Markt sind, oder Mini-Hits auf dem nicht weniger schnelllebigen Dance-Markt. Wen man auch spricht in den heiligen Hallen der Londoner Plattenfirmen, immer kommt die stereotype Antwort:
„Absatzkrise? Ach, du meinst wohl diese schrägen, abseitigen Bands?“ Dabei vergessen sie, daß es einst eben diese schrägen und abseitigen Bands waren, von denen die Firmen heute leben. Und daß es auch schräge und abseitige Bands sind, die in diesen Tagen unter dem „Grunge“-Zeichen zu weltweit erfolgreichen Millionen-Seilern wurden. Der Grunge-Boom ging unter anderem von dem winzigen Sub Pop-Label in Seattle aus. Nirvana, Mudhoney und Soundgarden fanden alle hier ihr erstes Heim — bezeichnenderweise eben nicht bei einer britischen Firma. Thomas Zimmermann, der seit Jahren in Deutschland Konzerte organisiert, führt jetzt die germanische Sub Pop-Vertretung. „In meinem Bereich sind englische Bands nicht mehr gefragt“, sagt er. .Seit härtere Musik mit der allen Rock-Attitüde wieder salonfähig geworden ist, mag man die Briten nicht mehr. Die erinnern einen zu sehr an Memmem. Man will wieder Bands, zu denen man hinaufschauen kann, die all das tun, was man sich selber nicht traut.“
Genau hier hegt der Unterschied: Die Briten mögen es, wenn eine Band so aussieht, als könne man sie auch auf dem lokalen Bolzplatz treffen.
London hat zwar als „Weltbühne“ noch einen gewissen Wen, aber viele US-Bands etwa beschränken sich nur noch auf einen einzigen London-Gig. Zimmermann: „Wegen des schlimmen Wechselkurses und der Rezession zahlt man bei einer GB-Tour nur noch drauf.“
Sein Beispiel: The Walkabouts — der Profit einer dreimonatigen Euro-Tour wird von einem lOtägigen Abstecher nach England glatt aufgefressen. Deswegen gehen viele Top-Acts nun direkt auf den Kontinent. Sogar Simple Minds, Michael Jackson, Madonna und Prince lassen ihre Tourneen nicht mehr in London, sondern in Deutschland koordinieren. Dadurch verliert London und damit auch die hier ansässige Presse den Anspruch auf einen Gesamtüberblick.
„Die Presse hat ihre Glaubwürdigkeit verloren“, klagt Martin Goldschmidt, Direktor des Dance-Labels Cooking Vinyl. „In ihrer verzweifelten Suche nach dem neuesten Big Thing, mit dem sie das jeweils andere Blatt ausstechen wollen (obwohl NME und MM unterdessen zum gleichen Verlag, JPC Magazines“, gehören), haben sie in den letzten Jahren derart viel Ramsch in den Himmel gepriesen, daß auch das Publikum in England nicht mehr mitmachte. Keiner kann denen mehr glauben.“ Für Jon Webster, bis vor kurzem Direktor bei Virgin Records, spiegelt sich das auch in den Verkaufszahlen wider: „Vor 15 Jahren konnte eine gute Kritik im NME gleich ein paar tausend Singles verkaufen, und darauf konnte man dann aufbauen. Heute merkt man ein gutes NME-Reviewden Verkaufsziffern kaum mehr an. „Webster spricht einen anderen wichtigen Grund für die Verschiebungen an: „In der Musikszene haben sich die individuellen Identitäten der einzelnen europäischen Staaten enorm verstärkt. Viele Länder, die vor 15 Jahren nur importierte Platten aus England oder Amerika verkauften, haben heute aktive eigene Szenen. Auch das geht auf Kosten der britischen Künstler.“ Auch Kollege Goldschmidt bäckt kleinere Brötchen: „In Deutschland werten wir es heute als sehr positiv, wenn eine LP auf halb so hohe Verkaußziffern kommt wie eine Erfolgsplatte vor drei, vier Jahren.“
Wenn Thomas Zimmermann klagt, daß England unter den „Indie-Rock-Fans heute so abgesagt ist, daß eine Band dreimal so gut sein muß, um noch angehört zu werden“, liegt darin aber auch eine Chance verborgen. Denn dem britischen Alltag ist Pop/Rock-Musik viel zu wichtig, als daß man angesichts ein paar Nirvanas einfach so klein beigeben würde. So deklamiert auch Jon Webster im Brustton der Überzeugung: „Das Auf und Ab ist doch ganz normal. Das war schon immer so. Die nächste britische Invasion kommt bestimmt!“