Linus Volkmanns „Blind Date“-Treffen mit Jürgen Trittin: „Man nannte mich DJ Dosenpfand“


Eine Liebeserklärung an eines der schillerndsten und actionreichsten Formate im Musikjournalismus: Das „Blind Date“. Unser Kolumnist Linus Volkmann hat Jürgen Trittin (und noch so einige andere) mit Songs überrascht.

Love You, „Blind Date“

Bevor ich hier nun meine Glückwunschkiste ausleere, möchte ich mich kurz vergewissern, ob auch alle wissen, was ich mit „Blind Date“ überhaupt meine.

Also … selbst wenn ihr mit dem Begriff in einem Zusammenhang abseits von Parship und Co. nichts anfangen könnt, kennt ihr das Format garantiert: Einem Künstler oder einer Künstlerin wird Musik von anderen Acts vorgespielt – und der:die Interviewer:in notiert dann die Reaktionen darauf. So simpel aber eben auch so effektiv. So speziell aber dennoch so weit verbreitet in der Musikmagazinwelt.

Selbst als ich noch durch die Untiefen von Schülerzeitungen und handkopierten Fanzines schnorchelte, war mir das Prinzip „Blind Date“ bereits ein Begriff. Er versprach neben buntem Häppchenjournalismus immer auch eine gewisse Brisanz. Schließlich urteilt jemand über die Kunst eines anderen. Da kann es schnell auch mal persönlich werden. Dieser proto-Beef-Aspekt zog mich vermutlich besonders an. Das musste ich auch mal versuchen!

Und so erinnere ich mich, wie ich einer lokalen Hate-Core-Band dann selbst Songs vorspielte (für mein eigenes Heftchen mit Namen „Die Spielhölle“). Stichwort: Selbstermächtigung. Stichwort: Wie schwer soll es schon sein?

Die Antwort damals: Ziemlich schwer. Backstage im autonomen Jugendzentrum bemühte ich mich eher schlecht als recht um die ungeteilte Aufmerksamkeit einer lokalen Band für dieses Unterfangen (möglicherweise waren es Narsaak oder Dead Beat?).

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Doch ich hatte vieles nicht bedacht: Beispielsweise wollte meine Songliste so angestrengt originell sein – es ging von polnischem Schlager bis zu 5-Sekunden Songs von Grindcore-Acts Anal Cunt – dementsprechend erkannte die Band aber natürlich nichts davon und goss mir daraufhin nicht minder zwangsoriginelle Quatsch-Kaskaden ins Diktiergerät. Zu allem Überfluss musste ich ja den ganzen Abend lang ein unförmiges Kofferradio mit mir herumschleppen, das ich zum Vorspielen benötigt hatte. Das war nicht nur beim Pogo reichlich hinderlich. Fazit am nächsten Tag beim Abhören des Interviews: Unrettbarer Reinfall.

Ich konstatierte, „Blind Dates“ mit Bands seien wohl doch eher etwas für Profis (Henri Nannen Journalistenschule aufwärts) – ich selbst versuchte mich erstmal nicht mehr daran.

In meiner Zeit als Redakteur beim Magazin „Intro“ kam ich nur noch einmal damit in Berührung. In der Rubrik „Platten vor Gericht“ (wer sich noch erinnern kann, fliege hoch) bekamen Künstler:innen ebenfalls Musik vorgespielt. Das besorgte zu jener Zeit ein Praktikant, doch als dieser einmal kurzfristig ausfiel, musste ich zu The Offspring schlurfen. Erneut mit einem eher unförmigen Gerät – diesmal ein tragbarer CD-Player mit trashigen kleinen Boxen. The Offspring residierten im extrem teuren Hyatt Regency zu Köln am Fuß des Rheins. Die Plattenfirma erhoffte sich in dieser Phase (wie eigentlich in jeder Phase der Band) eine neue Platte, die an das Debüt SMASH anknüpfen konnte. Immerhin gilt SMASH bis heute als das bestverkaufteste Indie-Album überhaupt.

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Die latente Enttäuschung, dass so ein Überhit nie mehr passieren würde, begleitete die Band auch bei der Promoreise, die ich bezeugte, und sie wirkten sediert wie alt gewordene Hunde, die man Huckepack zum Gassi gehen tragen muss, wenn es nur ein wenig nieselt. Auch sie kannten das Prinzip „Blind Date“, was bei ihnen allerdings auch keine Lebensgeister entzünden mochte. Ich erinnere mich noch, dass ich ihnen die Hamburger Diskurspop-Band Ostzonensuppenwürfelmachen vorspielte und mich Gitarrist „Noodles“ ansah, als hätte ich ihn gefragt, ob er mir mal 50 Euro leihen könnte.

Seltsam, als Musikmagazin-Leser freute ich mich stets über „Blind Dates“, als Autor schienen sie mich indes abzustoßen. Das sollte ich sich erst ändern, als ich vor einigen Jahren begann, regelmäßig der Musikexpress-Redaktion zuzuarbeiten. In mein Betätigungsfeld fällt nämlich unter anderem genau jene Rubrik. Monatlich ein „Blind Date“ befüllen? Starke Herausforderung (beziehungsweise „um Himmels Willen, daran werde ich garantiert zerbrechen!“).

Doch mittlerweile spiele ich auf dieser besonderen Kolumne wie andere auf sehr teuren Geigen. Zuletzt tat sich dabei ein besonders außergewöhnlicher Gast von jenseits des Popbetriebs auf. Ich spielte Jürgen Trittin, dem ehemaligen Umweltminister, der selbst immer mal als DJ aufgeblitzt ist, Songs vor. Diese Kolumne hier nun möchte ich nutzen, um eine exklusive Online-Version des „Blind Dates“ mit Jürgen Trittin aufzubieten. Anlass für dieses musikalische Interview war, dass der Grünen-Politiker dieses Jahr 70 Jahre alt wird und sein Bundestagsmandat niedergelegt hat. Ende einer Ära.

Unter uns: Ich hätte dieses „Blind Date“ auch für einen weit geringeren Anlass aufgestellt: „Wie bitte? Sie haben den dritten Platz beim Boccia-Turnier in ihrem Wahlkreis gemacht? Darf ich Ihnen ein paar Songs vorspielen, Herr Trittin?“

Blind Date mit Jürgen Trittin (Kolumnen-Edition)

Franz Ferdinand „Darts Of Pleasure”

Das ist Franz Ferdinand. Auch schon wieder zwanzig Jahre alt! Das weiß ich so genau, weil ich damals auf meinem 50. Geburtstag vermeiden wollte, dass Reden gehalten werden. Daher legte ich Franz Ferdinand auf und die Tanzerei begann. Ich hatte mich allerdings für den Song „Take Me Out“ entschieden, aber es war dieselbe Platte.

Sie traten nicht nur einmal als DJ in Erscheinung. Für einen Politiker doch eher ungewöhnlich?

Das ergab sich daraus, dass Radio Eins in der Kalkscheune öfter mal Leute auflegen ließ – unter anderen auch mich. Und der Mix, den ich damals, das muss so 2004 gewesen sein, zusammengestellt hatte, war nicht ganz fern der Hörerschaft des Senders. Die Tanzfläche war zumindest voll. Zu jener Zeit drehte sich außerdem viel darum, einen Anreiz zu schaffen, dass Einwegbehältnisse nicht einfach in die Landschaft geschmissen werden. Es ging um das Thema Dosenpfand – ich wurde dafür über 200-mal verklagt und war aber auch zu Veranstaltungen viel in Deutschland unterwegs. Während des Wahlkampfs haben wir gelegentlich Musikabende dazu gestrickt. Man nannte mich DJ Dosenpfand.

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Team Scheisse „Rein ins Loch“

Die Band kenne ich nicht, aber das Lied habe ich doch schon mal gehört… Wie heißen die?

Das sind Team Scheisse mit einer Dosenpfand-Hymne, die Band stammt wie sie aus Bremen.

Diese Art Sound scheint mir dabei nicht neu. Wenn ich das jetzt höre, kommt mir ein Konzert in Erinnerung in dem alternativen Jugendzentrum in der Kornstraße in Hannover. Vielleicht waren es Slime, die da spielten und sich auf der Bühne erstmal mit Slogans wie „Scheiß Hannover“ Respekt verschafften. In der Zeit habe ich in Göttingen studiert und für mich war das die erste Begegnung mit dieser Dosenbierkultur. Die Punks, die da unterwegs waren, schworen nämlich alle auf Hansa Pils, ein Billigbier vom Discounter. Hier in Berlin wird ja „Sterni“ bevorzugt. Das kommt übrigens in Pfandflaschen.

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Die Gerd-Show „Steuersong“

Das sollte wie Gerhard Schröder klingen? Na, dafür ist es zu hoch gesungen gewesen. [Imitiert kehlig einen anderen Schröder-Gag-Song:] „Hol‘ mir mal ‚ne Flasche Bier, sonst streik‘ ich hier!“ Dieses Stück jedenfalls kenne ich nicht. Aber in dem Text werden ohnehin nur Dinge reproduziert, die so nicht stimmen. Es ist nicht der Fall, dass man machen kann, was man will, wenn man an der Regierung ist. Jedes Gesetz muss durchgebracht werden und Mehrheiten finden – und das ist auch gut so. Über die Mühen der Konsensbildung oder der Organisation von Mehrheiten geht diese Blödelei einfach drüber weg. Das ist ein Stück schlechter Fernsehunterhaltung, die Politikverdrossenheit und Populismus vorweggenommen hat.

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Ton Steine Scherben „Rauch-Haus-Song“

Wenn eine Band für sich in Anspruch nehmen kann, Deutschrock begründet zu haben, ist das für mich Ton Steine Scherben. Auch wenn sie nicht die einzige waren, es gab zum Beispiel Floh De Cologne. In den Fußstapfen von Ton Steine Scherben haben jedenfalls viele versucht zu laufen, nicht allen ist es geglückt. Wobei ich sagen muss, wie intensiv Herbert Grönemeyer bei der Trauerfeier für Rio Reiser „Übers Meer“ gesungen hat, das hat mich tief beeindruckt.

Das Thema des Songs ist auch mit Ihnen verknüpft.

Ja, der Song handelt von einer verbreiteten Praxis der 70er und frühen 80er Jahre, Hausbesetzungen. In Göttingen bei uns fehlten damals zigtausende Wohnungen und parallel standen zwei riesige Gebäude leer, eines davon eine ehemalige Augenklinik. Ich war damals im AStA und habe die Besetzung mitorganisiert. Das wurde ein richtiges Sozialexperiment, bis zu 800 Leute wohnten ein halbes Jahr dort, komplett selbstverwaltet. Auch wenn längst nicht jede Besetzung im Nachgang eine Legalisierung erhielt, hat gerade die Stadt Göttingen durch solche Regelbrüche und den anschließenden Kompromiss und die Legalisierung sehr gewonnen. Denn damit ist wertvolle Altbausubstanz und damit städtischer Charakter erhalten geblieben. Aus revolutionärem Geist geborene Regelverletzung kann also am Ende auch ein wertkonservatives Ergebnis zur Folge haben.

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Jens Friebe was vorspielen? Man kann’s ja mal versuchen!

Meine „Blind Date“-Gästeliste (Auswahl)

Könnt ihr noch? Dann hier eine kleine Liste mit interessanten Momenten aus meiner persönlichen „Blind Date“-Historie. Die Nummerierung soll keine Hierarchisierung darstellen. Ich finde es mit Zahlen einfach bloß ordentlicher.

01 „Ich versteh die Musik, den Lifestyle und ich schätze vor allem auch seine Selbstironie, die für das Genre wirklich nicht üblich ist.“
(Sophie Passmann über Bruce Springsteen)

02 „Periode ist etwas, mit dem ich mich gern auf der Bühne beschäftige. Es schockt die Leute zuerst, dann ekelt es sie – und dann setze ich gern noch einen drauf: Wenn ich zu dem Geräusch komme, das die Menstruationstasse macht, wenn sich beim Rausziehen der Unterdruck löst…“
(Carolin Kebekus über den Song „Es könnte gerade nicht schöner sein“ von Blond)

03 „Jeder Song, jede Geste hat mich voll erwischt, als ich aufgewachsen bin – und am Ende stand die Erkenntnis: Ich könnte doch auch Gitarre spielen UND dabei ein schönes Kleid anhaben! Das Songwriting von Hole wird gemeinhin viel zu sehr unterschätzt.“
(Laura-Mary Carter (Blood Red Shoes) über die Band Hole)

04 „Dagobert halte ich für den am meisten unterbewerteten Sänger im deutschsprachigen Raum. Das ist doch so schön, so melancholisch, so emotional – warum das nicht wirklich jeden anspricht, ist mir ein Rätsel.“
(Mille Petrozza (Kreator) über das Stück „Wir leben aneinander vorbei“ von Dagobert)

05 „Damit habe ich vermutlich meine ehemalige WG und jetzt meinen Partner an den Rand des Wahnsinns gebracht, weil ich jemand bin, die gern auf Repeat hört. Also bei mir läuft immer wieder ein und dasselbe Lied.“
(Ricarda Lang (Bundesvorsitzende der Grünen) über Taylor Swift)

Saskia Lavaux kennt sich gut aus. Schwöre!

06 „Allerdings war für mich auch schon damals diese tuntige Raumschiffbesatzung verzichtbar gewesen.“
(Lutz van der Horst über den Bully-Herbig-Film „(T)Raumschiff Surprise“ und dessen Titelstück „Space Taxi“ von Stefan Raab)

07 „Das sind natürlich Europe. Schrottgrenze-Gitarrist Timo und ich gehen gern auf solche Konzerte. Wir waren dementsprechend sehr traurig, dass corona-bedingt die letzte Tour von Europe mit Whitesnake ausfallen musste. Wir haben aber die Hoffnung auf Ersatztermine noch nicht aufgegeben!“
(Sängerin Saskia Lavaux (Schrottgrenze) offenbart in ihrem „Blind Date Spezial“ über queere Musik ganz besondere Vorlieben – angestachelt durch den Song „Carrie“ von Europe)

08 „Eminem ist heute bloß noch öder Silbenzähler-Rap für so Leute, die, wenn das Splash-Festival sein Line-Up bekannt gibt, kommentieren: ‚Was ist mit Eminem?‘ Wer jemand in seinem Umfeld hat, von dem so ein Beitrag stammen könnte: Warnung, eine red flag!“
(Grim104 über Eminem)

09 „Für ‚Barbie‘ machen sich die Leute mottomäßig schick – das erinnert an Events wie die ‚Rocky Horror Picture Show‘. Ich habe gerade noch mit meiner Schwester telefoniert, mit der werde ich auf das Madonna-Konzert in Köln gehen und ihre erste Frage war gleich: ‚Und was ziehen wir an!?‘“
(Die Schauspielerin Jessica Schwarz über „I’m Just Ken“ von Ryan Gosling)

10 „Mit einer kleinen Tochter und je älter ich werde, ist es mir egal, ob mir nun ein Mann oder eine Frau singt: ‚Heute Abend wird gefickt! Und der Kitzler weht im Wind!‘ Oder halt ‚der Schwanz weht im Wind!‘ Das überfordert mich, aber im R’n’B wird die Fickdichte lyrisch immer dichter. Dem fühle ich mich körperlich einfach nicht mehr gewachsen. Kannst du das jetzt bitte so aufschreiben, dass es nicht zu falsch rüberkommt?“
(Olli Schulz über Cardi B feat. Megan the Stallion und deren Song „WAP“)

Gereon Klug? Eh vom Fach! Er vermisste nur Beatles und Stones in seiner Auswahl…