Lektionen in Demut: Was die Welt von einem geläuterten Liam Gallagher hat
Für sein erstes Soloalbum AS YOU WERE hat Liam Gallagher Fremdpersonal ziemlich typische Gallagher-Songs schreiben lassen. Oasis-Fans dürfte das freuen. Aber wie finden sie es, dass sich Liam nach einer sehr schwierigen Phase in seinem Leben plötzlich sogar bescheiden und reflektiert gibt?
Affären, Trennung und ein Neuanfang
Liam machte andere Schlagzeilen: Seine Ehe mit Nicole Appleton wurde geschieden, nachdem herausgekommen war, dass aus einer Affäre mit einer New Yorker Journalistin eine Tochter hervorgegangen war. Heute lebt er mit seiner ehemaligen Assistentin Debbie Gwyther zusammen, die ihn stets begleitet und auch in Berlin dabei ist.
„Mein Leben bestand nur noch aus Besäufnissen und Rechtsanwaltsterminen, aber zum Glück habe ich eine wunderbare, sehr starke Freundin, die mir in den Arsch getreten hat“, sagt er. „Keine Ahnung, ob ich sonst hier sitzen würde.“ Stimmt, er sitzt nun wieder, sein Marsch durch den Raum war nur ein kurzes Aufwallen. Für den Rest unseres Gesprächs wirkt er ziemlich reflektiert.
„Mein Leben bestand nur noch aus Besäufnissen und Rechtsanwaltsterminen“ – Liam Gallagher
Was vielleicht auch erklärt, weshalb er nach dem ganzen Drama eine vernünftige Entscheidung getroffen hat: Frei von Eitelkeiten hat er sich auf einen Vertrag mit Warner Music eingelassen, der vorsah, dass er sich von externen Songschreibern und Produzenten ein klassisches 60s-Rock’n’Roll-Album auf den Leib schneidern lässt.
Gallaghers Hauptkombattanten bei diesem Projekt, Greg Kurstin und Dan Grech-Marguerat, hatten zuvor für Lana Del Rey, Sia, Ellie Goulding und Lily Allen gearbeitet, aber AS YOU WERE ist trotz dieser Referenzen keine Zeitgeist-Platte.
Es ist Gallagher-Musik, nur eben zum Großteil nicht von einem Gallagher geschrieben: „Ich habe an den Texten mitgearbeitet und meine Phrasierungen und meinen Stil eingebracht“, sagt Liam. „Ich bin ein verdammt guter Sänger, aber ich kann keine großen Hymnen schreiben.“
Was hat die Welt von einem geläuterten Liam Gallagher?
Spätestens hier stellt sich eine Frage: Will man das überhaupt, einen geläuterten Liam Gallagher? Einen bescheidenen Musiker, der seine Fähigkeiten realistisch einschätzt? Von Popstars wird erwartet, dass sie bis ans Ende ihrer Tage ein Stellvertreterleben für die spießige Langweilerexistenz ihrer älter gewordenen Fans führen.
„Ich bin ein verdammt guter Sänger, aber ich kann keine großen Hymnen schreiben.“ – Liam Gallagher
Bei den ergebensten Oasis-Fans wird dieser ohnehin übertriebene Anspruch zusätzlich ins Lächerliche überdreht: Schon immer lebten viele dieser Leute vom Blick in den Rückspiegel, die Größe ihrer Lieblingsband ist nicht relativierbar und Veränderungen sind im Oasis-Universum allgemein nicht erwünscht.
Was Oasis-Fans allerdings mögen, und zwar sehr, das ist Liam Gallaghers altmodisches Verständnis von Loyalität, diese Mischung aus Working Class Hero und „Der Pate“.
Er kann es bis heute nicht ertragen, dass sein Bruder das tatsächlich getan hat: ihre Band zu verlassen. Liam sagt: „Meine Freundin und ich gehen mit guten Freunden aus der Nachbarschaft ins Pub um die Ecke, wir gehen nicht mit Bono oder diesen anderen Clowns in überteuerte Restaurants.“ Er meint: Warum hast du mich verraten?
Er kann es bis heute nicht ertragen, dass sein Bruder ihre Band verlassen hat.
Die Zeit, bis sein Bruder „endlich zur Besinnung kommt“, wie er es nennt, hat Liam Gallagher mit AS YOU WERE ordentlich genutzt. „Wenn wir zurückkommen, dann aus den richtigen Gründen und nicht des Geldes wegen: für die Musik, weil wir uns lieben und dieses Gefühl mit unseren Fans teilen möchten.“
Ob es wohl auch nur einen Oasis-Fan auf der ganzen Welt gibt, der sich eine Reunion dieser Band mehr wünscht als deren ehemaliger Sänger?
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Das Feature über Liam Gallagher erschien zuerst in der November-Ausgabe des Musikexpress.